Ferenc Szijj

Die Widerlegung einer Gedichtzeile von Miklós Radnóti

Gelegenheitsgedicht

„...an den Fassaden herabrinnender gleißend roter Schmerz" –
ich fand schon immer, dass diese Zeile viel zu übertrieben ist,
so etwas gibt es nicht, kein Mensch kann sich das vorstellen,
so sollte man nicht dichten. Ich erinnere mich, dass mich
in der Schule das Gedicht erschaudern ließ. Wie mag das
wohl klingen, wenn es wieder voller Hingabe vorgetragen
wird und man bei jener Zeile um Atem ringen muss
und die Stimme wegzubrechen droht?
 
Wer geht entlang der Straße und wohin, davon ist vorher
noch die Rede, von Sommerabenden und Fassaden,
an denen etwas herabrinnt, und wir erfahren auch,
dass es Schmerz ist, der da rinnt. Ein rinnender Begriff,
die reine Abstraktion.
 
Es ist nicht schwer einzusehen, warum ein Sommerabend
auch in friedlichen Zeiten Schmerzen bereiten kann,
warum das eine Bedeutung hat, oder gleich mehrere
Bedeutungen, je nachdem für wen und wann…,
und dass jemand seinen Schmerz auf die Leinwand
der Fassaden projiziert, wäre auch noch vorstellbar.
 
An einem Sommerabend zum Beispiel wurden wir
vom Fußballplatz des örtlichen Vereins Dózsa
erbarmungslos verjagt, nicht vom Rasenfeld, das war
auch für uns heilig, nein, vom Ascheplatz, dabei wollten
wir nur einmal auf einem richtigen, guten Boden spielen
und nicht immer auf dem holprigen Spielplatzrasen.
Das schmerzte und im Rückblick der Gedanke noch mehr,
dass wir selbst glaubten, das sei der Lauf der Dinge,
wir schleichen uns hinein und sie verjagen uns,
oder war es doch der Lauf der Dinge, der mehr
schmerzte, als im Nachhinein der Gedanke,
es hätte auch anders sein können.
 
Oder der Heimweg nach dem Kino mit meinem Bruder
nach der Nachmittagsvorstellung, wenn ich mir dieses Bild
als eine Erinnerung vorstelle, wie schmerzvoll muss
die Kleinstadt für uns gewesen sein, nach all den großen,
farbigen Bildern, wilden Landschaften und glücklich
endenden Abenteuern, wie schmerzvoll ihre Straßen,
die Fassaden im Abendrot?
 
Warum nur rinnt im Gedicht wie Blut aus frischer Wunde
Schmerz an den Fassaden? Vielleicht, damit wir verstehen,
wie eng verbunden sich der Dichter seinem Lande fühlt,
wie viel Mitgefühl er auch leblosen Dingen entgegenbringt,
mehr noch, dass er sogar ihren Zustand empfinden kann,
was die Fassaden schmerzt, das schmerzt auch ihn,
wissend, was das in der Regel bedeutet?
 
Die Heimat jedoch - nicht die Landschaft, nicht jener
besondere Stein, nicht die Fassaden und nicht die Fabriken,
die Heimat als Institution, zu der die Menschen,
die auf den Straßen hin- und her eilen, allerdings dazugehören -
ließ ihren Dichter zur Zwangsarbeit verschleppen und
ermorden, weil er nicht bereit war, trotz Ermutigung
der Freunde zu desertieren.
 
Warum nicht? Weil der, der so viel Mitgefühl für die Heimat hatte,
selbst für die leblosen Dinge, und zur tiefen Rührung fähig war,
der so unvermittelt und schnell das Augenscheinliche
mit dem Abstrakten verknüpfen konnte, nicht desertieren durfte?
Weil die Heimat für ihn nicht nur die Landschaft,
die Menschen, der Glücksstein auf dem Weg, der Honig,
die Heidelbeeren waren, sondern auch die Verpflichtung,
der Befehl und Gehorsam, die Erniedrigung und der Tod?
 
Dichter müssen für die Heimat sterben? Wie Petőfi?
Aber Petőfi ist nicht nur für die Landschaft und
den Menschen gestorben, er hatte das große Ganze
im Blick, die weltumspannende Freiheit, eine Republik
mit gleichen Rechten für alle, dafür zog er freiwillig
in die Schlacht.
 
Reines Opfertum? Quasi Erlösertum? Die Sünde abschaffen?
Für die Unschuld der Neugeborenen? Von denen später
einige wieder in schwarzen Uniformen auf den Straßen
auf- und ab marschieren werden? Von denen wieder
ziemlich viele meinen werden, dass diese oder jene
schuld an allem seien, die Juden, die Zigeuner,
all jene, die anders sind, und sie werden wieder bei jeder
Rechtsverletzung, Ausgrenzung, bei jedem Mord
gleichmütig zuschauen, hier in diesem erbärmlichen,
hilflosen und aggressiven Heimatland?

Übersetzung von Orsolya Kalász

In: Tiszatáj, Dez. 2009, S.69-71. (Originaltitel: Egy Radnóti-sor cáfolata. Alkalmi vers).