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Deutschlands Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union 2020
Über Brexit hinaus: Britische Visionen einer europäischen Zukunft

Erzähle mir von Europa - London
© Goethe-Institut | Design: Groupe Dejour

Von Eliza Apperly

Unser Land ist nicht wie eures
Nicht mehr
Vor Jahren
Sanften und langsamen und schleichenden Jahren
Beschlossen wir, ohne Schönheit auszukommen.
Ganz gewöhnliche kleine Leute
Kamen wir überein, kleiner zu sein
Nicht auf einmal
Nur dieses sanfte und langsame Schleichen.
– AL Kennedy: An Europa, an einem Morgen irgendwann

Als das Goethe-Institut London die Abschlussveranstaltung seiner Reihe „Erzähle mir von Europa“ organisierte, lag der Schwerpunkt auf der Zukunft. Frühere Programme, darunter eine Sammlung von Interviews mit vor 1945 geborenen Europäer*innen, hatten die prägenden Erfahrungen und Ideale des Projekts Europa untersucht. Jetzt, 29 Tage vor Großbritanniens endgültigem Abschied aus der Europäischen Union, wurden die Schriftstellerin AL Kennedy, der Künstler und Autor Edmund de Waal, Baronin Mary Goudie, Labour-Mitglied des britischen Oberhauses, die Verlegerin Sharmaine Lovegrove und die Kuratorin Niloo Sharifi gebeten, sich die nächste Iteration von Europa vorzustellen – und welche Rolle Großbritannien nach dem Brexit darin spielen könnte.
 
„Es ist mir ein Herzensanliegen“, erklärte Moderatorin Rosie Goldsmith, „Sie dazu zu inspirieren, nach vorne zu schauen.“ Aber es war schwierig. Trotz aller zukunftsorientierten Fragen neigten die Diskussionsteilnehmer*innen, die den Brexit allesamt klar ablehnten, stattdessen dazu, über den jetzigen Zeitpunkt oder seine historische Entstehung nachzugrübeln.
 
In einer exklusiven Lesung trug Edmund de Waal einen Auszug aus seinem neuen Buch Letters to Camondovor vor, einer Reihe imaginärer Briefe an seinen jüdisch-französischen Verwandten Moise de Camondo, der von Konstantinopel nach Paris zog und dem französischen Staat seine Kunstsammlung vermachte. Im Nachdenken über Moises Umsiedlung reflektierte de Waal über seine eigene hybride Identität – „halb Engländer, ein Viertel Holländer, ein Viertel Österreicher – und ganz und gar Europäer“ und den Kampf darum, sich gegen alle Wechselfälle der Geschichte und die Auferlegung von Grenzen zugehörig zu fühlen. Darin, so merkte de Waal an, sei Europa ein „bemerkenswertes, generatives, positives, tragendes Konzept als die Heimat vieler Menschen.“
 
Für Sharmaine Lovegrove markiert der Brexit die „sichtbarste und offenste“ Wunde in Großbritanniens Geschichte rassistischer und kolonialer Gewalt. Er bedeute „die Schaffung von Grenzen in einem Land, das Grenzen, Kulturen, Rechte bewusst ignorierte.“ Unter Hinweis auf eklatante Lücken in Bezug auf Kolonialismus, Sklaverei und Schwarze Geschichte in den britischen Lehrplänen beschrieb Lovegrove das Weltreich als anhaltenden Grund zu britischem Nationalstolz statt zu einer Abrechnung.
 
Baronin Mary Goudie teilte ähnliche Bedenken hinsichtlich der Schieflage oder des blanken Fehlens von geschichtlichem Wissen. Was die länderübergreifenden Themen angehe, die ihr am Herzen lägen – Frauenrechte und Armutsbekämpfung –, so müssten Lösungen ihre Wurzeln ebenso sehr in diesem geschichtlichen Wissen haben sowie auf einer grenzübergreifenden Basis entwickelt und umgesetzt werden. „Wir müssen global bleiben, sonst sind wir verloren“, schloss sie.
 
Mit einem Vortrag aus ihrem jüngsten Gedicht An Europa, an einem Morgen irgendwann blickte AL Kennedy zu einem fernen Morgen voraus, aber einem, der zahlreiche Abwesenheiten beleuchtete, mehr als Form.
 
Witze ohne Hass in den Zähnen
Bleiben unausgesprochen.
Die praktische Liebe, die Schönheit für Fremde produziert
Weil sie es womöglich wert sein könnten,
Schönheit für andere, die zu anderen Schönheiten führt,
Das ist Luxus, Dekadenz. Verseuchung.

In dieser Darstellung eines eingeschränkten und abgestumpften Großbritanniens ist Kunst ausgeweidet, Wissen eingeebnet.
 
Und die Schriftsteller
Machen den Mund zu
Schließen die Bibliotheken.
Verstecken die Bildung.
Verklären unseren Mangel an Klarheit.
In Ermangelung von Prosa
Haben wir Lügen und anstehende Verletzungen,
Schlecht formuliert.

Aber letzten Endes waren es für viele der Diskussionsteilnehmer*innen nur Kunst und Bildung, in denen sich die Idee und die Ideale von Europa womöglich erhalten ließen. Sharmaine Lovegrove beschwor die zentrale Bedeutung des Geschichtenerzählens als Weg zur Durchbrechung realer oder wahrgenommener Grenzen und zur Eröffnung „umfassender Gespräche über Kultur, Rasse, Gesellschaft.“
 
Baronin Goudie rief zu einer Neubelebung des Austausches auf, inklusive einer erneuerten Verpflichtung zu Sprachunterricht und Sprachenlernen. Digitale Technologie ist für sie dabei aus diesen Prozessen und Möglichkeiten nicht wegzudenken. „Jedes Kind sollte Internetzugang haben. Das sollte Teil der Schulbildung jedes Kindes, Teil jedes Etats sein.“ Auch de Waal drängte zu einer Beibehaltung grenzübergreifender Begegnungen, sei es mit Buchläden, Theatern, Verlagen oder Galerien. „Das ist unsere Verantwortung als Dichter*innen, Kreative, Politiker*innen“, erklärte er, „Gesprächspartner*innen in Europa zu finden, die Menschen ausfindig zu machen, die reden wollen.“
 
Für Sharifi, die Simone Weils „die Liebe bedarf der Wirklichkeit“ zitierte, muss eine europäische Vision auf kritischem Denken sowie auf einem umfassenden Verständnis von und einer Gelegenheit zur Teilhabe basieren. „Dinge tun zu wollen, ist eine Manifestation des menschlichen Geistes“, merkte sie an. „Das beschränkt sich nicht allein auf Menschen, die mit bestimmten Kunstformen vertraut sind.“ Genau wie Goudie sieht auch Sharifi das Internet als entscheidende und weithin zugänglichere Plattform für länderübergreifendes Wissen und Begegnungen.
 
Unter Bezugnahme auf ihre Erfahrungen als Gesundheitspflegerin beharrte Kennedy zudem auf der Universalität von Kreativität und ihrer Bedeutung in der frühen Kindheit – ob es sich dabei um Ballett oder Commedia dell’Arte handelt, oder darum, Puppen aus Strümpfen zu basteln. De Waal, der verschiedene Projekte unterstützt, die „Unordnung in die Grundschulen zurückbringen”, unterstützte diese Leidenschaft für das Machen als integralen Weg zu Mitspracherechten und Austausch. „Die Zusammenstreichung der Kunstlehrpläne war erschreckend“, kommentierte er, „aber das ist etwas, das sich durchaus rückgängig machen lässt.“
 
De Waal, der sich schon im Alter von fünf Jahren für Keramik zu interessieren begann, diente die japanische Kunst des Kintsugi als Leitbild. Übersetzt als „Goldflicken“, ist Kintsugi ein Reparaturvorgang, bei dem die Risse in zerbrochener Keramik mit einem Lack versiegelt werden, der Goldstaub enthält.
 
„Die goldene Linie markiert den Verlust, sie markiert den Bruch. Es geht nicht darum, ihn auszulöschen oder so zu tun, als wäre das Schreckliche nicht passiert. In mancher Hinsicht werden die nächsten Jahre ein Prozess des Kintsugi sein, es wird darum gehen, schmerzhaft, sichtbar zu flicken, den Verlust oder den Schaden nicht auszulöschen, aber dennoch daran zu arbeiten, etwas weiterzugeben.“

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