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Géraldine Schwarz, Frankreich
Pink Floyd, The Wall

Wir Europäer haben es weit gebracht. Unsere Erinnerungen und Träume sind zwar bruchstückhaft und manchmal widersprüchlich, aber hinter dem Nebel der Diversität verbirgt sich ein Fels aus geteilten Erfahrungen. Während einer Nachtbusfahrt nach Berlin hört Géraldine Schwarz den Titel The Wall von Pink Floyd,

Eine Nachtbusfahrt nach Berlin im Juni 1990. Leises Gemurmel und unterdrücktes Lachen vermischen sich mit dem dumpfen Brummen des Motors. An Schlafen ist nicht zu denken. Berlin! Wir, die deutsch-französischen Schüler des Lycée International, waren unterwegs nach Berlin! Mit dem Walkman hörte ich den Titel The Wall von Pink Floyd, mit seinen Hubschraubergeräuschen, dem endlos klingelnden Telefon und dem Klang einer schrillen E-Gitarre sowie den aufrührerischen Worten „We don't need no education, we don’t need no thought control... Teachers, leave them kids alone!” Dieses Album aus dem Jahr 1979 entstammt der Feder des Singer-Songwriters Roger Waters, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Es erzählt die Geschichte von Pink, der seinen Vater in jungen Jahren verloren hat und der um sich herum eine Mauer zum Schutz vor der Gesellschaft und der Schule errichtet, weil diese ihn von sich selbst entfremdet. Pink Floyd sollten The Wall zur Feier des Endes des Kalten Krieges einen Monat nach unserem Besuch in Berlin dort aufführen, wo einst die Mauer verlief. Am 9. November 1989 hatte ich die im Fernsehen übertragenen Bilder der Menschenmassen gesehen; Menschen, die einander um den Hals fielen, die weinten und lachten, während sie jener Mauer mit Werkzeugen zu Leibe gingen, die sie über Jahrzehnte hinweg voneinander getrennt hatte. Es war eine Revolution, die glücklicherweise ohne Blutvergießen auskam.
 
Heute lebe ich in Berlin –  wie ich diese Stadt liebe. Ich kenne ihre Wunden als wären es meine eigenen. In meiner Straße in Kreuzberg erinnern Stolpersteine – in Gehwege eingelassene quadratische Gedenktafeln aus Messing – an die Tragödie der ehemaligen Bewohner, die deportiert wurden, weil sie Juden waren. Nur 100 Meter von meiner Haustür entfernt hatte die Mauer die Straße in zwei Hälften getrennt. Hinter ihr befand sich damals die militarisierte Zone und auf der anderen Seite lag die DDR. Heute verläuft hier ein schöner Fußweg durchs Grüne, der immer im Frühling von Fliederduft erfüllt ist.
Wir Europäer haben es weit gebracht. Unsere Erinnerungen und Träume sind zwar bruchstückhaft und manchmal widersprüchlich, aber hinter dem Nebel der Diversität verbirgt sich ein Fels aus geteilten Erfahrungen. Wir waren Zeugen eines Totalitarismus, der menschliche Identitäten zerstört, Menschen terrorisiert, geblendet und manipuliert und der sie zu einer Armee aus Klonen verwandelt hat, die im Dienste einer mörderischen und zielgerichteten Ideologie agierte. Sowohl im Osten als auch im Westen haben wir Leid erfahren, wir haben aber auch die Gleichgültigkeit der Menschen gegenüber den Gefahren des Konformismus, des Wegsehens und des Opportunismus gespürt. Lassen Sie uns die Erinnerung an unsere eigene Fehlbarkeit am Leben erhalten und sie dazu nutzen, uns gegen diejenigen zu wappnen, die die Geschichte missbrauchen – gegen die Hausierer mit ihren falschen Identitäten und ihrem Hass, die das Europa von heute vergiften. Unser Kontinent hat den Totalitarismus zweimal besiegt, nämlich 1945 und 1989. Er hat Demokratien hervorgebracht und es gelang ihm, die Würde seiner Bürger wiederherzustellen. Lassen Sie uns den Stolz der Erinnerung an diese Triumphe erneut zum Leben erwecken.
Es gibt sie, die Kräfte, die die Vergangenheit auslöschen wollen. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass sie Europa abermals in ein mit nationalen Egoismen und Intoleranz zwangsernährtes Monster verwandeln, denn solche Monster können ganze Zivilisationen zerstören. Lassen Sie uns den Stolz der Europäer auf unser reiches und vielseitiges ethnisches und religiöses Erbe wiederherstellen, damit sie jene bekämpfen, die dieses Erbe auslöschen würden. Opfer der Geschichte werden wir nie wieder sein. Jedem von uns kommt dabei eine wichtige Rolle zu.
 
 

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