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Fotografie
Ferntreffen mit Charlotte Schmitz

LA PUENTE: Ausstellung von Charlotte Schmitz
Foto: © Charlotte Schmitz

In Bulgarien und Europa angekommen, traf die Coronavirus-Pandemie unser Kulturprogramm hart und somit eine Reihe von Veranstaltungen, bei denen wir euch interessante Themen und Persönlichkeiten aus der Kunstwelt vorgestellt hätten. Selbst wenn das öffentliche Leben zurzeit stillgelegt ist, besteht immer noch die Möglichkeit, euch diese Personen vorzustellen und über Kunst zu reden. Hier werden wir euch mit den Kuratoren und Autoren bekanntmachen, mit denen wir momentan arbeiten – zurzeit nur online und hoffentlich in naher Zukunft live.

Nun stellen wir Euch die Fotografin Charlotte Scmitz vor, deren Ausstellung in der Galerie vom Goethe-Institut Bulgarien am 18. März eröffnet werden sollte. Partner sind die Galerie „Synthesis“ und das Festival Fotoevidence. Bei erster Gelegenheit informieren wir Euch über die neue Termine für die Ausstellung.

Von Stefka Tsaneva, Goethe-Institut Bulgarien

Zu diesem Zeitpunkt sollte Ihre Ausstellung „La Puente“ bei uns in der Galerie des Goethe-Instituts gezeigt werden. Leider mussten wir das wegen des Coronavirus verschieben, aber vielleicht können wir unseren Lesern mehr über das Projekt erzählen. Wie sind Sie dazu gekommen?

Zum ersten Male habe ich von La Puente gehört, als ich mit 18 Jahre alt war und im Süden Ecuadors einen Schüleraustausch gemacht habe. Eines Tages fuhren wir mit dem Auto aus der Stadt heraus und fanden uns plötzlich in einem großen Stau wieder. Ich fragte meine Freunde nach dem Grund, worauf sie lachten und sagten: „Das ist unser Bordell, das größte in der Provinz“. Seitdem wollte ich wissen, wie die Welt der Frauen dort aussieht. Später habe ich angefangen die Frauen in La Puente zu interviewen und sie zu fotografieren. Die Fotos sind in Zusammenarbeit mit den dort arbeitenden Frauen entstanden, die ihre eigenen Posen wählten und später ihre Polaroids mit Nagellack bemalten. Zu Beginn diente der Nagellack zur Wahrung der eigenen Identität, entwickelte sich doch schnell auch zu einem gestalterischen Mittel.
 
Warum gerade Polaroid?

Die Arbeit mit einer Polaroid-Kamera schafft einen intimen Moment zwischen mir als Fotografin und den involvierten Personen, da ihr Charakter von Natur aus performativ ist. Polaroid ist jedoch auch das Medium, welches mir gegenwärtig erlaubt in Zusammenarbeit mit den Menschen zu arbeiten, indem sie zu aktiven Teilnehmer*innen werden, die somit ihr eigenes Bild bearbeiten, verändern und somit ihre eigene Geschichte erzählen können. Polaroidfotografie schafft auch Vertrauen, was besonders an Orten wichtig ist, wo Fotografie normalerweise verboten ist, wie in La Puente. Ich habe die Frauen immer gebeten, mir ihr Polaroid nur zu geben, wenn es absolut für sie in Ordnung ist, dass ich es mitnehme und es somit Teil dieses Projektes werden kann.
 
Besonders spannend finde ich das partizipative Element in Ihrem Projekt. Die Frauen scheinen mir nicht objektiviert zu werden, sie sind nicht bloß „Objekt“ Ihrer Fotografie, sondern Mitgestaltende, Co-Autorinnen.

Aus diesem Grund arbeite ich mit partizipatorischer Fotografie, die eine grundlegende Methode in meiner Kunst ist, da sie jegliche unausgewogene Struktur, die sich aus dem fotografischen Prozess ergibt, minimiert und dadurch ein tieferes und komplexeres Verständnis der beteiligten Personen ermöglicht. Mir ist es wichtig soziale Themen in die öffentliche Debatte einzubeziehen, indem ich neue Perspektiven zeigen und dadurch das Bewusstsein schärfen und hoffentlich ein breites Publikum einbeziehen kann. Für mich entstehen diese neuen Perspektiven, wenn ich mit den involvierten Personen zusammen arbeite.
 
Welche Rolle spielen feministische Fragen in Ihrer Arbeit?

Die Mehrheit der Sexarbeiter*innen weltweit sind Frauen, die meisten Kunst und Fotografie Projekte zu diesem Thema werden jedoch von Männern erstellt. Diese Arbeiten schaffen es oft nicht die Frauen so zu zeigen wie sie gesehen werden möchten, und haben dadurch über Jahre hinweg zum Ungleichgewicht der Wahrnehmung von Sexarbeiterinnen und Frauen im Allgemeinen beigetragen. La Puente zeigt eine neue Perspektive auf ein klischeebehaftetes Thema und schafft Raum für ein komplexeres und persönlicheres Verständnis der Individuen, die ihre eigenen Geschichten erzählen und dadurch mit existierenden Stereotypen von Sexarbeiterinnen brechen.
 
Wie lange haben Sie mit den Frauen da gearbeitet? Was waren die größten Herausforderungen?

Zwischen 2016 und 2018 habe ich an dieser Arbeit fotografiert und war mehrmals für einige Monate in Machala, Ecuador. Letztes Jahr habe ich dann am Fotobuch gearbeitet, welches dann Ende des Jahres veröffentlich wurde. Eigentlich hatte ich keine sehr großen Herausforderungen, da ich Machala sehr gut kenne, fließend Spanisch spreche und im Allgemeinen schnell in Kontakt mit Menschen kommen, weswegen ich auch schnell Zugang zu La Puente und den Frauen dort bekommen habe.
 
Wie sieht es mit Frauen (als Fotografierende und Fotografierten) in der Dokumentarfotografie?

Die Unterrepräsentation- und Falschdarstellung von Frauen zu verändern ist im Kern die Absicht meiner Arbeit und ich denke dass dies in allen Formen von Medien notwendig ist. Nahezu alle meine Arbeiten versuchen das Bild von Frauen in unseren Gesellschaften herauszufordern. In meinem Beruf als Fotojournalistin begegne ich natürlich auch häufig Situationen von Ungerechtigkeit, sogar bei großen Festivals und Ausstellungen, in denen ein tiefgreifendes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern besteht in ihren Programmen. Aber nicht nur dass, es fehlt überhaupt an Vielfalt, welche ich sehr beunruhigend finde. Ich sehe jedoch auch, oder hoffe, dass sich dies gerade langsam ändert.
 
Warum ist der Preis FotoEvidence Award W in dieser Hinsicht wichtig?

Weil er Frauen die Möglichkeit gibt ihr Buch zu veröffentlichen und ihnen somit eine sehr wichtige Plattform schafft. Wenn ich mir die Daten der meisten großen Verlage angucke, zeigen sie leider, dass die große Mehrzahl an Autor*innen Männer sind. Wir Frauen haben also strukturell weniger Möglichkeiten, dass unsere Bücher veröffentlich werden. Am Tag als ich die Nachricht von Svetlana bekommen habe, dass sie meine Arbeit ausgewählt haben, hatte ich am Morgen Magaly, einer der Frauen in La Puente, eine Sprachnotiz geschickt, dass ich immer noch nicht weiß, wie ich das Buch finanzieren soll. Ich weiß nicht wann und wie ich ohne FotoEvidence dieses Buch veröffentlicht hätte.

In Ihrer Arbeiten setzen Sie sich mit verschiedenen Kulturen und politischen Themen auseinander. Wie gehen Sie heran, wenn Sie in einem neuen und unbekannten Kontext sind? Wie nähren Sie sich an die Kultur, die Menschen und deren Probleme?

Meine Arbeiten sind alle sehr mit meinem privaten Leben verbunden, ich habe bisher nie Arbeiten angefangen an Orten, wo ich nicht gewohnt habe, oder die Sprache spreche. Die Fotografie kann natürlich dabei helfen, sich in eine neue Kultur und politischen Themen einzufinden. Ich habe zum Beispiel ein paar Jahre in Istanbul gelebt, und dort angefangen meine Nachbarinnen bei Besuchen zu fotografieren, durch welche ich natürlich auch Türkisch gelernt und einen tiefen Zugang zur Kultur erhalten habe. Wenn ich neuen Leuten und Kontexten begegne, bin ich einfach ich. Viele meiner Protagonist*innen sind oder werden oft Freund*innen mit der Zeit und werden Teil meines Lebens.

Ein anderes Projekt, das ich besonders interessant finde, ist „Take me to Jermany“. Seit 2015 ist das Thema Migration und Flucht besonders aktuell und es gibt zahlreiche Fotograf*innen und Künstler*innen, die damit arbeiten. Im Vergleich zu anderen solchen Projekte habe ich aber hier das Gefühl, dass die Stimme der Fotografierten wirklich zu hören ist und dass sie die Macht über ihren eigenen Narrativ haben. Erzählen Sie uns mehr über dieses Projekt und wie es entstanden ist.

Genau das war mein Ansatz. Viele meiner Freunde in Istanbul kamen aus Syrien und dem Irak, und generell war ich in Istanbul dem Bürgerkrieg in Syrien und anderen Konfliktgebieten näher, da dort sehr viele Geflüchtete leben. Die Arbeit ist zwischen 2015 und 2016 entstanden, als viele von ihnen die gefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich nahmen. Mainstream Medien verstärken oft eine stereotype Sichtweise auf Geflüchtete, welches ich sehr gefährlich finde. Mit einem partizipatorischen Ansatz zu arbeiten gibt den beteiligten Personen jedoch die Möglichkeit ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Ich bat die Leute deswegen ihre Gedanken auf ihr eigenes Polaroid zu schreiben, und so ist eine nuancierte Arbeit entstanden, die ein tieferes und komplexeres Verständnis für die Menschen ermöglicht.

Welche sind die Themen, die Sie im Moment am meisten interessieren und an die Sie gerade arbeiten oder arbeiten werden?

Meist konzentriere ich mich auf Themen der Migration, Frauenrechte und Sexualität. Anfang diesen Jahres war ich wieder in Machala um den Frauen in La Puente ihr Buch zu zeigen, was unglaublich spannend war. Ihre Reaktionen habe ich dokumentiert und möchte in nächster Zeit an dem Material weiter arbeiten. Außerdem habe ich eine große Arbeit zum Thema Migration auf den Galápagos Inseln angefangen, wo es mich bestimmt wieder Ende diesen Jahres hinzieht, wenn es wieder möglich ist zu reisen.

Was ist die Zukunft der Dokumentarfotografie in Hinsicht auf die jetzige Situation?

Wenn ich mir die aktuelle Situation aufgrund der Pandemie angucke, steht es natürlich etwas schwierig um alle Dokumentarfotograf*innen. Wir können nicht reisen, meist sogar nicht mal unsere Häuser verlassen, alle Aufträge sind eingebrochen, Festivals und Ausstellungen abgesagt – jegliches Einkommen ist weggebrochen. In den wenigsten Ländern weltweit gibt es finanzielle Unterstützung für Selbständige in diesen Zeiten. Es werden sich jetzt jedoch auch andere Wege auftun Geschichten zu erzählen, und vielleicht werden wir zu unseren eigenen Protagonist*innen.

Zusammen mit Hannah Yoon, habe ich eine kollektives Fotoprojekt gestartet, WP – the journal, welches 350+ professionelle Fotografinnen weltweit miteinander verbindet, die ihr Leben während dieser Pandemie dokumentieren. Dieses Projekt bringt uns alle mehr zusammen, gibt Raum für Kreativität, und hält uns mental fit. Der Launch des Projektes ist diese Woche und wir werden in den kommenden Wochen alle Gruppen, 8-10 Frauen*, auf unserem Instagram vorstellen (@wpthejournal). Unterstützt werden wir in der Umsetzung von meinen Kolleginnen Flor Orpianesi und Marie Hartlieb von Friendzone.Studio.

Ich bin sehr gespannt auf die Entwicklung dieses Projektes, welche durchaus eine neue Form der Präsentation in der Dokumentarfotografie ist – meist arbeiten Fotograf*innen alleine, dies ist jedoch ein kollektives Projekt von 350+ Frauen*, welches einen einzigartigen, persönlichen und diversen Einblick in die aktuelle Pandemie gibt.

  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
  • Charlotte Schmitz - La Puente Foto: © Charlotte Schmitz
Charlotte Schmitz Foto: © privat Charlotte Schmitz' Herangehensweise zur Fotografie ist gewollt persönlich und unterläuft häufig die traditionellen dokumentarischen Herangehensweisen, was ihr erlaubt, ihre Positionen über Frauen und Migration zu vermitteln. Sie ist in einer dänischen Minderheit in Deutschland aufgewachsen und studierte dokumentarische Fotografie an der Hannover Hochschule. Ihre Arbeiten wurden in deutschen und internationalen Medien wie Der Spiegel und The Washington Post veröffentlicht. Sie hatte Soloausstellungen in den USA, der Türkei, Österreich und Japan. The British Journal of Photography wählt sie als eine der Fotograf*innen, die man im Jahr 2019 auf dem Schirm haben sollte. Mit ihrer Arbeit „La Puente“ ist sie die erste Preisträgerin der FotoEvidence W Award geworden. Die Arbeit wurde auch als Fotobuch herausgegeben. Charlotte spricht sechs Sprachen und wohnt zur Zeit in Berlin.

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