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28. August 2022
Rede anlässlich der Verleihung der Goethe-Medaille 2022

- Es gilt das gesprochene Wort - 

...endlich können wir uns wieder in Präsenz gemeinsam die Verleihung der Goethe-Medaillen 2022 feiern—an diesem für die Geschichte der deutschsprachigen Kultur, aber auch für die politische Geschichte unseres Landes so symbolträchtigen und zugleich heiklen Ort. Ich freue mich sehr, dass wir in diesem Jahr an die 1992 etablierte Tradition anknüpfen, die Medaillen in einem Festakt in Weimar zu verleihen. Sie gehen an den Multimedia-Künstler und Maler Mohamed Abla aus Ägypten, an die Historikerin und Direktorin des Johannesburg Holocaust & Genocide Centre Tali Nates aus Südafrika und an die beiden Künstlerinnen und Kulturmanagerinnen des Sandbox Collective Nimi Ravindran und Shiva Pathak aus Indien. Ich freue mich besonders, dass wir zur diesjährigen Preisverleihung auch die Außenministerin Annalena Baerbock begrüßen dürfen!

Für mich ist die Zeremonie heute eine Premiere, denn mein Amtsantritt Ende 2020 war von der Pandemie überschattet. Doch findet die Verleihung der Medaille auch in diesem Jahr vor einem besonderen Hintergrund statt, den wir nicht ausblenden können. Der brutale Angriffskrieg Russlands in der Ukraine hat bisherige (west)europäische Selbstverständlichkeiten erschüttert. Die neue geopolitische Weltlage stellt auch die internationale Kulturpolitik vor neue Herausforderungen; ich komme darauf noch zu sprechen.

Seit 1955 wird die Medaille verliehen, seit 1975 als offizielles Ehrenzeichen der Bundesrepublik Deutschland. Sie ehrt Persönlichkeiten aus aller Welt, die sich in besonderer Weise um die Vermittlung der deutschen Sprache und den internationalen Kulturaustausch verdient gemacht haben. Daran hat sich in den all den Jahrzehnten grundsätzlich nichts geändert. Aber die Galerie der Preisträger und Preisträgerinnen, bis dato insgesamt 379 Personen, hat sich ganz entschieden transformiert. Und darin spiegeln sich veränderte Auffassungen über die Aufgaben internationaler Kulturpolitik und folglich über preiswürdige Leistungen auf diesem Feld.

Beginnen wir mit zwei offensichtlichen Beobachtungen: über das Geschlecht und die geografische Herkunft der Preisträger. Unter den 256 Preisträgern bis 1989 gab es nur 8 Frauen, das sind gerade einmal 3 Prozent. In den folgenden Jahren stieg der Anteil zwar nur langsam, aber doch kontinuierlich, bis auf immerhin ein Drittel der Preisträger. Die Medaille ist also—so könnte man sagen—weiblicher geworden, und das zeigt sich auch bei der heutigen Verleihung.

Aus dem Globalen Süden, wenn man diese pauschale Etikettierung für eine Reihe sehr unterschiedlicher Länder verwenden will, kamen in den ersten fünfzig Jahren der Medaillengeschichte nur insgesamt gut zwanzig Preisträger, gerade einmal 6 Prozent. Die Medaille war nahezu exklusiv ein Ehrenzeichen für verdiente männliche Auslandsgermanisten und weitere Hochschulangehörige sowie einige Kulturpolitiker und Verleger aus Westeuropa und aus den USA, Japan und Australien. Über die Hälfte der Preisträger kam aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Skandinavien und den Beneluxstaaten. Nur ganz vereinzelt wurden Persönlichkeiten aus Indien, Korea oder Ägypten ausgezeichnet. Und erst 1996 ehrte man einen Schwarzen Preisträger aus Afrika für seine Verdienste um die deutsche Sprache—übrigens ein Mitglied meiner ghanaischen Adoptivfamilie. Seit 2005 hat sich das geografische Spektrum dann deutlich erweitert, und in den letzten Jahren kommt jede dritte Preisträgerin aus dem Globalen Süden oder aus dem Nahen Osten. Goethe-Institute gibt es dort überall schon seit über fünfzig oder sechzig Jahren, aber offenbar hatte die Medaillen-Jury die lokalen Akteure der Spracharbeit und des Kulturaustauschs noch nicht als preiswürdige Kandidaten im Blick.

Die auffälligste Veränderung ist die Verschiebung des professionellen Hintergrunds der Preisträger—von Professoren der Germanistik, Sprach- und Kulturwissenschaften hin zu Künstlern verschiedener Sparten, Kulturschaffenden und zivilgesellschaftlichen Akteuren außerhalb der Universitäten. Wurden vor 1990 nur ganz vereinzelt Lyriker, Übersetzer oder der eine oder andere Komponist geehrt, nahm ihre Zahl seit der Jahrtausendwende deutlich zu. Nun suchte man auch unter Theaterregisseurinnen, bildenden Künstlern, Choreografen, Filmemacherinnen, Fotografen, Bürgerrechtlern und Menschenrechtsaktivistinnen nach geeigneten Preisträgern. Seit 2005 sind schließlich nur noch 10 Prozent der Preisträger Wissenschaftler, und Auslandgermanisten kommen so gut wie gar nicht mehr in den Blick. Aus einem Preis für die erfolgreiche wissenschaftliche und institutionelle Vermittlung der deutschen Sprache und Deutschlands kultureller Leistungen im Ausland wurde also ein Preis für herausragendes künstlerisches und zivilgesellschaftliches Engagement in den Herkunftsländern selbst und im internationalen Kulturaustausch—und dies nicht nur im bilateralen Austausch mit Deutschland, sondern oft in transnationalen Netzwerken. Der diesjährige Preisträger und die Preisträgerinnen bieten dafür gelungene Beispiele.

In diesen Transformationen spiegeln sich veränderte Auffassungen von den Aufgaben der auswärtigen Kulturpolitik. Für den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker stand die Vorstellung von „unverwechselbaren Nationalkulturen“ noch ganz fraglos im Mittelpunkt. Aufgabe des Goethe-Instituts sei, so Weizsäcker in seiner Festrede anlässlich der Verleihung der Goethe-Medaille im Jahr 1987, „Menschen in aller Welt so anzusprechen, dass diese eine vertiefte Begegnung mit unserer deutschen Kultur … als Bereicherung empfinden“. Es ging also, in heutiger Terminologie gesprochen, um Kulturexport und nationale Kulturdiplomatie, auch wenn die Kommunikation nicht als Einbahnstraße gedacht war. Hilmar Hoffmann betonte anlässlich der Medaillen-Verleihung im Jahr 1995 den Beitrag der „Künste und Kultur“ zur „internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ der Bundesrepublik und sah in der auswärtigen Kulturpolitik eine „Ressource“ zur Vermittlung „internationaler kommunikativer Kompetenz“. Einige Jahre später, kurz nach den Terroranschlägen vom September 2001, betonte Jutta Limbach den Beitrag des Goethe-Instituts und der Preisträger zur Vermittlung der Leitideen „der Freiheit des demokratischen Rechtsstaats“.

Ich glaube, erst mit meinem Amtsvorgänger Klaus-Dieter Lehmann wurden die Maßstäbe für die preiswürdige Exzellenz der Medaillen-Empfänger weniger eurozentrisch, und der Blick weitete sich oder genauer: die Blickrichtung wechselte. Auch wenn das gar nicht explizit ausgeflaggt wurde: Die Jury zeichnet seit gut zehn Jahren nicht nur mehr Persönlichkeiten aus dem Globalen Süden aus, sondern auch ein viel breiteres Spektrum an Verdiensten, die die Preisträger vor allem in ihren jeweils eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten erworben haben.

Doch wenn die Goethe-Medaille nicht mehr nur die besonders erfolgreiche Vermittlung der deutschen Sprache und Sympathiewerbung für unser Land prämiert, was sind dann die preiswürdigen Leistungen? Ein Versuch, die Auswahl der Preisträger anzuleiten und einen thematischen Zusammenhalt herzustellen, war eine Dekade lang ein jährlich wechselndes überwölbendes Motto, meist im Untertitel mit Bezug auf ein Goethe-Zitat formuliert, wie beispielsweise „Die Rolle des Übersetzers“, „Der Geist der Geschichte“, „Dichtung und Wahrheit“ oder „Widerspruch ertragen“. Allerdings schrieb ein solches Motto in gewisser Weise die dominante Orientierung an westeuropäischen Standards der Exzellenz fort. Die tatsächliche Praxis der Auswahl der Preisträgerinnen war und ist längst „weiter“.

Die Leistungen, die die Goethe-Medaille heute ehrt, die Themen, die sie heute sichtbar macht, werden von den Menschen in den verschiedenen Regionen der Welt generiert, nicht von der in Deutschland verorteten Jury. Die Goethe-Institute nominieren die Kandidatinnen und Kandidaten, und aus diesen mit den Auslandsvertretungen abgestimmten Vorschlägen entwickelt die Kommission zur Verleihung der Medaille ihre Auswahl, über die dann das Präsidium des Goethe-Instituts die letzte Entscheidung trifft. Die Nominierungen basieren auf einem engen Austausch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts mit den unterschiedlichen lokalen Kulturszenen und auf einer genauen Beobachtung zeitgenössischer kultureller und zivilgesellschaftlicher Entwicklungen in aller Welt. Hier ist also ein globaler Such- und Entdeckungsprozess am Werk, der unterschiedliche lokale und regionale Standards der Exzellenz und thematischen Relevanzsetzungen ernst nimmt. So macht die Verleihung der Goethe-Medaille zukunftsweisende künstlerische Entwicklungen in aller Welt und relevante gesellschaftliche Debatten ausfindig. Zugleich macht sie diese Entwicklungen in Deutschland sichtbar und fördert so die Internationalisierung der deutschen Kulturlandschaft.

Mit der Verleihung der Goethe-Medaille laden wir also zu Neugier auf fremde Perspektiven ein, zu geduldigem Zuhören und genauem Hinschauen. Das erfordert Respekt für andere Standpunkte und Offenheit für die vielfältigen Facetten künstlerischer und zivilgesellschaftlicher Debatten in aller Welt. Dafür braucht es braucht Freiräume—und unsere diesjährigen Preisträgerinnen stehen für eine solche Kulturarbeit, die für Freiräume der Kunst und offene gesellschaftliche Debatten kämpft. Mohamed Abla engagiert sich seit Jahrzehnten in der ägyptischen Kulturszene für Verständigung und Diversität und setzt sich für Meinungsfreiheit ein. Tali Nates hat das Johannesburg Holocaust & Genocide Centre als einen zentralen Ort der Erinnerung gegründet, der nach den Wurzeln des Holocausts und des Genozids in Ruanda fragt und auslotet, was wir daraus im Blick auf aktuelle Kriege und Menschenrechtsfragen lernen können. Nimi Ravindran und Shiva Pathak vom Sandbox Collective setzen sich immer wieder kritisch mit Konzepten von Identität, Inklusivität, Diversität und auch des Zugangs zu den Künsten auseinander; sie wenden sich gegen Zensur und Hasspolitik und kämpfen für eine freie, mitfühlende und gleiche Gesellschaft.

Internationaler Kulturaustausch, den das Goethe-Institut fördert und den die Verleihung der Goethe-Medaille exemplarisch sichtbar macht, kann langfristig Brücken schaffen und Netzwerke bauen. Damit kann er indirekt und auf lange Sicht für unser Land und seine demokratischen Werte werben. Das ist eine Erfahrung, die das Goethe-Institut in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gemacht hat.
Dabei lässt sich an den Genius loci Weimars anknüpfen, an Schillers ästhetischen Humanismus. Für Schiller hatte—vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution—das Spielerische, Interesselose, Nicht-Instrumentelle der Kunst einen zivilisatorischen Wert. Nur im Spiel mit dem Schönen, also in der Kunst, erfährt der Mensch Freiheit, so Schiller. Hier eröffnen sich Möglichkeitsräume, die andere gesellschaftliche Formen des Zusammenlebens denkbar werden lassen. Dafür braucht es Orte der Freiheit von Gewalt und Sanktionen.

Internationaler Kulturaustausch ist politisch relevant, aber nicht durch messbare Zielvorgaben und instrumentelle Engführung oder hemdsärmeligen Werteexport und eine Politik der Belehrung. Er braucht und fördert Freiräume! Der notwendige offene Austausch ist allerdings fragil. Er ist risikoreich. Rote Linien müssen immer wieder ausgelotet und unsere Arbeit muss auf den Prüfstand gestellt werden. Gerade angesichts der sich verhärtenden geostrategischen Frontlinien werbe ich für die Verteidigung von Freiräumen für künstlerische Kreativität und für offene Debatten. Hier hat auswärtige Kulturpolitik, die von unabhängigen Mittlerorganisationen mit zivilgesellschaftlichen Partnern betrieben wird, besondere Chancen und kann teilweise freier agieren als Diplomatie, Sicherheitsstrategien oder Wirtschaftspolitik.
Das ist auch und gerade in der aktuellen Krise wichtig. Ja, wir Westeuropäer erfahren eine „Zeitenwende“. Aber Menschen in anderen Weltregionen, die seit Jahren und Jahrzehnten von Krieg, wirtschaftlicher Not, autoritären Regimen und Menschenrechtsverletzungen gebeutelt werden, nehmen dies oft anders wahr. Deutschland ist wie wenige andere Länder in globale Zusammenhänge eingebettet und von ihnen abhängig. Genau darum sollten wir uns für solche anderen Perspektiven intensiv interessieren. Um unser Zusammenleben heute und in der Zukunft positiv zu gestalten, müssen wir die vielfältigen Herausforderungen gemeinsam in globalen Kooperationen bearbeiten. Und internationaler Kulturaustausch kann dabei helfen, andere Perspektiven, Wertehierarchien und Praktiken kennenzulernen und eigene Setzungen auch kritisch zu hinterfragen.

Freiräume für neue Perspektiven zu schaffen und zu verteidigen, in der eigenen Gesellschaft wie im internationalen Kulturaustausch: genau dieses Engagement zeichnet die diesjährigen Preisträgerinnen und den Preisträger der Goethe-Medaillen in besonderer Weise aus. Sie kommen aus Ländern, mit denen zeitweise große Hoffnungen verbunden waren—Hoffnungen auf eine wachsende Wirtschaftskraft, auf die Herausbildung einer globalen Mittelklasse und auf politische Reformen. Doch haben sich viele der Hoffnungen nicht erfüllt, die Jugendarbeitslosigkeit ist deprimierend hoch; die Pandemie hat gewütet; die politischen Repressionen, autoritärer Nationalismus und religiöse Intoleranz nehmen zu.
Vor diesem Hintergrund an angesichts der enger werdenden Spielräume für Kunst-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit ist das künstlerische und zivilgesellschaftliche Engagement unserer Preisträgerinnen bewundernswert. Sie sind mutige Vorkämpferinnen in ihrer eigenen Gesellschaft, und sie stiften produktive Verbindungen mit engagierten Kulturakteuren in anderen Ländern. Sie stehen für die Hoffnung, dass internationaler Kulturaustausch auch in schwierigen Zeiten—unter Bedingungen der Machtasymmetrie, des wirtschaftlichen Ungleichgewichts und der kriegerischen Auseinandersetzungen—zu einer humaneren Zukunft beiträgt. Wir können von ihrem hartnäckigen Engagement und ihrer Zukunftszugewandtheit nur lernen! Ich wünsche mir sehr, dass die Verleihung der Goethe-Medaille ihre Arbeit ermutigt und beflügelt. Herzlichen Glückwunsch also, lieber Mohamed Abla, liebe Tali Nates und liebe Nimi Ravindran und Shiva Pathak!

Ehe ich nun das Wort an Frau Ministerin Baerbock übergebe, möchte ich mich bei unseren Partnern herzlich bedanken, ohne die dieser Festakt und das vielfältige Kulturprogramm mit den Preisträgern in Weimar nicht möglich wäre:

bei der Deutschen Welle für die eindrucksvollen Filmporträts über unsere Preisträgerinnen und unseren Preisträger, die Sie heute hier zum ersten Mal sehen werden;

beim Kunstfest Weimar für die erneute fruchtbare Kooperation im Rahmen unseres Kulturprogramms mit Veranstaltungen unserer Preisträgerinnen und Preisträger beim Kunstfest Weimar sowie bei der Galerie Eigenheim für die Kooperation der Ausstellung von Mohamed Abla;

beim UNESCO-Lehrstuhl für Transcultural Studies an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar, der heute eigens für den Festakt komponierte Stücke präsentiert;

bei der Klassik Stiftung Weimar für ihre tatkräftige Unterstützung;

und last but not least bei meinem Team vom Goethe-Institut, das die ganze Veranstaltung organisiert und mich immer wieder mit tatkräftigen Ratschlägen unterstützt hat.

Herzlichen Dank an alle—und ich übergebe nun an unsere Außenministerin…
 

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