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Pavel Klusák, Tschechien
Scott Walker: The Electrician

Wenn Pavel Klusák den Song „The Electrician“ hört, wandert er in einem Zwischenraum von zwei Grenzen und erlebt an diesem Ort Geheimnisse aber auch klare Botschaften: Und das sind die, nach denen er sich am meisten sehnt.

Dunkle Lieder kommen oft aus dem Raum zwischen Skepsis und der Fähigkeit des Geschichtenerzählers, über die Zweifel nachzudenken. Ich glaube, dass der Raum zwischen zwei Welten, wie eine Tür zwischen zwei Zimmern, ein guter Ort ist, um nach einem „Song für Europa“ zu suchen. Scott Walker war einer der schillerndsten Popmusiker. Ich habe jahrelang immer wieder seine Aufnahmen gehört, teilweise weil es unmöglich ist, sie vollständig zu begreifen. Und auch, weil seine Klangwelt und sein Schönheitsbegriff woanders nur schwer zu finden sind. Ich fühlte mich geehrt, als man mich bat, eine Einführung zu dem Dokumentarfilm „30 Century Man“ über Scott Walker beim Karlovy Vary International Filmfestival zu halten. Ich wollte mit ihm sprechen, aber Walker wollte nicht im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Im März 2019 dann, zwei Wochen bevor ich diesen Artikel schrieb, ist Walker gestorben.
 


Sein Schicksal führte ihn in mehrere ganz unterschiedliche Welten. Der Song „The Electrician“ scheint treffend in der Mitte von miteinander verbundenen Grenzen zu stehen, in den Zwischenräumen, die von mehreren „kulturellen Europas" berührt werden, die nur selten im selben Moment erlebbar sein können.
Walker war ein Amerikaner, lebte aber seit 1965 in London, wo er es genoss, von verrückten Teenagern angehimmelt zu werden. Ich stelle mir seine Karriere als Popmusiker der 1960er-Jahre vor: Von den Love-Songs  mit seinem klaren Bariton, der durch die wöchentlichen Charts schwang, bis zu seiner TV-Show mit eigenem Orchester. Es war eine glänzende Karriere, vor allem, wenn er dabei junge Zuhörer mit den älteren Fans des französischen Chansonniers Jacques Brel verband, dessen Chansons Walker auf Englisch interpretierte. Ich versuche mir auch vorzustellen, warum er diese strahlende Karriere dann komplett abbrach.

„Stellen Sie sich vor, Andy Williams würde sich als Stockhausen neu erfinden“, schrieb der Guardian später, als Walker nach Jahren der Stille wieder auftauchte, mit Songs, die an ganz verschiedenen Orten entstanden waren. Mit rastlosen Klangexperimenten stellte sich Walker nun als Avantgarde-Künstler ganz ohne Pop-Ambitionen vor. Sein einziges Interesse bestand nun darin, seine eigene Musik zu machen, Inspirationen und Techniken so zu kombinieren, dass das zum Ausdruck kam, was er tief in seinem Inneren hörte oder fühlte.

In einem Aufnahmestudio schlug Walker einmal mit Boxhandschuhen auf rohes Fleisch, was zeigt, wie kompromisslos er mit der Vorstellung seiner späteren, dunkleren Musik geworden war. Es hat mir gefallen, dass dieser „David Bowie of Art Music“ beauftragt wurde, einen Song für einen Bond-Film zu schreiben, die Produzenten sich aber nicht trauten, seine Komposition zu verwenden. „The Electrician“ repräsentiert genau den Moment, in dem die Pop-Ära von Scott Walker sich aufgelöste und eine neue Welt entstand. Auch wenn man ein Songformat und ein Streichorchester hören kann, was kann man sich darunter vorstellen, wenn man den Text hört „heute Abend durch den Spiritus Sanctus bohren“? Das dunkle Summen der Melodie steht in Einklang mit den schwer zu enträtselnden Texten: Sie berichten von Folterungen, die im offiziellen Interesse des Staates vollzogen wurden, genau wie es damals durch die amerikanische CIA geschah. Aber das Lied handelt nicht von den USA: Es geht um die enge persönliche Beziehung zwischen einem Folterer und seinem Opfer. An einer Stelle passiert in dem Song etwas ziemlich Unerwartetes. Ein dunkler, bedrohlicher Sound weicht dem Licht, ein Streichorchester erstrahlt mit einer zauberhaften Melodie. Es ist, als ob der Schmerz und die Dunkelheit zurückgewichen sind – sie sind nicht dauerhaft hier. Der Song endet jedoch mit einer weiteren Portion Dunkelheit, die den Staffelstab des Lichts quasi übernimmt. Er schildert den wellenförmigen Kontrast zwischen Dunkelheit und Licht und erinnert uns daran, dass selbst in einer Geschichte über eine dunkle lange Nacht Platz für einen strahlenden Schimmer Hoffnung vorhanden ist.

Deshalb kehre ich immer wieder zu „The Electrician“ zurück, einem Song aus dem Grenzland, genau wie Scott Walker selbst. An der Grenze zwischen Dunkelheit und Licht, zwischen Kunst und Pop, zwischen direkten Kommentaren und unbegrenzter Poesie. Die Grenzlinie zwischen einem unverständlichen Geheimnis und der klaren Botschaft, nach der wir uns gesehnt haben.
 

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