Sehnsuchtsorte Vom Tauschen und Teilen

Das erste Mal Sofia. Ich denke an meine morgendlichen Streifzüge durch die Stadt, um herauszufinden wie sie atmet und an die Anziehungskraft, die die budki dabei auf mich hatten. Natürlich, sie sind auffällig und prägen das Stadtbild charakteristisch, aber es war noch mehr, winkten sie doch wie übriggebliebene Zeitzeichen zu mir herüber, herrlich unmodern und gleichermaßen vertraut. 

Das mag daran liegen, dass ich nun schon eine Weile in einem kioskreichen Raum lebe, dem Ruhrgebiet; nichts geht hier ohne Büdchen, dort wo man seine Brausebonbons und Salmiakkugeln noch immer stückweise erwerben kann, wo sich die Nachbarschaft begegnet und manchmal auch zu einem gemeinsamen Getränk verweilt. Bei meinem Kiosk gleich gegenüber darf ich zum Beispiel anschreiben lassen. "Sie kommen ja wieder", sagt die Betreiberin stets, lacht und erzählt mir meist noch eine kleine Begebenheit aus dem Viertel. Ich weiß sie also zu schätzen, die Büdchen - die budki - weiß, dass sie ungezählte Geschichten erzählen können und könnte Tage bei ihnen verbringen. Ethnologisch gesehen, sind sie regelrechte hot spots; Kreuzungs- und Begegnungspunkte von Menschen jeden Alters und jeglicher sozialer Herkunft. Wundervolle Sehnsuchtsorte, die in ihrer seltsamen Antiquiertheit nach Kindheit schmecken und an denen traditionell oft mehr soziales als ökonomisches Kapital umgesetzt wird; Orte an denen Informationen getauscht und geteilt werden. Hier wie dort gab es an den kleinen Kiosken also schon immer etwas umsonst; ein erhaltenswertes zwischenmenschliches Gut in Zeiten von "Geiz ist geil"!

Wie aber fühlt sich Teilen und Tauschen an? Gibt es Unterschiede zwischen den postsozialistischen Ländern und den westlichen samt ihrer sich stetig nach oben drehenden Konsumspirale? Worin ähneln und unterscheiden sich ihre Teil- und Tauschkulturen?
 
Ich erinnere mich an meine Zeit in Berlin gleich nach der Wende, als ich als einzige "Wessi" in einem Haus im "Ost-Berliner" Bezirk Friedrichshain lebte und dort eine Wohnung umfassend zu renovieren hatte. Häufig stand ich auf Beobachtungsposten und blickte aus dem Fenster des Berliner Zimmers in den Hinterhof, dort wo sich unter einer ausladenden Kastanie im Sommer die Nachbarschaft traf, Tische und Stühle aufgestellte und Schüsseln mit Selbstzubereitetem die Runde machten. Irgendwann schloss ich mich an. Man traf sich dort aus vielerlei Gründen. Einmal, weil man es immer schon so gemacht hatte; es zu DDR-Zeiten wenig Ausgehalternativen gab. Und nun auch, weil man merkte, dass das Angebot zwar da war, nicht aber unbedingt die finanziellen Mittel um daran teilhaben zu können - selbstgemachter Kartoffelsalat und mitgebrachte Getränke waren billiger. Der Hinterhof war ein beständiger shared place und zunehmend auch ein Rückzugsort; gerade ältere Mitbewohner fürchteten sich vor dem Draußen, der Veränderung ihres Stadtteils, den "Wessis", die es hereinspülte und den hohen Preisen für praktisch alles.
 In der Nachbarschaftsrunde aufgenommen, wunderte ich mich in meiner Berliner Zeit über Einiges. Wir tauschten und teilten was das Zeug hielt - meine Nachbarschaft in unhinterfragter Selbstverständlichkeit und ich immer begeisterter - Neuland in dieser Größenordnung: Badezimmerkacheln, von denen ich nie herausgefunden habe, wo man sie organisiert hatte, gegen Mittagessen und Plausch; die Benutzung des einzigen Telephonanschlusses im Haus gegen Informationen zum Umgang mit  "West-Formularen"; Kinderbetreuung zwei Häuser weiter gegen Vollbäder im Winter, als der Einbau meines Badezimmers stockte. 
Für mich war diese Teil- und Tauschkultur geradezu romantisch befreiend, für die Anderen zunächst einmal nichts weiter als eine Art - dem sozialistischem System geschuldete -Zweitwährung; allerdings eine mit Nebeneffekten!
 
In seinem lesenswerten Beitrag "Warum sind wir, wie wir sind? Zur kulturellen Prägung durch den Sozialraum DDR" im Kontext der 2008 initiierten Ringvorlesung "Wie schmeckte die DDR?" beschreibt der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz die DDR als eine Medaille mit zwei Seiten und benennt neben der "bitteren und sauren" auch eine andere:
"Es gibt aber auch eine süße und salzige Seite. Das Liebenswerte erwuchs aus der Enge und Not. Man war aufeinander angewiesen: So lebten die privaten Beziehungen von Vertrauen und Vertrautheit, von Hilfe und Solidarität, durch gemeinsames Klagen und Protestieren, auch im Widerstehen und sich ermutigen. Die Alltagskultur war vielfach kreativ, einfallsreich, kommunikativ, hilfsbereit, gemeinschaftlich und subversiv. Etwas zu improvisieren, zu tauschen, zu handeln, zu borgen, den Mangel zu kultivieren, das war spannendes, aktives, liebenswertes Leben."[1]
 
In den kapitalistischen Systemen hingegen war eine Tausch- und Teilkultur über Jahrzehnte hinweg weder nötig, erwünscht noch gar gefordert. In Deutschland änderte sich das erst Mitte der 1990er Jahre. Tauschen wurde zum gesellschaftlichen Statement einer damals noch vergleichsweise kleinen Gruppe. Exoten, deren Bestreben jedoch spannend genug war, dass der Spiegel diesem neuen Phänomen einen Artikel widmete.
"Eine Basisbewegung, ähnlich wie bei der Entstehung der Ökobank", sei da entstanden, schwärmt der linke Aktionskünstler und Bankenkritiker Sol Lyfond, Gründer der Kölner Initiative.“[2]
 
Also auch hier primär nicht mehr als eine Zweitwährung, wenngleich nicht aus der Not geboren, sondern als Gegenkultur zum alles beherrschenden Bankensystem?
 
Ich denke darüber nach, ob es wohl ein Zufall ist, dass vier der insgesamt sieben ersten  Tauschbörsen Deutschlands in Städten der ehemaligen DDR entstanden sind.
 
Wer tauscht muss in Kommunikation treten. Teilt seine Wünsche mit und mit anderen, schafft Begegnungen und Berührungspunkte, wird Teil eines Netzwerkes und gelangt vielleicht zu dem, was Maaz ein „spannendes, aktives und liebenswertes Leben“ nennt.
 
Mittlerweile hat Tauschen und Teilen Hochkonjunktur; die Diskussion um die Gemeingüter beherrscht den postkapitalistischen Diskurs. Und wie ganz nebenbei gleich kleinen Inseln und doch so wesentlich geleitet von der Frage „Wie wollen wir leben?“, entstehen jenseits aller theoretischen Debatten wieder kleine Sehnsuchtsorte, die dem Bedürfnis nach Teilhabe, des sich gegenseitigen Kennens und Anerkennens Rechnung tragen und in denen das „Gemeinsam“ zählt.

Bud.ko ist solch ein Ort; knüpft an das noch fast warme Potential des „Umsonst“ an und widmet es um; tauscht und teilt neben Gesprächen nun auch Kultur und tut dies mittendrin.
 
Wie steht es um die Büdchen im Ruhrgebiet, die vor gut 150 Jahren ursprünglich für den Verkauf von Mineralwasser entstanden und deshalb auch Trinkhallen heißen?
 
„Der traurige Untergang der Trinkhallen-Kultur“ titelte 2012 die Welt und beziffert die Zahl der  jährlich von der Landkarte verschwindenden Kioske auf 200, während sich der  Dortmunder Kioskclub um das Verschwinden eines gesellschaftlichen Gutes sorgt: "Die soziale Funktion ist ganz anders als bei einer Tankstelle. Am Kiosk plaudert man über dies und jenes, der Betreiber wird […] zum Bindeglied im Kiez. Von Vorübergehenden gern als Auffangbecken für Alkoholiker abgetan, schaffen Trinkhallen seit dem frühen 19. Jahrhundert ein Netzwerk für die eigene Nachbarschaft.“[3]
 
Ich bin fündig geworden bei meinen Recherchen und freue mich über den erhaltenen lokalen Tipp eines Freundes, dem ich von bud.ko erzählte. Seit 2012 gibt es sie, die Trinkhallen-Tour-Ruhr. Initiiert vom Bassklarinettenquartett „Die Verwechslung“ reisen die Musiker und deren Gäste jährlich für drei Wochen durchs Ruhrgebiet; greifen dabei bewusst auf die kleinen Büdchen und deren kommunikative Grundstruktur zurück, um „Geschichten für Menschen zu erzählen, die hier sonst ihre eigenen Geschichten erzählen.“[4] Dass der Eintritt frei ist,  Anrainer und Besucher aufgefordert sind mitzumachen, eigene Instrumente mitbringen oder sich anders einmischen, ist dabei selbstverständlich.
 
Sie könnten es also verstehen sich dauerhaft ins 21. Jahrhundert hinüber zu schmuggeln, die Büdchen – die budki;  und haben als partizipative Begegnungsorte- und Sehnsuchtsorte durchaus keine schlechte Prognose!

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[1] Maaz, Hans-Joachim 2008: Warum sind wir, wie wir sind? Zur kulturellen Prägung durch den Sozialraum DDR. Unter: http://www.kas.de/wf/de/33.14807/; abgerufen am 01.08.2015

[2] Tauschbörsen. Wer macht Reberthing? Holzhacken gegen Babysitten – neuerdings können auch Dienstleistungen getauscht werden. In: Der Spiegel, 24/1995. Unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9197997.html; abgerufen am 01.08.2015

[3] Schmitt-Tegge, Johannes 2012 : Der traurige Untergang der Trinkhallen-Kultur. Unter: http://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article108371523/Der-traurige-Untergang-der-Trinkhallen-Kultur.html; abgerufen am 01.08.2015

[4] Projektinfo „Trinkhallen-Tour-Ruhr 2015. Unter: http://www.trinkhallen-tour-ruhr.de/?page_id=17;    abgerufen am 01.08.2015