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8. September 2021
Von der Osterweiterung zur zivilgesellschaftlichen Vernetzung. Das Goethe-Institut in Europa

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Im August 2001 war ich zum ersten Mal in Riga, zehn Jahre nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands. Auf meiner Studienreise durch das Baltikum—übrigens teilweise mit dem Fahrrad—hat mich damals in Riga besonders die Aufschichtung der wechselvollen Geschichte in der Architektur fasziniert: das bauliche Erbe der baltisch-deutschen Elite, Jugendstil und Bauhaus, die Hinterlassenschaften der Sowjetzeit, die sorgfältige Restaurierung von Baudenkmälern in jüngerer Zeit.

Heute, zwanzig Jahre später, darf ich wieder hier sein, um gemeinsam mit Ihnen das neue Gebäude des Goethe-Instituts zu eröffnen. Auch „Bergs Bazaar“, in dem das Institut liegt, ist ein herausragendes architektonisches Zeugnis der komplexen Geschichte Rigas. Es zeugt von der ersten Partizipation ethnischer Letten an städtischen Handelskreisen um 1900, vom Verfall nach der sowjetischen Enteignung, von der ehrgeizigen Instandsetzung historischer Gebäude nach der Unabhängigkeit.

Dieser Abend ist auch für mich persönlich von besonderer Bedeutung. Denn es ist meine erste „echte“ Reise an ein Goethe-Institut im Ausland seit meinem Amtsantritt als Präsidentin im November letzten Jahres. Bislang hat Corona das Reisen verhindert.

Ich freue mich daher sehr, Sie heute hier alle begrüßen zu dürfen!

Das Goethe-Institut feiert dieses Jahr sein siebzigjähriges Bestehen. Das war ein willkommener Anlass, mich mit der Institutsgeschichte zu beschäftigen und zu fragen, was wir daraus für die Zukunft unserer Arbeit, insbesondere im europäischen Kontext, lernen können. Ich möchte mit Ihnen gemeinsam in aller gebotenen Kürze drei Stationen der Geschichte der Arbeit des Goethe-Instituts in und mit Europa abschreiten—eine Geschichte, die auch die sich wandelnde Bedeutung von Europa für die deutsche Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik spiegelt.

Die erste Station: Europa als wichtigstes Aktionsfeld in den 1950er und 1960er Jahren

Das Goethe-Institut wurde 1951 als Nachfolger der Deutschen Akademie gegründet, einer Vereinigung aus der Weimarer Republik zur Erforschung und Verbreitung deutscher Kultur. Zu Goethes einhundertstem Todestag im Jahr 1932 richtete die Deutsche Akademie eine Goethe-Institut genannte Abteilung für den Sprachunterricht ein. Die Akademie arbeitete eng mit der staatlichen Außenpolitik zusammen, war aber ein unabhängiger Verein. Doch das nationalsozialistische Regime vereinnahmte dann die Akademie und ihre Kultur- und Spracharbeit, um seine gewalttätige Expansionspolitik ideologisch zu flankieren.

Davon wollte sich die westdeutsche Regierung nach dem Zweiten Weltkrieg distanzieren. Nach Innen föderalisierte sie die Kulturpolitik, legte sie also in die Verantwortung der Bundesländer; mit der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik beauftragte sie einen zivilgesellschaftlichen Verein, das wiedergegründete Goethe-Institut. Es sollte helfen, Deutschlands Ruf in der Welt wieder herzustellen.

Das Institut bildete zunächst ausländische Deutschlehrer im Inland fort. Aber schon bald wurde auch im Ausland Deutschunterricht erteilt. Das erste Auslandsinstitut öffnete 1952 in Athen seine Türen. Der regionale Schwerpunkt lag in den Anfangsjahren auf dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum, darunter vor allem Griechenland, aber auch Italien—westeuropäische Nachbarn, die im Zweiten Weltkrieg besonders unter dem Nationalsozialismus hatten leiden müssen.

Ende der 1950er Jahre kam zur Spracharbeit die Kulturarbeit dazu, und das Institutsnetzwerk erweiterte sich rasant, als das Auswärtigen Amt seine gut einhundert Kulturinstitute im Ausland nun dem Goethe-Institut unterstellte. Das Goethe-Institut brauchte einen verlässlichen Geldgeber; die Bundesregierung sah im Goethe-Institut einen geeigneten Bündnispartner in der Ost-West-Konkurrenz.

In gewisser Weise war die Expansion des Goethe-Instituts also ein Effekt des kalten Krieges. Die DDR hatte 1951 das Herder-Institut in Leipzig zur Ausbildung von Lehrkräften für Deutsch als Fremdsprache gegründet. Und sie hoffte, durch eine attraktive Kultur- und Bildungspolitik im Ausland internationale Anerkennung als souveräner Staat zu erlangen. Die BRD war dagegen zunächst zurückhaltend, förderte dann aber das Goethe-Institut im Bestreben, sich in der Welt als „das bessere Deutschland“ zu präsentieren.

Die zweite Station: Ost-West-Annäherung in den 1970er Jahren und „Osterweiterung“ seit Ende der 1980er Jahre

Für das Goethe-Institut waren Mittel- und Osteuropa im Kontext des Kalten Krieges lange Zeit ein „gesperrtes Feld“. Hier war die DDR mit sogenannten Kultur- und Informationszentren vertreten, die auch Deutschkurse anboten. Erst mit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre kam es zu Lockerungen. 1970 konnte das Goethe-Institut eine Zweigstelle in Belgrad eröffnen, 1971 Fortbildungskurse für Deutschlehrer*innen aus der Sowjetunion anbieten und 1979 ein Goethe-Institut in Bukarest gründen. Doch erst mit Michael Gorbatschow als Vorsitzendem der Kommunistischen Partei der Sowjetunion begannen tiefgreifende Reformen. Die Abschaffung der Breschnew-Doktrin im Sommer 1989 schließlich besiegelte den Zusammenbruch des Warschauer Pakts und ermöglichte die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands.

Die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands—und generell Westeuropas—sah in Mittel- und Osteuropa wichtige Bündnispartner. Um dies kulturpolitisch zu untermauern, beauftragte die Bundesregierung das Goethe-Institut mit der Gründung von Instituten in den ehemaligen Ostblockstaaten. Den Begriff „Osterweiterung“, mit dem auch das Goethe-Institut diese Politik damals bezeichnete, würde man heute wohl durchaus kritisch sehen. Der Begriff ist von Westeuropa aus gedacht; in ihm schwingen Assoziationen von Expansion eines Zentrums und von Beitritt oder Anschluss neuer Peripherien mit, die einer nachholenden Entwicklung bedürfen. Der Begriff vernachlässigt die Handlungsmacht der ehemaligen Ostblockstaaten, die ja das neue Europa ganz entscheidend mitgeprägt haben.

Wie dem auch sein möge: zwischen 1989 und 1994 wurden zwölf neue Goethe-Institute gegründet, in Sofia, Moskau, Prag, Warschau, Krakau, Bratislava, Kiew, Minsk, Sankt Petersburg, Almaty und Tiflis—und 1993 in Riga. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts erlebten diese Zeit geradezu euphorisch als eine „zweite Gründungswelle“. „Wie früher“ wurden Institute „aus dem Nichts“ geschaffen, mit viel Improvisation und Kreativität, so erfuhren wir in Interviews mit ehemaligen Institutsleitern.

In den ehemaligen Ostblockstaaten war damals die Nachfrage nach allem „Deutschen“ und „Westlichen“ ungebrochen. Schätzungsweise 15 Millionen Menschen lernten in der ehemaligen Sowjetunion Deutsch; in vielen Ländern Mittel- und Osteuropas war Deutsch schon seit Jahrzehnten als erste oder zweite Fremdsprache an den Schulen unterrichtet worden und erfreute sich nun noch größerer Beliebtheit.

Allerdings hatte die Bundesregierung unter Helmut Kohl (1982–1998) ein eher geringes Interesse an der auswärtigen Kulturpolitik. Der Etat des Goethe-Instituts wurde drastisch gekürzt, und das Institut musste ein Mehr an Aufgaben mit weniger Finanzmitteln bewerkstelligen. Zwar brachten Sondermittel für die Osterweiterung nach der Wiedervereinigung etwas Aufwind, aber an der insgesamt prekären finanziellen Lage des Goethe-Instituts änderte sich wenig. In dieser Zeit überlegte das Goethe-Institut, ob es sein dichtes Institutsnetzwerk nicht in anderen Teilen Europas—besonders in Italien und Frankreich—reduzieren könnte. Dahinter stand der Gedanke, Europa würde „von allein“ zusammenwachsen und man sich deshalb angesichts knapper Mittel auf Ländern fokussieren sollte, in denen noch keine Goethe-Institute existierten. Dieser Gedanke setzte sich zwar nicht durch. Dennoch zwang die finanzielle Lage zu Institutsschließungen—ein Trend, der erst 2005 gestoppt werden konnte.

Die dritte Station: Von der Osterweiterung zur zivilgesellschaftlichen Vernetzung—Entwicklungen seit Mitte der 2000er Jahre

Dass der europäische Zusammenhalt keineswegs ein Selbstläufer ist, wurde spätestens im Zuge der europäischen Finanzkrise immer deutlicher, die die Kluft zwischen Nord- und Südeuropa vertieft hat. Das Erstarken autoritärer Regime und nationalistischer Bewegungen hat wiederum alte Trennlinien zwischen einigen ehemaligen Ostblockstaaten und Westeuropa verschärft. Aber populistische Kritik an Europa gab und gibt es auch in Nordwesteuropa, wie die Debatten um den Brexit nur allzu deutlich zeigen.

Nicht zuletzt, um auf diese vielfältigen Herausforderungen zu antworten, hat die Bundesregierung seit 2005 ihre staatlichen Ausgaben für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik erhöht, und Europa wurde für das Goethe-Institut wieder zu einer Schwerpunktregion. Nun ging es nicht mehr um „Osterweiterung“, sondern um die zivilgesellschaftliche Vernetzung quer zu nationalen Grenzen und europäischen Subregionen. Die über fünfzig Goethe-Institute in Europa beschäftigen sich unter anderem mit Themen wie die Meinungsfreiheit und die Frage, was Europa ausmacht und zusammenhält. Die Institute arbeiten dabei eng mit lokalen Kulturschaffenden zusammen, wobei die Kooperationen grenzüberschreitend oft mehrere europäische Länder verbinden.

Seit 2006 engagiert sich das Goethe-Institut außerdem in Zusammenschlüssen von europäischen Kulturinstituten und -stiftungen wie More Europe oder EUNIC. In seiner weltweiten Arbeit tritt das Goethe-Instituts heute also längst nicht mehr nur als deutsches Kulturinstitut auf, sondern auch als europäische Einrichtung.

Aktuelle Herausforderungen und Perspektiven
Heute ist der europäische Zusammenhalt weiterhin herausgefordert. Autoritarismus, Illiberalismus und rechtsradikale und populistische Gruppierungen nehmen zu; Fragen des Klimaschutzes werden immer dringlicher; die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie treffen die europäischen Länder mit unterschiedlicher Härte. Die Zunahme weltpolitischer Konflikte wie in Belarus oder jetzt in Afghanistan—und die damit verbundene Flucht zahlreicher Menschen—stellen die europäische Solidarität auf eine harte Probe.

„Amerikas Verlässlichkeitsproblem, Chinas Dominanzstreben [und] Russlands Sabotagepolitik“ legen Europas Schwäche offen, so formulierte es Klaus-Dieter Frankenberger vor drei Tagen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Angesichts des Debakels in Afghanistan ist eine heftige Debatte um die Zukunft der europäischen und deutschen Außenpolitik entbrannt, die sich Prinzipienfestigkeit und Pragmatismus neu orientieren müsse, so jedenfalls Frankenberger.

In jedem Fall müssen wir die innere Einheit Europas festigen. Dieser Zusammenhalt, das zeigt die jüngste Geschichte überdeutlich, ist nicht gegeben, sondern muss aktiv erarbeitet werden. Zum anderen müssen wir die Rolle Europas in einer zunehmend multipolaren Welt überdenken. Amerika ist auf die chinesischen Dominanzbestrebungen fokussiert; in dieser neuen Ost-West-Konfrontation wird Europa zunehmend zur Peripherie. Genau darum darf sich Europa aber nicht abschotten, sondern muss selbstbewusst seinen eigenen Weg finden.

Welche Rolle kann Kulturpolitik in diesem schwierigen Prozess der außenpolitischen Neuorientierung spielen? Ich bin überzeugt, dass Kultur- und Spracharbeit, wie sie das Goethe-Institut und andere europäische Kulturmittler leisten, unverzichtbar sind, um die europäischen Zivilgesellschaften miteinander zu vernetzen. Um die europäische und nationale staatliche Außenpolitik gesellschaftlich zu unterfüttern, aber auch kritisch zu begleiten oder gar zu verändern, braucht es diese gesellschaftliche Vernetzung—das Mit- und Voneinander-Lernen, durch gemeinsame künstlerische Produktionen, intellektuellen Austausch, kooperative Erinnerungskulturarbeit und vieles mehr. Schon 1969 forderte Ralf Dahrendorf, damals Staatsminister im bundesdeutschen Auswärtigen Amt, wir müssten „von einer Außenpolitik der Staaten zu einer Außenpolitik der Gesellschaften kommen“. Das ist heute immer noch eine Vision, die unsere Kultur- und Spracharbeit anleiten kann. Nur wenn unser europäisches Projekt auch jenseits der politischen Eliten gelebt und vorangebracht wird, kann es gelingen, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen. Dafür brauchen wir starke zivilgesellschaftliche Bündnisse zwischen den europäischen Ländern.

Und in diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen, dass die europäisch-partnerschaftliche Arbeit in diesem beeindruckenden Gebäude des Goethe-Instituts Riga einen guten Neustart erfährt. Ich bin überzeugt: dies ist ein sehr guter Ort, um die zivilgesellschaftliche Vernetzung voranzutreiben, die wir in dieser unsicheren und multipolaren Welt brauchen.

Ich wünsche Ihnen und uns allen einen anregenden Abend und viele weitere spannende Diskussionen.

 

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