Standpunkt
Zum Gedenken an das Denkmal „1300 Jahre Bulgarien“

Archiv Valentin Starchev / save1300.com
Archiv Valentin Starchev / save1300.com

1. Zu einem Zeitpunkt, da der Kulturminister jeden Pflasterstein zum kulturellen Erbe erklärt, lässt der Gemeinderat Sofia das ehrgeizigste Monument des späten Sozialismus abreißen. Dies ist nicht einfach kommunistisches Gebaren, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Denn bei den Kommunisten wird Altes demoliert, um Neues aufzubauen. Hier dagegen wird eine jüngere Vergangenheit zerstört, um uns eine fernere in Erinnerung zu rufen – in diesem Fall geht es um das Andenken an die in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg Gefallenen.

Das heißt, aus einer Vergangenheit, an die ich mich erinnere und an die auch viele von Ihnen sich erinnern werden – der wir mit gemischten und gespaltenen Gefühlen gegenüberstehen, über die wir streiten und aus der wir zu lernen versuchen –, springen wir in eine bessere Vergangenheit zurück, die erinnerungstechnisch destilliert und zu reinem Stolz und reiner Ehre veredelt wurde. Weshalb ich das sage? Weil in den zahllosen on- und offline-Debatten zu diesem Thema immer wieder so Gedanken auftauchen, dass jene Zeit super-heroisch gewesen sei, dass wir alle Schlachten gewonnen und Ansehen in der Welt erlangt hätten. Die nationale Katastrophe, das Abdanken des Zaren, die Reparationen, die Tatsache, dass einem jungen, ehrgeizigen Bulgarien für Jahrzehnte das Rückgrat gebrochen wurde – all das wurde zu schönen Empfindungen von unvergänglichem Ruhm umgearbeitet. Keine Zeugen, die Zeit liegt weit zurück – man kann daraus machen, was man will. Und mit diesem Mechanismus funktioniert unser kollektives Gedächtnis, oder besser gesagt ‒ unser kollektives Vergessen. An die Stelle der nahen, reellen Erinnerungen treten ferne und legendenhafte.

2. Beim rechten Flügel ist die Wut auf das Denkmal „1300 Jahre Bulgarien“ eine blamable Stellvertreter-Reaktion. Der wahre Feind ist das Denkmal der Sowjetarmee, gegen das die Antikommunisten bereits seit Jahren rebellieren. Warum gelingt es ihnen nicht, es abzureißen? Nun, ich erinnere mich an einen Zeitpunkt, an dem man gerade bereit war, dies zu tun – und genau da sollte Vjahirev kommen, der Gazprom-Vorstandsvorsitzende. Er wurde am Flughafen erwartet, doch er kam nicht. Auch am nächsten Tag wartete man vergebens auf ihn. Bis über verschiedene diplomatische Kanäle durchsickerte, dass zwischen Gas und Sowjetarmee ein Zusammenhang besteht. In ihrer Ohnmacht richtete sich die antikommunistische Energie nun gegen das 1300-Jahre-Denkmal von Starčev, das in seiner Substanz nationalistisch war – ein Symbol der patriotischen Wende des Regimes in den 70er Jahren. Es stimmt zwar, dass sein Stil dem der Epoche entspricht, aber trifft dies nicht auch für den Kulturpalast selbst zu, dieses überladene, pompöse Gebäude? Wenn die Antikommunisten konsequent wären, müssten sie auch ihn abreißen lassen, und ebenso die Plattenbauviertel Mladost und Ljulin.

Fair wäre es, wenn das Lager der Terminatoren sagen würde: Wir mögen diesen größenwahnsinnigen Nationalismus nicht. Doch würden sie das wagen? Immerhin ist das Land zur selben Zeit mit noch nationalistischeren Objekten übersät. Die Gedenkplatten selbst, die wiedererrichtet werden sollen, sind genau solche Objekte. Stellen Sie sich bloß einmal vor, dass wir während der EU-Präsidentschaft die Gäste mit einem nagelneuen Kriegsdenkmal empfangen, und ausgerechnet einem für den Ersten Weltkrieg, der seit drei Jahren als der schrecklichste, wahnsinnige Brudermord diskutiert wird, der den Untergang unseres Kontinents heraufbeschworen hat. Wir können nur beten, dass man es bis dahin nicht schafft oder sich eines Besseren besinnt und sagt: vorerst haben wir kein Geld dafür.

3. Die ästhetische Kritik an dem Denkmal ist selbstverständlich legitim. Wenn eine öffentliche Sache den meisten Sofiotern missfällt, hat sie natürlich ein Problem. Aber ob sie nicht vielleicht deshalb missfällt, weil sie so zugerichtet wurde, wie man Betriebe zurichtet, um sie billig zu kaufen? Oder war sie zu „modern“ für den Geschmack der Massen? Mit Sicherheit hat sie nicht einmal Zhivkov gefallen, einem Mann vom Lande (falls Sie sich fragen, weshalb sich die Bulgarische Sozialistische Partei heute nicht für dieses Denkmal stark macht – dies ist die Antwort: es ist ihnen zu elitär).

Auch ich habe schon schönere Dinge in der Welt gesehen. Wenn der Gemeinderat verkündet hätte, einen internationalen Künstler einladen zu wollen, damit er an der Stelle etwas Interessantes gestalte, hätte ich mich gefreut. Nur dass man sich anschickt, dort etwas ohne jedweden ästhetischen Wert aufzustellen: Platten mit Namen darauf und pseudo-antike Säulen. Ich gebe zu bedenken, dass es in diesem Park, der ohnehin schon mit Symbolik überhäuft ist, bereits ein Verzeichnis mit Namen von Opfern des Kommunismus gibt. Ob dieser Ort, durch den eigentlich Großmütter und Kinder schlendern sollen, nicht ein wenig wie eine Friedhofsanlage anmuten wird?

Und da wir gerade bei Ästhetik sind – schauen Sie sich doch einmal um. Ist in den vergangenen Jahren auch nur ein Denkmal entstanden, das man als interessant, expressiv und beeindruckend bezeichnen könnte? Ein heidnischer Khan mit großem Säbel in Plovdiv, ein Fantasy-Zar mit glasigem Blick (und ebenfalls großem Säbel) vor der Sophienkirche in Sofia, ihm gegenüber eine 3D-Version des Widerstandskämpfers*… Es wird nicht besser, sondern immer schlimmer, und solange wir nicht wissen, warum das so ist, sollten wir für eine gewisse Zeit ein Moratorium für Gedenk-Aktivitäten verhängen. Klar, ein paar Dinge will sich das Volk nicht nehmen lassen – Popfolk, kitschige Schlösser, legendäre Helden. Und die soll es auch haben. Wenn es aber eine Intelligenz gibt, dann muss sie versuchen, den Geschmack auch so zu formen, dass andere Epochen, unterschiedlicher Stile, das, was andere gelebt und getan haben, erhalten und begriffen werden. Dies gilt ebenso für die Gebäude aus den 30er Jahren – nicht immer sind sie genial in architektonischer Hinsicht, häufig stammt die Idee für sie aus irgendeiner Gegend in Mitteleuropa. Es kommt jedoch darauf an, einige Beispiele jenes Stils, jenes fremden Lebens zu bewahren. Ästhetik ist keine nett ausschauende Dekoration – sie bedeutet Distanz und die Fähigkeit, das Andere zu verstehen, sich in andere Welten hinein versetzen zu können.

4. Was dabei am meisten brüskiert: das Denkmal wird abgerissen, weil es die Gesundheit der Passanten gefährde. Eine Debatte über Vergangenheit, nationalistische Ideologie, über den ästhetischen Stil der Epoche – ja, die wäre riskant, vor allem für populistische Politiker. Aber wenn es um die Gesundheit der Menschen geht, kommt erst gar kein Verdacht auf. Man stelle sich nur mal vor, morgen würde jemandem eine Platte auf den Kopf fallen – wem will man dann noch mit einer Vergangenheitsdebatte kommen?


* Gemeint ist die Figur auf dem Gemälde „Die Fahne von Samara“ von Jaroslav Věšín, Anm. d. Übers.


Der Text wurde urprünglich hier veröffentlicht. Das Goethe-Institut Bulgarien veröffentlicht den Text mit der Zustimmung vom Author.