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Fotografie
Verwunderte Erkenntnis: Sibylle Bergemanns Fotografien

Mauerpark, Berlin, 1996
© Estate Sibylle Bergemann, ifa

Sibylle Bergemann. Photographien, eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen e. V. (ifa), macht auf ihrer Welttournee nun auch in Sofia halt. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus einem Katalogtext des Kunsthistorikers und Kurators Matthias Flügge.

Von Matthias Flügge

Mich interessiert der Rand der Welt, nicht die Mitte. Das Nichtaustauschbare ist für mich von Belang. Wenn etwas nicht ganz stimmt in den Gesichtern oder Landschaften ...

​​​​​​​Sibylle Bergemann

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Die Geschichte der deutschen Fotografie seit dem Zweiten Weltkrieg muß neu geschrieben werden, seit  die Mauer fiel und der Blick frei wurde für jenes Kapitel, das ihr das fotografische Schaffen in der DDR hinzugefügt hat. Es wird seither auch international mit wachsendem Interesse wahrgenommen, in Einzel – und Gruppenausstellungen vorgeführt und publiziert. Allein, die systematische Bearbeitung dieser Geschichte steht noch aus. Und sie ist vor allem nicht beendet. Denn viele der Fotografen, deren Bilder ihr angehören, arbeiten weiter und haben sich neue, weitere Themen und Motive erschlossen.

Zu diesen gehört Sibylle Bergemann. Ihr Werk hat eine zentrale Bedeutung für die subjektive Autorenfotografie, die in der DDR seit den siebziger Jahren eine breite kulturelle und soziale Basis fand.  Sie vermochte es, in Bildern tief hinter die Oberflächen einer scheinbar kontrollierten, pseudo-egalitären Gesellschaft vorzudringen. Sibylle Bergemann begann ihre Fotografenlaufbahn am Ende der sechziger Jahre in Ostberlin. Nach der Ausbildung bei Arno Fischer hatte sie erste Veröffentlichungen im „Sonntag“, wenig später in „Das Magazin“ und der Modezeitschrift „Sibylle“, Blättern, die in der DDR einen kulturellen Anspruch vertraten, der aus der Masse der ideologiekonformen Druckerzeugnisse herausragte.

„Sibylle“ war viel mehr als eine „Frauenzeitschrift“, sie war das Zentralorgan der Individualist(inn)en, der Emanzipation von Sensibilität. In jenen Jahren hat Sibylle Bergemann vor allem Modeaufnahmen gemacht – oder besser: Sie hat Frauen fotografiert, die Kleidung tragen an Orten, die den Betrachtern vertraut waren, in den grauen Straßen voll verwundeter Fassaden, vor Zirkuszelten, am Strand oder vor maroden Industriebauten. Diese Orte sind nie Kulisse einer Inszenierung von Wunschbildern unerreichbarer Idealität. Auch wenn die Frauen ein wenig schöner, die Kleidung ein wenig anspruchsvoller war als im alltäglichen Straßenbild: Nichts schien unerreichbar, man begegnete sich auf Augenhöhe, aber es war schon ein Zweifel, eine latente Wehmut der Vergeblichkeit darin. Und das blieb den Betrachtern nicht verborgen.
  • Kirsten Hoppenrade © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Ostkreuz © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Model © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Self-portait © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Twins © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Beach © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Africa © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Little one © Estate Sibylle Bergemann; ifa

  • Mauer Park © Estate Sibylle Bergemann; ifa


Der heutige Blick auf diese Fotografien offenbart noch deutlicher die lapidare Sicherheit, mit der Sibylle Bergemann die jeweilige Situation zu komponieren weiß. Wie im Vorgriff auf filmische Strategien der Fotografie ist hier nicht der entscheidende Augenblick zum Bild geworden, sondern die Realität scheint stillgestellt in einem Moment, dessen Davor und Danach anwesend bleibt. Insofern sind die Modeaufnahmen in enger Verbindung zu den Bildern von Berlin zu sehen, die Sibylle Bergemann seit den siebziger Jahren in großer Zahl gemacht hat. Es ist, als wollte sich Sibylle Bergemann allen Wahrnehmungsklischees dieser Stadt verweigern, der Fiktion von Urbanität ebenso wie der Romantisierung des Prenzlauer Berges, der offiziellen Heroisierung ebenso wie der billigen Kritik der Plattenbauareale. Wohl niemand hat in dieser zum Überdruß fotografierten Stadt so selbstverständliche, von Stilisierungen freie Bilder aufgenommen. Sie haben nur ein Thema: wie Menschen leben an einem transitorischen Ort, zwischen Vergangenheit und einer Zukunft, die ein ungewisses Versprechen ist.

Wie ungewiß, das zeigte sich im Herbst 1989. Was eben noch unabweisbare Realität gewesen war, gerann nun zur Erinnerung: Doch die Bilder, ihr melancholisch-metaphysisches Schwarz-Weiß, ihre atmosphärische Dichte und die bescheidenen Glücksmomente, die sie zeigen, haben Bestand. Es gab keinen Grund zur Revision, wohl aber zu neuem Aufbruch. Einige Jahre noch führte Sibylle Bergemann die Berlin-Fotografie weiter. Sie war 1990 Gründungsmitglied der Fotografenagentur „Ostkreuz“. Aber es war die Redaktion von „GEO“, die die Qualität von Sibylle Bergemanns Fotografie erkannte und sie mit herausfordernden Aufgaben betraute.

Seither arbeitet sie, neben ihrer freien Fotografie, vor allem für dieses Magazin, das vor der allgegenwärtigen Verbuntung der Printmedien und der elektronischen Bilderwut nicht kapituliert und sich eine selten gewordene fotografische Qualität bewahrt hat. Der Anteil, den Sibylle Bergemann daran hat, kann hier nur in Ausschnitten wiedergegeben werden. Die Bilder aus afrikanischen Ländern – Modefotografien und Situationsaufnahmen – spielen ihre künstlerischen Möglichkeiten vollkommen aus. Sie zeigen Schönheit ohne Exotismus, das Leben als Behauptung gegen die Verhältnisse, den Alltag in seiner Ambivalenz von traditioneller Kultur und dem Einbruch globalisierter Lebensformen. Es sind oft gesehene Motive, die man so noch nicht kannte: eine Fotografie der Einfühlung in eine Fremde, die ganz nah zu sein scheint.
  • Thomas © Estate Sibylle Bergemann; ifa
  • Elisabeth, Berlin, 2002 © Estate Sibylle Bergemann; ifa
  • Lily, Margaretenhof, 1997 © Estate Sibylle Bergemann; ifa
  • Polaroid © Estate Sibylle Bergemann; ifa
Eine Fotografie ist festgestellte Erinnerung. Im Moment der Erzeugung des Bildes ist es Vergangenheit. Diese einfache Einsicht hat Sibylle Bergemanns Arbeit seit den Anfängen geleitet, schon in der DDR, als Projektionen der Zukunft der ideelle Maßstab des Mediums gewesen sind. Sibylle Bergemanns Fotografien lasen wir schon damals als Ikonen der Vergeblichkeit, sie deckten die Simulation eines ideellen Kontextes auf und zeigten den Abguss einer ins Mythische modellierten, im Wortsinn hohlen Pathosform. In Sibylle Bergemanns Werk konstituierten diese Bilder eine visuellphilosophische Methode, die in der Polaroid-Fotografie der Autorin heute auf neue Weise fortgesetzt wird. Die unverwechselbare Ästhetik der Polaroids, ihre technologisch bedingten Unschärfen und Farbverschiebungen, die Raffinesse zielgenau überlagerter Filme und nicht zuletzt der Niedergang des „Sofortbildes“ im Zeitalter omnipräsenter digitaler Sofortigkeit erzeugen einen Raum des Verschwindens. Zur Erinnerung tritt das Vergessen, das Unhaltbare des Bildes im Lauf der Zeit.

Verblassende Erinnerung heißt eine der Polaroid-Serien, in denen sich Sibylle Bergemann auf eine andere Reise begeben hat, örtlich kaum entfernt, mental hingegen weit. Es scheint, als wolle die Fotografien etwas zum Vorschein bringen, das anwesend abwesend ist. Sparsame Notizen aus der Nähe, Spurensuche, Resultate einer Reise in die Träume. Das ist die fällige Ergänzung und zugleich die letzte Reminiszenz an ihre Berlin-Fotografie aus zwei Jahrzehnten, in der sie jenen graphisch orientierten Lyrismus entwickelte, der ihre Bilder erkennbar macht – auch wenn die subjektive Wahrheit längst nicht mehr schwarz-weiß gesehen wird, wie damals im Land des billigen Baryt-Papiers.



* Der Originaltext wurde im Jahr 2008 veröffentlicht. 

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„Sibylle Bergemann. Photographien“ ist eine Ausstellung des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) und wird in der Sofia City Art Gallery in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Bulgarien präsentiert zwischen dem 1. März und dem 10. April 2022.

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