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Piroska Bakos
Pendlerinnen

Bakos Piroska | Pendlerinnen
Foto: Kata Geibl © Goethe-Institut Budapest

Zwei junge Ungarinnen. Beide pendeln seit einiger Zeit täglich nach Österreich in die Arbeit. Sie kommen aus unterschiedlichen Teilen Ungarns und auch ihre Geschichten unterscheiden sich, doch eine Sache haben sie gemeinsam. Sie haben ihren Arbeitsplatz gewechselt, weil sie der Ansicht waren, dass sie ein besseres Gehalt und mehr Wertschätzung verdienen, als sie sie in Ungarn bekommen haben.
 
Ich bin als angelernte Arbeiterin tätig. Ich serviere Frühstück in einem namhaften österreichischen Hotel. Ich hatte nicht erwartet, dass ich mit 43 Jahren und zwei Diplomen so eine Arbeit ausüben würde. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich in diesem Alter mittlerweile Abteilungsleiterin sein würde und meine Ideen verwirklichen könnte. Das hat nicht geklappt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man das als Scheitern bezeichnen kann. Schließlich hat meine Arbeit im Ausland so viel Gutes in unser Leben gebracht.
 
Das ist die Kurzversion der Geschichte von Renáta aus Fertőd, die eigentlich immer in Ungarn in ihrem erlernten Beruf erfolgreich sein wollte. Sie ist Gartenbauingenieurin und legte darüber hinaus die Fremdenführerprüfung ab. Sie war glücklich, als sie gleich nach der Hochschule eine Anstellung als Tourguide bei einer staatlichen Naturschutzorganisation in der Nähe von Sopron bekam. Sie wurde von der Firma wieder zur Schule geschicktund arbeitete dann als Fachreferentin für Tourismus. Dennoch konnte sie die Rangleiter nicht höher klettern, weder hier noch an ihrem darauf folgenden Arbeitsplatz, in einem Schlossmuseum. Deshalb gab sie schließlich vor drei Jahren ihre Träume auf und ging nach Österreich, um dort körperliche Arbeit zu verrichten.

Renáta Renáta joggt oder fährt gerne Fahrrad in ihrer Freizeit. | © Piroska Bakos
Wir befanden uns zwar in keiner finanziellen Notlage, aber wir hatten schon mit der Tilgung von Krediten zu kämpfen. Wir wollten, dass es vorangeht. In unserem Umfeld sahen wir, dass Leute, die zum Arbeiten über die Grenze nach Österreich fuhren, und sei es nur zum Putzen, dass sie sich ein viel besseres Leben leisten konnten als mein Mann und ich. Wir traten mit unseren Diplomen und Beamtengehältern einfach auf der Stelle. Wir konnten uns keinen neuen Schrank kaufen oder mit dem Ausbau des Dachbodens beginnen, wir mussten uns zweimal überlegen, ob wir mit unseren beiden Söhnen am Wochenende in den Zoo nach Győr fahren, immerhin gehen da Eintritt und Benzin schon ins Geld.
 
Im Zuge des Gesprächs stellt sich schnell heraus, dass Renáta während ihrer 19-jährigen beruflichen Tätigkeit in Ungarn nicht lediglich der ständige Kampf ums Überleben zu schaffen machte, sondern vielleicht sogar vielmehr die Tatsache, dass trotz ihrer Ideen und erfolgreichen Projekte nicht sie es war, die die Lorbeeren erntete, die belohnt oder befördert wurde. „Oftmals waren es die Protegés und Talentlosen, die gut wegkamen”, sagt sie mit unterdrücktem Unmut. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge. Wahrscheinlich kamen ihre Vorgesetzten gerade damit nicht gut zurecht.
 
An meinem ersten Arbeitsplatz geriet ich in ein von männlichem Chauvinismus geprägtes Umfeld. Ich war gerade Mitte zwanzig, meine Mitarbeiter tadelten mich andauernd. Das Mundwerk der Männer dort und ihre widerlichen Kommentare haben mich ungemein abgehärtet. Was will diese Frau hier? Die soll schön Kinder gebären! Und zuhause bleiben! Sie sollte die Familie zusammenhalten und nicht Karriere machen wollen, was denkt sich die eigentlich?! Diese Auffassung habe ich gar nicht verstanden ...
 
Schön langsam brachte die Sisyphusarbeit dann aber Früchte. Ich hatte mir in der Umgebung einen Namen gemacht und genoss einen gewissen Rang. Alle, die in der Tourismusbranche arbeiteten, wussten, dass sie sich an mich wenden mussten, denn ich würde helfen können. Und das habe ich sehr wohl als Erfolg verbucht. Jahrelang wartete ich auf die Ernennung zur Gruppenleiterin, doch dieses Warten hat schlussendlich so sehr an mir gezehrt, dass ich, als man mir 2015 eine Stelle als Marketing-Abteilungsleiterin im nahe gelegenen Schloss anbot, zugesagt habe. Ich dachte, ich könnte in meiner Rolle als Promoterin von spannenden Kulturprogrammen endlich so richtig aufgehen. Wie gewohnt brachte ich meine immer neuen Ideen ein, doch entweder durfte ich sie nicht verwirklichen oder wenn doch, dann bereicherten sich andere daran, und über mich und mein Beamtengehalt wurde hinter meinem Rücken gelacht. Das nagte verdammt an meinem Selbstwertgefühl. Ich wusste, dass ich auch hier wegmusste. Zu diesem Zeitpunkt ergab sich die Jobmöglichkeit in einem Hotel im Burgenland.
 

Ich gehe mit einem guten Gefühl in die Arbeit, und das ist es mir alles wert.

Aus ähnlichen Gründen entschied sich auch die 28-jährige Bianka gegen Budapest und für Wien. Sie hatte genug davon, dass sie über Jahre hinweg nur wenig verdiente und für ihre gute Arbeit keine Anerkennung erhielt. Die junge Frau aus Dunakeszi besuchte die Hochschule für Rechnungswesen und machte im Anschluss sogar ihren Master. Sie konnte gute Englischkenntnisse vorweisen und ergatterte so eine Anstellung als Buchhalterin bei einem multinationalen Unternehmen in Budapest.
 
Der Morgen startete mit den Chinesen, der Abend endete mit den Amerikanern. Rund um den Monatsabschluss gab es immer ein paar Tage, an denen ich erst um Mitternacht oder noch später aus der Arbeit wegkam. Mein Chef bestellte Pizza für mich und die Firma zahlte mir das Taxi, aber das reichte mir nicht. Ich bin vielleicht jung, aber nicht dumm, – erklärt sie bestimmt. – Ich denke, wir Ungarn sind in den Augen der Multis billige Arbeitskräfte, deshalb scheren sich die Manager nicht darum, ob es ihren Angestellten gut geht oder nicht. Die Chefs stehen nicht für ihre Leute ein, und die Angestellten würden einander für eine bessere Position kaltmachen.
 

Bianka hatte eine Wohnung gemietet, weshalb sie sich nicht viel von ihrem Gehalt beiseitelegen konnte, und so viel schon gar nicht, dass sie für ihre Zukunft hätte vorsorgen können. – Da hätte ich auch gleich Verkäuferin werden können. Ich weiß, das ist auch kein einfacher Job, aber dafür hätte ich keine zwei Hochschuldiplome gebraucht – sagt sie mit einer gewissen Empörung in der Stimme. Also machte sie kurzen Prozess und gab ihren Lebenslauf einem in Österreich arbeitenden Verwandten und bekam von einem multinationalen Unternehmen in Wien kurz darauf eine Stelle als Buchhalterin angeboten. Sie nahm die Stelle an und zog nach Sopron. Ihre Wahl fiel deshalb auf Sopron, weil sie sich dort die Miete im Gegensatz zu Wien leisten kann. Das Ganze ist nun knapp ein Jahr her, seither pendelt sie täglich mit dem Zug zwischen den beiden Städten, und am Wochenende hetzt sie dann nach Budapest, denn sie hat in der Zwischenzeit eine weitere Ausbildung begonnen. Und sie hat es nicht bereut.
 
Ich gehe mit einem guten Gefühl in die Arbeit, und das ist es mir alles wert. Ich habe einen eigenen Aufgabenbereich und man traut mir zu, dass ich meine Aufgaben gut meistere. Und was besonders wichtig ist: Die Gewerkschaft hier in Österreich ist sehr stark. Sie setzt sich tatkräftig dafür ein, dass wir den versprochenen zusätzlichen freien Tag und das 13. und 14. Monatsgehalt auch wirklich bekommen. Sie engagiert sich dafür, dass immer mehr Arbeit auch im Home-Office erledigt werden kann, außerdem steht hier die 38-Stunden-Woche auf der Tagesordnung. In Wien ist es natürlich unvorstellbar, dass ich bis Mitternacht im Büro bleibe! Wenn die Glocke zweiundzwanzig Uhr schlägt, wird das gesamte Bürogebäude geschlossen.
 
Natürlich hat alles auch seine Schattenseiten, auch darüber sprechen Renáta und Bianka offen. Beide sind bereits um fünf Uhr morgens auf den Beinen – an das frühe Aufstehen kann sich keine der beiden gewöhnen. Das Pendeln geht zu Lasten ihrer Freizeit, Bianka kostete es beinahe ihre Beziehung.
 
Mein Partner pendelt ebenfalls, interessanterweise bleibt ihm jedoch mehr Zeit, da er mit dem Auto fährt und flexiblere Arbeitszeiten hat. Ich arbeite immer achteinhalb Stunden – die halbe Stunde ist Mittagspause –, die Zugfahrt dauert pro Richtung zwei Stunden. Meistens komme ich um acht Uhr abends nach Hause. Zuhause muss dann noch gekocht und geputzt werden, mir bleiben nur einige wenige Stunden für Sport oder meinen Partner. Damit kommt er nur schwer zurecht. Die Arbeit im Ausland ist für mich wie ein großes Abenteuer. Ich habe es deshalb gewagt, weil ich es für wichtig halte, dass man seine Träume zumindest teilweise verwirklicht und so in Einklang mit sich kommt. Aber ich versuche, nicht zu groß zu träumen. Immerhin bin ich die Frau. Damit will ich nicht sagen, dass ich zuhause am Herd bleiben sollte, aber wenn ich einmal eine Familie habe, muss ich mich entscheiden, und dann werde ich meine Vorstellungen von der großen Karriere mit Sicherheit für die Familie aufgeben.

 
Renáta hat (sozusagen) Glück. Ihr Mann kümmert sich morgens problemlos um die Kinder und hilft, wo er kann. Dafür hatte Renáta mit dem merkwürdigen Wissen zu kämpfen, dass sie als Intellektuelle physische Arbeit verrichtet. Im Hotel in Österreich hat sie im ersten Jahr Zimmer geputzt. Die erbarmungslose „Gladiatorenausbildung” – wie sie es nennt – hat Renáta oft zum Weinen gebracht. Dann stellte sich heraus, dass ihr älterer Sohn im Hort nicht gut zurechtkommt. Deshalb musste sie einen Teilzeitjob finden, um am Nachmittag mit ihm zuhause lernen zu können. Also wechselte sie zum „Frühstück”.
 
Ich habe den ganzen Sommer ohne freies Wochenende durchgearbeitet, dafür gehört uns jetzt der ganze Nachmittag und wir können mit den Kindern alles Mögliche unternehmen. Das war für unsere Familie ein großer Fortschritt in punkto Lebensqualität. Aufgrund meines Tourismus-Diploms ist mein Lohn etwas höher, insgesamt bekomme ich für meine Beschäftigung im Ausmaß von 30 Wochenstunden 1060 Euro. Für dieses Geld sind Österreicherinnen und Österreich nicht gewillt zu arbeiten, aber für mich ist das ein solides Gehalt.
 

Ihr Temperament und ihre Flinkheit bedeuten für Renáta in Österreich einen großen Vorteil. Ich arbeite wie eine Wahnsinnige. – sagt sie von sich. Es überrascht wohl nicht, dass dies dort auch honoriert wird.
 
Vor kurzem habe ich begonnen, in einem Tourismusprojekt in der österreichisch-ungarischen Grenzregion zu arbeiten, in erster Linie als Fachübersetzerin, denn ich hatte die geistige Arbeit schon vermisst. Im Hotel habe ich Urlaub zu Fortbildungszwecken beantragt. Wollen Sie wissen, mit welchen Worten mein österreichischer Chef mir den Urlaub genehmigt hat? Er sagte, Renáta, Sie sollen Ihren Urlaubstag bekommen, denn ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit. Das hat – und an dieser Stelle gerät ihre Stimme für einen Moment ins Stocken – noch nie zuvor jemand zu mir gesagt. Niemand. Niemals. Dabei mache ich doch nur meine Arbeit. Und da kann jetzt jeder selbst entscheiden, wie er diese Arbeit verbucht. Als Erfolg? Oder als Scheitern?
 
Es war dann Renátas Mann, der schließlich eine Führungsposition bekam. Das ist vielleicht auch besser so – sagt Renáta, – denn so kann ich mich mehr um die Familienangelegenheiten kümmern. Ihre beiden Söhne möchte sie zu familienorientierten Männern erziehen. Ich habe so viele schlechte männliche Vorbilder gesehen, ich will meinen Söhnen beibringen, dass sie Frauen lieben und respektieren sollen. Es sollte ihnen nichts ausmachen, den Geschirrspüler auszuräumen oder den Staubsauger in die Hand zu nehmen, so wie das auch ihr Vater tut.
In zehn Jahren, wenn sie und ihr Mann bis dahin etwas Geld beiseitelegen können, würde sie gerne Heil- und Gewürzpflanzen anbauen. Dafür würde sie gerne ihr eigenes Unternehmen gründen, in dem sie die Möglichkeit hätte sich selbst zu verwirklichen. Doch Karriereträume hat sie keine mehr. Nun ja, jetzt bin ich wieder zurück in der klassischen weiblichen Rolle, nämlich in der der Hausfrau. Ich wollte nie nur Hausfrau sein, ich wollte viel mehr als das tun. Mittlerweile steht jedoch die Familie an erster Stelle. Aber vielleicht mache ich mir auch selbst was vor, wer weiß ... – formuliert sie von sich aus ihre Dilemmata. Dennoch schließt sie mit den folgenden Worten: Grundsätzlich bin ich zufrieden mit meinem Leben. Ich mag es, wie wir jetzt leben.

Grenzübergang in der Nähe von Sopron Grenzübergang in der Nähe von Sopron, zwischen Fertőrákos in Ungarn und Sankt Margarethen (Szentmargitbánya) in Österreich. Frequentierte Übergangsstelle im Pendelverkehr | © Piroska Bakos
Laut der Statistik des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz arbeiten in Österreich zirka einhunderttausend Ungarinnen und Ungarn, und das ist lediglich die Zahl der legal Beschäftigten. Der Großteil von ihnen ist unter 45. Um die 40.000-50.000 Menschen pendeln täglich. Im an Ungarn grenzenden Bundesland Burgenland kommt bereits jeder siebte Arbeitnehmer beziehungsweise jede siebte Arbeitnehmerin aus Ungarn. Die meisten von ihnen verrichten physische Arbeit in den schlechtbezahltesten Sektoren wie dem Gastgewerbe, der Reinigungsbranche und der Fleischverarbeitung. Und es sind immer mehr Frauen unter ihnen: Kellnerinnen, Pflegerinnen, Heimhelferinnen, Masseusen, Reinigungskräfte und Landwirtschaftsarbeiterinnen. (Anhand des Artikels der G7 aus dem Jahr 2018)

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