Judit Ágnes Kiss

Fortgegangen

Er ging fort, nach Amerika. Oder nach Deutschland. In das Vereinigte Königreich, nach Norwegen, Kanada, wohin er nur konnte, wo er genommen wurde, wo er eine Wohnung bekam, wo er einen Job bekam. Er ging für einen besseren Verdienst fort, für menschlichere Umstände, für soziale Sicherheit. Er war fortgegangen, um die Sprache zu erlernen, dann aber blieb er. Er bekam ein Stipendium, fand auch die Liebe, er gründete dort eine Familie. Er ging auf die Universität und machte eine Karriere. Das alles ist gut so.

Katalin, die frisch diplomierte Ärztin, war nach Australien gegangen, hatte dort geheiratet, ihr Abschluss als Ärztin wurde nicht anerkannt, sie arbeitet heute als Rezeptionistin. Gábor, der Kunsthistoriker, ging als Lagerarbeiter nach England, um seine Schulden zahlen zu können. Balázs ging genau aus demselben Grund nach Deutschland. András zog mit seinem Soziologendiplom als Maurer nach Italien, Gergő mit dem gleichen Abschluss als Kellner nach England. Gyula ist jetzt in Österreich im Gastgewerbe tätig, weil er dort auch in diesem Beruf viel mehr verdienen kann als zu Hause. Helga fuhr wegen des Jobs ihres Mannes nach England, Emese aus demselben Grund nach Deutschland. Marcell arbeitet in Amerika, weil sich zu Hause niemand auf seinem Forschungsgebiet ausgekannt hatte, János aus demselben Grund nach Holland.

Er hat sich entschieden, nicht zurückzukehren. Weil die Bezahlung besser ist, die Wohnungssituation, das Wetter und das Unterrichtswesen, weil die Menschen freundlicher sind, weil er dort ein Vermögen angesammelt und Freunde gefunden hat. Oder weil er nicht mehr zurückkehren konnte. Weil zu Hause nichts und niemand mehr auf ihn gewartet hatte, weil er die Brücken hinter sich abgebrochen hatte oder weil Gras über den Weg nach Hause gewachsen war. Das alles ist so in Ordnung.

Eszter ging fort, in die USA, nach Virginia, um einen ganzen Ozean zwischen sich und ihre Mutter zu bringen. Veronika und Csaba fuhren in einen anderen Bundesstaat der USA, nach Georgia, um ihren Kindern bessere Chancen zu bieten als sie selbst gehabt hatten. Sára und Géza leben aus demselben Grund in Kanada. Dániel fuhr nach Frankreich, er hatte Frau und Kinder verlassen; Márk wanderte nach England aus, wer weiß, warum, und auf einmal hatte er keinen Grund mehr heimzukehren, und er hatte hier auch kein Zuhause mehr. Evelin und Nikolett arbeiteten als Tänzerinnen in Holland, später wollten sie nur Geld verdienen, Barbara und Klaudia sind aus demselben Grund in der Schweiz. Die beiden können seitdem nicht mehr zurückkehren.

Noch ein paar Dekaden und ihre Spuren zu Hause sind verweht. Ihren Nachfahren, wenn sie welche haben werden, bedeutet dieses Land nichts mehr. Sie sprechen die Sprache nicht und kennen hier niemanden, kein Ort lädt sie ein, wiederzukommen. Das ist auch eine Art Sterben. Lasst wenigstens die Glocken läuten, für sie, für die Fortgegangenen.

Szilvi ging fort, nach Österreich, weil sich in Ungarn für Musikerinnen keine Perspektiven auftun. Tibor ging nach Amerika, weil ein Sportler in Ungarn keine Perspektiven hat. István zog nach England, weil in Ungarn für einen Naturwissenschaftler die Perspektiven fehlen. Szilárd ging nach Belgien, weil er ein sehr gutes Angebot erhalten hatte, Dezső zog aus demselben Grund in die Emirate. Gábor und Edina verdienen als Ärzte in Norwegen das Mehrfache als in Ungarn. Ildikó und Tamás sind aus demselben Grund nach England gegangen. Julianna, die ihre Stelle als Lehrerin aufgegeben hatte, arbeitet als Haushälterin in Frankreich, Endre, ihr ehemaliger Kollege ist dort Maler und Anstreicher. Márton, ein Nachkomme von Dichtern, ist nach Amerika ausgewandert, um als Lehrer von etwas leben zu können.

Sie hatten es nicht so geplant, aber auf einmal war die Luft um sie herum aufgebraucht. Und wären sie länger geblieben, wäre auch die Atemluft in ihren Lungen aufgebraucht. Sie würgten noch an den ihnen eingeschärften Worten des nationalen „Mahnrufes“: „Die weite Welt gibt anderswo/Nicht Raum noch Heimat dir“, dann aber gingen sie fort, in diese weite Welt hinaus, weil sie treuer zu sich selbst sein wollten als zu einer nicht fassbaren Idee.

Kriszti, die erfolgreiche Journalistin, ging fort, nach England, weil sie sich in den letzten Jahren wegen ihrer Hautfarbe immer weniger in Sicherheit fühlte. Gyurka ging in die Schweiz, weil er sich in den letzten Jahren wegen seiner Abstammung immer weniger in Sicherheit fühlte. Erzsi und Péter zogen aus demselben Grund nach Israel. Imre ging nach Dänemark, weil ihn die Politik zu Hause anekelte. László ging aus demselben Grund nach Norwegen. Erika wanderte nach Schweden aus, da die Person, die sie liebt, dort nicht nur ihre Lebenspartnerin, sondern auch ihre Ehepartnerin sein kann. Jocó lebt aus demselben Grund in den Niederlanden.

Sie gingen fort, weil sie sahen, dass auch andere so tun, weil dies als eine Antwort auf alles schien, und weil sie sich nicht damit quälen wollten, welche Chancen sie gehabt hätten. Die Dynamik riss sie mit.

Klári ging fort, nach Spanien, weil es ihr hier immer zu kalt war. Éva ging nach Finnland, weil sie die schreckliche Hitze im Sommer nicht mehr ertragen konnte. Emese lebt jetzt in Italien, weil sie das Meer liebt, Dénes in Frankreich, weil er den Wein liebt. Péter zog nach Amerika, weil der Jazz dort zu Hause ist, Norbert ebenso, weil dort der Film zu Hause ist. Mónika desgleichen, weil Geschäfte dort wirkliche Geschäfte sind, Sándor, weil Sport dort wirklicher Sport ist.

Ein paar Dekaden und sie sind für uns verloren. Sie leben nicht hier, sprechen nicht diese Sprache. Die Glocke wird für niemanden mehr schlagen. Hierher kommen dann andere, Einwanderer oder Flüchtlinge, egal, und sie siedeln sich neben uns an. Und uns wird nicht interessieren, worauf ihre Familiennamen, die Form ihrer Augen, ihre Hautfarbe deuten, was ihre Genkarte über ihre Herkunft verrät. Einige Jahrzehnte und sie gehören hierher, sie leben mit uns, sprechen unsere Sprache, unsere Dichter János Arany, Attila József und Csokonai werden zu ihren Schätzen gehören.

Wenn die Sprache erhalten bleibt. Wenn es noch jemanden geben wird, der sie spricht. Wenn es noch möglich ist, in dieser Sprache Gedichte zu schreiben. Wenn es noch jemanden gibt, für den Gedichte geschrieben werden.

Übersetzt von Emese Dallos

Das Zitat aus dem „Mahnruf“ von Mihály Vörösmarty stammt aus der Übersetzung von Hans Leicht und Géza Engl.

In: Élet és Irodalom, 20. Dez. 2013, S. 14. (Originaltitel: Kitántorgott).