Tamás Jászay

Der Mittelpunkt der Welt

Ich widme diesen Text den Freiwilligen von MigSzol Szeged. Und wenn ich das schon tue, sollte ich auch darüber sprechen, wer sie sind – und auch darüber, wer wir sind. MigSzol Szeged ist kein Unternehmen mit klar definiertem Profil und Zielpublikum, man sucht es vergeblich im Handelsregister, es verfügt über keine noch so kümmerliche Rechtsvertretung, ja nicht einmal über irgendeinen winzigen Firmensitz.

Besser gesagt, es verfügt über all diese Sachen doch.

Nehmen wir nur seinen Sitz, der sich direkt neben dem prachtvollen Hauptbahnhof von Szeged befindet. Steht man vor dem Haupteingang des Gebäudes, sieht man rechts davon eine 24 Quadratmeter große Holzbude ohne jeden Komfort. An der Wand sind verwitterte Inschriften in verschiedenen Sprachen zu lesen. Ich erinnere mich noch, wie wir in den ersten Tagen der Flüchtlingskrise, Ende Juni, einen hervorragenden Historiker und Professor für Ästhetik in unsere Wohnung aufgenommen haben, der eine Reihe merkwürdiger Sprachen beherrschte, und wie er sich in der drückenden Hitze halbnackt über unseren Küchentisch beugte, ab und zu verdächtige Kehlkopftöne von sich gab und dann per Skype seine Freunde auf der anderen Hälfte des Globus konsultierte, damit wir auf den A4-Blättern korrekte Infos für die Flüchtlinge ausdrucken konnten.

Ich erinnere mich auch, wie wir später einen unbedruckten Karton an der Außenseite der Holzbude befestigten, damit die Flüchtlinge die Namen und näheren Angaben ihrer auf dem langen Weg verschollenen Familienmitglieder bekannt machen konnten. Und da die meisten Flüchtlinge allen Gerüchten zum Trotz schamvoll und schüchtern sind, war ich nicht überrascht, dass die Tafel tagelang unbeschrieben blieb. Dann kamen mit einer der unzähligen Familien zwei kleine Jungs, die auf dem Platz herrlich herumtollten, viel lachten und Fangen spielten. Einer der beiden schrieb schließlich auf die Tafel, er suche seinen Bruder, der währenddessen hinter ihm stand, und das haben sie irrsinnig komisch gefunden.

Wenn man in die Holzbude tritt, sieht man links Desinfektionsmittel, rechts einen soliden Berg aus Mineralflaschen und Obstsäften, in den Regalen mehrere Sorten Instantsuppen. Im hinteren Teil des Raumes, abgetrennt durch einen Vorhang, findet man auf etwa sechs Quadratmetern eine komplette Apotheke, eine alle Ansprüche befriedigende Drogerie, eine vor allem auf die Bedienung minderjähriger Kunden spezialisierte Zeichenpapier- und Buntstiftfachhandlung sowie mindestens ein Kubikmeter Butterkekse. Im Vorraum, zwischen den beiden Pulten zum Platz hin, wurde zudem noch eine gut ausgerüstete und durch vollgestopfte Kühlschränke vervollständigte Küche eingerichtet: Will man einen hungrigen und durstigen Menschen schnell satt bekommen, findet man auf oder unter dem Tisch, eventuell über ihm und um ihn herum alles Nötige dazu.

Dieser Ort ist an sich nichts Besonderes – nur eine typische Holzbude, wie wir sie alle kennen. Am Weihnachtsmarkt, am Weinfestival und bei anderen Volksbelustigungen stehen sie zu hunderten auf den Marktplätzen europäischer Großstädte. Die Menschen versammeln sich um sie herum, um sich für eine Weile wohl zu fühlen, halten bei rieselndem Schnee ein Glas Glühwein in der Hand, erzählen Geschichten, sinnen über das Vergehen der Zeit nach, teilen ihre Wünsche und Träume miteinander. Kurz, sie leben.

Die Holzbude von MigSzol Szeged wurde mit einer größeren Aufgabe betraut. Für die Flüchtlinge, die hierher transportiert wurden (denn noch vor einigen Wochen haben die Behörden hier, nur einige Meter von der Holzbude entfernt, täglich 600 bis 1.200 Personen abgeladen und sie ihrem Schicksal überlassen), für die Flüchtlinge, die einander hierher gelotst haben (denn es funktioniert ein verblüffend effektives Kommunikationsnetzwerk unter ihnen), sowie für die Flüchtlinge, die hierher geschickt wurden (nach dem Motto, die Freiwilligen werden es schon lösen, wie wir „es” tatsächlich gelöst haben) – für jene 25-30.000 Flüchtlinge also, die nach unserer Schätzung vom Ende Juni bis Mitte September hier auftauchten, ist dieser Ort, diese kleine, völlig unscheinbare Holzbude zum Zuhause geworden. Dass sie für uns Freiwillige in den letzten drei Monaten zum Zuhause geworden ist, ist ohnehin klar. Jetzt möchte ich aber über einige von unseren „Nachbarn” berichten.

Hier hat jener Junge ein Zuhause gefunden, der an einem der ersten Abende mit wunden Füssen, in Badelatschen vor mir stehen blieb und mich fragte, ob ich ein Paar Schuhe für ihn auftreiben könnte. Während wir nach passenden Schuhen suchten, erzählte er mir, dass er aus einem kleinen Dorf in Afghanistan komme und seit dreieinhalb Monaten unterwegs sei. Warum? Weil er im Nachbardorf Arbeit hatte, und als er eines Abends nach Hause kam, fand er seine Familie ermordet, sein Haus in Brand gesteckt. Als er nach Tagen und Wochen wieder Schuhe an ihren Füssen hatte, bedankte er sich dafür unter Tränen.

Ein wenig zum Zuhause wurde die Holzbude für jenen Teenager, der sich – nachdem er bereits seit zwei Tagen auf dem Platz war, um auf seine Familie zu warten – in gebrochenem Ungarisch für eine Banane bedankte. Für jene Kinder, in deren Gesichtern zum ersten Mal seit Monaten ein Lächeln erschien, wenn sie von uns ein Plüschtier oder ein Pustefix bekamen. Für jene stille, bescheidene Frau, die die ganze Nacht nichts für sich, nur für ihre Kinder zu nehmen bereit war, und die uns, als wir nach langem und gespanntem Warten endlich ihre Verwandte gefunden hatten, sagte, sie hoffe, dass ihre Kinder, wenn sie groß werden, auch so werden wie wir. Für jenen Syrer, der weder ein Sandwich noch ein Glas Wasser von uns zu nehmen bereit war, weil er meinte, es würden noch andere nach ihm kommen, die auf die Hilfe mehr angewiesen seien als er.

Dieser Ort wurde zum Zuhause für jenen Syrer mit blendend weißen Zähnen, den ich zweimal fragen musste, ob er wirklich Haaröl wolle, und der unser „Haben-wir-nicht“ erst akzeptierte, nachdem wir ihn beruhigt hatten, seine Frisur sei auch so einwandfrei. Er wurde zum Zuhause für jenen alten Mann, dessen zehnköpfige Familie wir in den Zug in Richtung eines neuen, hoffentlich besseren Lebens setzten, als dieser bereits am Abfahren war und ein Schaffner uns zu Hilfe eilte, damit sie ihn nicht verpassen. Und auch jener Mann hat hier ein Zuhause gefunden, der einen furchtbar schweren Koffer mit sich schleppte, und als wir ihn fragten, was denn drin sei, sagte er nur: meine Bücher.

Und natürlich hat in diesem winzig kleinen, dennoch unendlich großen Zuhause auch jene Rentnerin Platz gefunden, die schüchtern ein halbes Kilo Käse aus ihrer Tasche holte, beinahe sich entschuldigend, dass sie nur soviel bringen konnte, aber sie habe das getan, weil sie nicht wolle, dass es wieder Krieg gebe. Jener alte Herr, der auf uns zukam, zweimal vor uns den Kopf neigte und weiterging. Jene Dame, die ein Tablett mit selbstgemachtem Kuchen brachte, den Kuchen unter den Freiwilligen und den Flüchtlingen verteilte und mit der nächsten Straßenbahn wieder heimfuhr. Jener Obdachlose, der uns eine ganze Reisetasche mit Hosen brachte, für die Flüchtlinge, wie er sagte, denn er würde sie sowieso nicht tragen.

Und die Holzbude wurde zum Zuhause auch für jenen kleinen, etwa vierjährigen Jungen, der, als er uns mit seinen Eltern Spenden brachte, plötzlich fragte: „Aber warum sind denn die Flüchtlinge hier?” Weil diese Holzbude für drei Monate zum Mittelpunkt der Welt wurde.
 
Übersetzt von Lajos Adamik
 
Vortrag, gehalten am Leseabend „Menekülök velük én is” („Ich fliehe auch mit ihnen”), Átrium Filmtheater, Budapest, 19. September 2015, Originaltitel: A világ közepe.