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Goethe Annual Lecture 2020
Das Ende des White Gaze

Sharon Dodua Otoo bei der Goethe Annual Lecture 2020
© Goethe-Institut

2020 eröffnete die Publizistin, Schriftstellerin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo die Goethe-Annual-Lecture-Serie. In ihrer Rede Eine Art von Morgen ehrt die Britin ihre literarischen Vorfahr*innen und Mentor*innen Toni Morrison, May Ayim, Bernardine Evaristo und Buchi Emecheta. Gleichzeitig prangert Otoo die strukturellen Defizite und den Rassismus an, die dafür sorgten, dass eben diese Autorinnen zu ihren Lebzeiten nicht das Lob erhielten, das sie eigentlich verdient hätten. Otoos Rede kommt zu einem wichtigen Zeitpunkt. Das Jahr 2020 war geprägt von der Black-Lives-Matter-Bewegung. Überall auf der Welt gingen Schwarze Menschen auf die Straße, um für ihre Rechte und gegen ihre anhaltende Diskriminierung zu kämpfen. Eine Diskriminierung, die sich auch im Literaturbetrieb und im Umgang mit Schwarzen Autor*innen wiederfindet.

Von Celia Parbey

Sharon Dodua Otoo hält ihre Rede in der Gemütlichkeit ihrer Berliner Wohnung. Der Verlauf dieses bizarren Coronajahres verlegte auch diese Veranstaltung 2020 in den digitalen Raum. Otoo lebt seit 2006 in der deutschen Hauptstadt. Neben ihren eigenen Publikationen wie Die Dinge, die ich denke, wenn ich höflich lächle, ist die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Otoo auch Herausgeberin der englischsprachigen Buchreihe Witnessed. Sie setzt sich seit Jahren gegen den Rassismus ein, unter anderem in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland.

Die ungeheuerliche Bedeutung unserer Ohren

„Denken Sie an die Größe Ihrer Ohren”, appelliert Otoo zu Beginn an ihr virtuelles Publikum. Ohren gibt es in allen Variationen und Formen, führt sie fort. Jetzt stellen Sie sich bitte einmal vor, die Größe ihrer Ohren würde über ihre Kompetenz entscheiden. Ein cleveres Gedankenspiel, mit dem sie ihr Publikum daran erinnert, dass willkürlich gewählte Faktoren die Wahrnehmung und die Stellung vieler Menschen in unserer Gesellschaft prägen. Die Britin ist eine begnadete Rednerin. Komplizierte Sachverhalte vermittelt sie in einfachen Konzepten.

„Ich identifiziere mich als Schwarz und schreibe dies mit einem großen ‚S’”, sagt Otoo. Was bedeutet das? Sie identifiziert sich mit anderen Mitgliedern der afrikanischen Diaspora, die sich gegen rassistische Unterdrückung wehren. Damit verweist sie auf eine Gemeinschaft und eine Solidarität über sprachliche Barrieren und Ländergrenzen hinweg: ‚Schwarz’ als politische und kulturelle Identität – keine vermeintliche biologische Realität. Genau diese Solidarität zeigte sich an den weltweiten Reaktionen auf die Ermordung des US-Amerikaners George Floyd. Von Berlin, über Lagos bis hin zu kleinen Afro-Türkischen Communitys, Schwarze Menschen protestierten für ihn und ihre eigene Befreiung.

Otoo weiß, ihre Hautfarbe ist nicht das Problem. Sie wird diskriminiert, weil Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe Vermutungen über ihren Charakter und ihre Fähigkeiten anstellen. Sie macht damit auf ein wichtiges Problem in der Anti-Rassismus-Debatte aufmerksam. Die Schuld der Diskriminierung liegt nicht bei rassifizierten Menschen, sondern bei den Menschen, die sie in die limitierenden Schubladen einer vermeintlichen „Rassenzugehörigkeit” hinein zwingen.

„Warum ist es unverzichtbar, dass wir uns als Gesellschaft mit diesen Themen beschäftigen”?

Die Britin verweist auf die USA, wo soziale Ungerechtigkeiten lange ignoriert wurden und  in den letzten vier Jahren gefährlich hoch kochten. Die USA als abschreckendes Vorbild, wo jahrzehntelange Versäumnisse sich nun rächen. Es reicht aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinge Richtung USA zu weisen, was in Deutschland populär ist. Das Problem, das sind stets die Anderen. Aber wie Otoo richtigerweise beschreibt, hielten rechtspopulistische Diskurse auch in Deutschland Einzug in die Mitte der Gesellschaft. Schwarze Menschen sterben an der Außenküste Europas. Dazu die Klimakrise, ganz zu schweigen von Covid-19 – eine Welt im Chaos.
 
Otoo spricht mit ruhiger Stimme. Ihre Worte sind eindringlich. Für die Autorin ist klar: Es braucht einen Systemwechsel. Dringend. Und Otoo weiß, was dafür getan werden muss: „Ich bin überzeugt, dass unsere Gesellschaft für uns alle humaner wird, wenn wir uns darauf konzentrieren, die Situation für diejenigen unter uns zu verbessern, die am meisten leiden.”

Eine übergroße Wissenslücke

Es sind Schwarze Frauen, insbesondere queere Schwarze Frauen, die seit jeher das Rückgrat weltweiter antirassistischer Bewegungen und Initiativen sind. Das gilt auch für Deutschland. Die Afro-Deutsche Bewegung wurde unter anderem von den queeren Aktivistinnen Katharina Oguntoye, Peggy Piesche und Audre Lorde gegründet. Trotz ihres wichtigen gesamtgesellschaftlichen Inputs wird ihnen bis heute in der akademischen Welt sowie im Verlagswesen und anderen Branchen nur eine Nebenrolle zugestanden - wenn überhaupt.
 
Dieses Defizit wirkt sich auf viele Wissensbereiche und auf die gesamte Kultur aus dem afrikanischen oder afrodiasporischen Raum aus. Die Narrative beginnen und endeten meist mit dem Kolonialismus und der Sklavenzeit. Dass Otoo hier auch explizit afrikanische Literatur erwähnt, ist keine Selbstverständlichkeit. Zu oft wird sie im allgemeinen Diskurs um Schwarze Literatur vergessen.

In diesem Kontext kann die Literatur für Schwarze Communitys ein entscheidendes Mittel sein, mit dem sie ihre eigenen Geschichten schreiben und verlorene Narrative zurückerobern. Der nigerianische Autor Chinua Achebe gilt in der Hinsicht als Pionier. Sein Roman Things Fall Apart eröffnete Otoo und vielen anderen einen Einblick in die vorkoloniale Geschichte westafrikanischer Gesellschaften. Bücher, die weiße Menschen über Afrika schrieben, konzentrierten sich lange Zeit auf die vermeintliche Wildheit dieses angeblich so dunklen Kontinents.

Toni Morrison, May Ayim, Bernardine Evaristo und Buchi Emecheta

Genau wie ihre schriftstellerischen Vorbilder beschreibt auch Sharon Dodua Otoo Schwarze Lebensrealitäten für Schwarze Menschen. Mit Werken wie Die Dinge, die ich denke, wenn ich höflich lächle, und dem Roman Adas Raum prägt sie die Schwarze deutsche Literaturgeschichte. Sie schenkt jungen Schwarzen Menschen ihre eigene Repräsentation. Sie erlaubt ihnen gesehen zu werden. Denn es gibt weltweit einen Mangel an Wissen über Schwarze Kultur auch unter Schwarzen Menschen. Otoo schreibt für Schwarze Menschen, um dieses Ungleichgewicht zu korrigieren. Wie Toni Morrison ist ihr bewusst, dass die weiße Vorstellungskraft, der sogenannte White Gaze, jahrhundertelang Kulturproduktionen jeglicher Art prägte und immer noch prägt. Mit dieser Tradition bricht sie in ihren Werken. Die deutsche Literaturszene braucht Menschen wie sie. Menschen, die sich trauen, außerhalb der vorgegebenen Norm zu schreiben, damit echte strukturelle Veränderung nicht weiter Wunschdenken bleibt. 

So tat es auch die Afro-Deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin May Ayim, die Otoo in ihrem Schreiben ebenfalls stark beeinflusste. 1984 veröffentlichte diese im Kollektiv mit weiteren Schwarzen Frauen das Buch Farbe Bekennen. In wissenschaftlichen Texten, Lyrik und autobiografischen Erzählungen schufen sie mit der Anthologie ein Zeugnis Schwarzer Lebensrealitäten in Deutschland.

Wegbereitend und doch unsichtbar

Wie fast alle Branchen in Deutschland hat auch das Verlagswesen ein strukturelles Rassismusproblem. Es gibt kaum Schwarze Menschen, die in deutschsprachigen Verlagen arbeiten. Egal, wohin Schwarze Autor*innen sich wenden, ob an Literaturhäuser oder Literaturagent*innen, die Branche ist weiß und lässt es sie auch spüren. So berichten Autor*innen, wie sie immer wieder dazu angehalten werden, die „Blackness“ ihrer Protagonist*innen herunter zu spielen. Sie erzählten, dass sie oft aufgefordert werden, ihren Schwarzen Protagonist*innen doch wenigsten eine weiße Person an die Seite zu stellen, damit eine weiße Leser*innenschaft sich mit dem Werk identifizieren kann.

Otoo preist die britische Publizistin Bernardine Evaristo als ihre Mentorin. Diese fordert, sich nicht nur um das eigene kreative Schreiben zu kümmern, sondern auch Auswirkungen auf die Gesamtgesellschaft zu berücksichtigen. Literatur als eine Art Auftrag und vielleicht auch ein Versprechen an kommende Schwarze Generationen.

Ein Auftrag, den auch die Autorin Buchi Emecheta erfüllte, die 1962 aus Nigeria nach Großbritannien kam. Für die Aktivistin ist Emecheta eine feministische Autorin, auch wenn sie sich selber nicht so bezeichnet hätte. Was Otoos literarische Vorbilder eint, ist es, eine Haltung zu haben. Sie alle strebten danach, die Gesellschaften, in denen sie leben, zu verändern. Dafür steht auch Sharon Dodua Otoo. Sie erklärt abschließend, als Schriftstellerin fühlt sie sich manchmal machtlos. Sie kann den strukturellen Rassismus nicht alleine beenden, aber vielleicht muss sie das auch gar nicht. Denn sie inspiriert andere junge Schwarze Autor*innen ihre Sicht auf die Welt aufzuschreiben und mit anderen zu teilen. Genau wie ihre literarischen Vorbilder ist sie eine Pionierin, da sie Zeugnis ablegt über die unzähligen Arten, wie Rassismus auf uns alle wirkt. „Ich kann meine Literatur nutzen, um sie in den Dienst Schwarzen Lebens zu stellen, damit wir eine Zukunft haben”.

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