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Freie Kulturszene
Die Räume der freien Szene als Systemfrage. Anmerkungen nach einer Diskussion

Mladen Alexiev NSSE 2022
© Iliyan Ruzhin

Mladen Alexiev machte 2006 seinen Abschluss in Theaterregie an der NATFA - Sofia und inszenierte anschließend eine Reihe von Aufführungen in Sofia und im ganzen Land. Außerdem hat er an verschiedenen freien Theaterproduktionen in Belgrad, Amsterdam und Berlin mitgearbeitet. Neben seiner Tätigkeit als Regisseur ist sein Name auch mit der unabhängigen Theaterszene in Bulgarien verbunden, denn er war Mitbegründer der ersten Vereinigung für freies Theater (ACT) und des ersten Festivals für freies Theater. Im Kontext der neuen Ausgabe des ACT-Festivals für freies Theater, das am 15. Oktober in der Toplocentrala eröffnet wird (siehe das Programm hier), veröffentlichen wir seinen Text "Die Räume der freien Szene als Systemfrage. Anmerkungen nach einer Diskussion", veröffentlicht in der Literaturische Zeitschrift. Der Text ist eine Reaktion auf die Diskussion "Die freie Szene und ihre Räume: Formen der Existenz"), die im Sommer 2022 im Rahmen des Internationalen Festivals für Neue Dramaturgie New Stages Southeast des Goethe-Instituts stattfand.

Von Mladen Alexiev

Vom 9. bis 12. Juni fand in Sofia die zweite internationale Ausgabe des Festivals für neue Dramatik „New Stages Southeast“ des Goethe-Instituts statt, das sich mit dramatischer Dichtkunst aus dem südosteuropäischen Raum befasst. Teil davon war die von Angelina Georgieva moderierte Diskussion „Die freie Szene und ihre Räume: Formen der Existenz“. Neben den Diskutant*innen Mladen Alexiev, Tsvetelina Yosifova, Yassen Vassilev, Atanas Maev und Galin Popov nahmen auch zahlreiche unabhängige Künstler und Vertreter verschiedener kultureller Einrichtungen teil.  Mladen Alexiev hat auf Einladung von „Literaturen vestnik“ („Literarische Zeitung“) seinen Diskussionsbeitrag erweitert. Wir teilen hier seine Veröffentlichung.


Häufig gestellte Fragen

Was bedeutet es, für eine Tätigkeit physischen Raum bereitzustellen?

Das bedeutet, die Bedingungen für die Ausübung einer Tätigkeit zu schaffen, indem man ihr einen bestimmten Platz im öffentlichen Raum zuweist, der sie für das Publikum kennzeichnet und sie dadurch sichtbar und bedeutsam und damit notwendig macht.

Was versteht man unter freier Szene?

Damit ist nicht eine Szene gemeint, die ohne finanzielle Unterstützung des Staates funktioniert (dies ist im Grunde das Gebiet des kommerziellen Theaters, das populäre Stücke aufführt und darauf abzielt, sie an möglichst viele Zuschauer zu vermarkten, und das nach dem Marktprinzip arbeitet).

Die freie Szene (nach der Logik des gleichen Prozesses im übrigen Europa) ist ein Bereich der künstlerischen und kulturellen Produktion, der vom Staat und privaten Organisationen (Stiftungen, Fonds) subventioniert wird und in dem die persönliche Initiative und der künstlerische Selbstausdruck von Einzelpersonen oder Gruppen, die nach Alternativen suchen oder die vorherrschende Mainstream-Kultur in Frage stellen, gefördert und kultiviert werden. Mit anderen Worten, ein Teil der Kultur wird vom Staat direkt diktiert, seinen Prioritäten, Traditionen und seiner kulturellen Strategie entsprechend, und ein anderer Teil der Kultur wird wiederum durch Instrumente der Verwaltung und Finanzierung kultiviert, aber indirekt, damit auch künstlerische und Ausdrucksformen abseits des kulturellen Mainstreams gleichberechtigt existieren können und zugänglich werden, nach einem pluralistischen, dialogischen Modell, in dem es Raum für ein breites „Spektrum“ von Praktiken und Alternativen gibt.

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Regelmäßig hören wir von der Schließung dieses oder jenes Raums für zeitgenössische Kunst, meist im Zusammenhang mit der zeitgenössischen darstellenden Kunst. Das Zentrum für Kultur und Debatten „Das Rote Haus” verschwindet und wird durch „DNK“ („DNA“), einen Raum für zeitgenössischen Tanz und Performance, „ersetzt“. „DNK“ geht unter und wird durch „Toplozentrala“ („Heizwerk“) „ersetzt“. Hinter dem auch als Trost gemeinten Vorwurf an die freie Szene („Was jammert ihr denn schon wieder, ihr habt doch eure Bühne“) steckt eine grundsätzliche Fehlannahme – es geht nicht um ein (einziges) „Zuhause“, eine „Botschaft“ der freien und experimentellen Szene. Es geht nicht um so etwas wie den „Kinderpalast“ oder den „Pionierpalast“, nur für unabhängige Aufführungen.

Es geht um die Notwendigkeit, neue Orte zu eröffnen, ohne die alten verschwinden zu lassen. Es geht darum, sich von der Vorstellung eines zentralen „Zufluchtsortes“ für unabhängige Produktionen zu lösen und ein Ökosystem aus verschiedenen Partnerorganisationen und -räumen aufzubauen, die unterschiedliche Formen unabhängiger Kunst beherbergen und produzieren – sei es zeitgenössischer Tanz, Performance, zeitgenössischer Zirkus, projektbezogenes Theater, Grenzformen oder etwas anderes. Die verschiedenen Formen haben unterschiedliche Besonderheiten, unterschiedliche Bedürfnisse in Bezug auf Raum, Fläche, Ton, Beleuchtung und ein unterschiedliches Publikum, das sie verfolgt und sich mit ihnen identifiziert. Diese Unterschiede müssen kultiviert werden, damit sich sowohl die künstlerischen Fähigkeiten und Technik der Künstler*innen als auch die Ansprüche und der Blick der Kritiker*innen und des Publikums schärfen können.

Anders ausgedrückt: Es ist an der Zeit, das Gespräch über Räume neu zu kontextualisieren – über den zyklischen Charakter der „wenn nicht dieser Ort, dann jener Ort“-Denkweise hinauszugehen (der die Entwicklung der freien Szene künstlich immer wieder an denselben toten Punkt zurückführt) und auf den Aufbau eines nachhaltigen Ökosystems von Räumen hinzuarbeiten, das es unserer unabhängigen zeitgenössischen darstellenden Kunstproduktion ermöglicht, ihre Vielfalt, ihre künstlerischen Qualitäten, ihre Fachkompetenz, ihren Umfang und ihre Erfolge zu steigern. Ebenso wie ihre Sichtbarkeit und Anerkennung in der Gesellschaft.

Und dabei darf es nicht nur um die Hauptstadt gehen. Angemessene moderne Räume, die den absoluten Präzedenzfällen im Lande folgen (der neu errichteten „Toplozentrala“ in Sofia und dem renovierten „Haus des Petrochemikers“ in Burgas), sollten zunächst zumindest in den anderen Großstädten (Plovdiv und Varna) und in den Städten mit einer deutlich erkennbaren und aktiven lokalen Kunstgemeinschaft mit Schwerpunkt zeitgenössische Kunst und Kultur (Ruse, Veliko Tarnovo, Gabrovo) entstehen. Auf längere Sicht – auch in allen anderen regionalen Zentren des Landes.

Die Zentren für zeitgenössische Kunst (die auch als produzierende Organisationen fungieren) sollten parallel und in enger Partnerschaft mit den bestehenden staatlichen und kommunalen Kultureinrichtungen (Theater, Opern, aber auch Galerien und Museen) vor Ort sowie mit dem Netzwerk der Kulturhäuser (Tschitalischta) im ganzen Land arbeiten. Alle rechtlichen oder verwaltungstechnischen Erwägungen, die einer wirksamen Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen kulturellen Organisationen im Wege stehen, die in das nationale kulturelle Netzwerk des Landes eingebunden sind und dieses repräsentieren, sollten überprüft oder vollständig neu formuliert werden.

Die einzelnen Räume – ob traditionell oder neu entstanden - dürfen nicht als getrennte und unzusammenhängende Fälle betrachtet werden, an denen stückweise gearbeitet werden kann oder die in einer Art Zeitlosigkeit existieren. Sie sind und müssen alle Bestandteile eines nationalen Systems sein, das in seiner Gesamtheit gedacht werden muss – ein nationales Netzwerk, das zielgerichtet und effektiv eine klare und ausdrückliche nationale Kulturstrategie umsetzt.

Die nationale Kulturstrategie sollte wiederum kein überaus detailliertes technokratisches Dokument mit hohlen Versprechungen sein. Die Strategie sollte so weit wie möglich eindeutige Antworten auf die folgenden Fragen liefern: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Welche Werte bestimmen die Beziehungen in dieser Gesellschaft? Was bindet uns zusammen und macht uns zu einer Gemeinschaft? Wohin steuert diese Gesellschaft und was will sie für sich und die künftigen Generationen erreichen? Welche Art von Menschen, welche Art von Persönlichkeiten will die Kulturpolitik modellieren? Welche Art von Bürgern will diese Kultur hervorbringen?

Von der Kulturstrategie und den gezielten Maßnahmen eines Staates hängt es ab, ob seine Bevölkerung bildungsarm oder gebildet, primitiv oder gut informiert, extrem materialistisch oder kritisch denkend ist usw. Die Kultur der Bürger*innen hängt natürlich auch direkt von den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen im Land, von der Politik und vom Zustand der Institutionen ab. (Die oben genannten Kategorien dienen nicht dazu, qualitative Unterscheidungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu treffen, sondern lediglich dazu, die möglichen Ergebnisse verschiedener, tatsächlich umgesetzter kulturpolitischer Maßnahmen zu kommentieren). Die vielen ungünstigen Tendenzen im bulgarischen Bildungswesen, im gesellschaftlichen Prozess und in der allgemeinen demografischen Entwicklung erfordern, dass wir Stellung beziehen und mutig und entschlossen in Richtung Pflege, Verwaltung und Kultivierung des kulturellen Feldes handeln – und zwar in erster Linie durch ein reaktiviertes Netzwerk alter und neuer Kulturinstitute und durch die Menschen, die die nötige Sachkompetenz mitbringen.

Wo der Staat vor mehr als 30 Jahren noch darauf bestand, eine grundsätzlich gebildete und arbeitsame Bevölkerung zu modellieren, sind heute viele bizarre und schwindelerregende Lebensformen erschienen. Die Kultur wurde verdrängt. Sie ist nicht nur aus der Infrastruktur, sondern auch aus dem Alltag und der Freizeit (und damit aus dem Bewusstsein und dem begrifflichen Apparat) der Mehrheit der Jugendlichen und der Einwohner des Landes verschwunden. Eindrucksvolle Beispiele dafür findet man nicht nur in den mittleren und kleinen Siedlungen, nicht nur in den Außenbezirken der großen Städte, sondern auch in den Städten selbst.

Der Staat muss endlich die Verantwortung für die Kultur seiner Bevölkerung auf seinem gesamten Gebiet wieder übernehmen und alle verlassenen Räume, sowohl physisch und geografisch als auch im Alltag seiner Bürger, zurückfordern.

Anmerkungen

Als Teilnehmer an der von Goethe-Institut organisierten und von Angelina Georgieva konzipierten und moderierten Diskussion „Die freie Szene und ihre Räume: Formen der Existenz“, die am 12. Juni in „Toplozentrala“ stattfand, wurde ich eingeladen, meine Aussagen, Hypothesen und Vorschläge schriftlich zusammenzufassen und in der neuesten Ausgabe von „Literaturen Vestnik“ zu veröffentlichen. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Räume für darstellende Künste, genauer gesagt für Theater, Tanz und Performance.

Weder könnte ich die gesamte Diskussion zusammenfassen, noch könnte mein Standpunkt die Äußerungen der anderen Teilnehmer*innen widerspiegeln oder ersetzen. Für einen umfassenden Überblick über die angesprochenen Punkte und Themen empfehle ich die Videodokumentation der Veranstaltung. Ich habe mich dafür entschieden, hier meine Aussagen in der Diskussion zu präzisieren und sie einem konkreten Handlungsplan anzunähern.

Eine Schilderung des allgemeineren kulturellen und politischen Kontexts, in den ich diesen Kommentar einordne, findet man in meinem Artikel „Kultur ohne Richtung“, der im April dieses Jahres auf der Plattform „Neue Dramaturgien“ erschien und in dem ich das Schicksal von „DNK“ – Raum für zeitgenössischen Tanz und Performance, vom Theater „Azaryan“ und vom Literaturclub „Die Feder“ im Nationalen Kulturpalast zum Anlass nehme.
 

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Mladen Alexiev ist ein Theaterregisseur, Autor von Bühnentexten, Kulturaktivist und Mitbegründer der Vereinigung für freies Theater und des ACT Festivals.

Dieser Text wurde in der Zeitung „Literaturen vestnik“ veröffentlicht (Ausgabe 26/2022, S. 8).

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