Rudolf Ungváry

Gibt es eine demokratische Antwort?

„Wer spielt hier, spielt im Sand? Wer spielt, […] hat sich beim Spiel die Hand gründlich verspielt, verbrannt …” (Günter Grass)

Die euro-atlantische Kultur kam grundsätzlich als Ergebnis einer inneren Entwicklung zustande. Sie beruht auf dem Humanismus und der Aufklärung, die aus dem antiken Erbe, der Dynamik der Völkerwanderung und der jüdisch-christlichen Kultur hervorgegangen sind. Ihre kulturelle Errungenschaft ist die bedingungslose Achtung der Persönlichkeit. Ihre politische Errungenschaft ist die Gleichheit vor dem Recht. Ihre zivilisatorische Errungenschaft, die Technik, hat die Erde vernetzt und globalisiert und immense Energien entfesselt. Für alle anderen Kulturen bedeuten diese Errungenschaften, da sie nicht aus ihrer eigenen organischen Entwicklung hervorgingen, eine Herausforderung von außen. Es gibt Regionen, wo man mit der Entwicklung mitzuhalten versucht, und es gibt andere, wo sie Regressionen auslöst.

Durch den wachsenden, kulturell mehrheitlich muslimischen Flüchtlingsstrom aus der Dritten Welt sind die Errungenschaften der Aufklärung zum ersten Mal von einer Gefahr bedroht, die nicht von innen (in Form des Bolschewismus und des Faschismus) entstanden ist (und immer wieder neu entsteht), sondern von außen, mit den Flüchtlingen auf sie zukommt.

Von einem kompletten Mangel an europäischer Solidarität zeugt die vor allem im östlichen Teil der Europäischen Union vorhandene Erwartung, der größte Teil der Flüchtlinge müsste von den wenigen wirtschaftlich stärksten EU-Ländern aufgenommen werden. Es ist falsch, das heutige Problem der Einwanderung mit dem der ungarischen Flüchtlinge 1956 oder der bosnischen Flüchtlinge in den 1990er Jahren zu vergleichen. Alle bisherigen Flüchtlingsströme waren europäischen Ursprungs. Die Kultur, die sich die Europäer teilen, ist zu 90 % eine gemeinsame. Nirgendwo wird etwa die Strafe für die biblischen „Todsünden” als eine zu vollstreckende verstanden, im Gegensatz zu zahlreichen Richtungen und ganzen Staaten innerhalb des Islams.

Eine Kultur kann sich verändern und anpassen, vorausgesetzt, ihre Träger kommen in einer noch kontrollierbaren Anzahl zu uns, und es gibt genug Zeit für diese Anpassung. Ihre Integration kann indirekt sogar zur Modernisierung des Islams beitragen. Der Grund für die aktuellen Flüchtlingsströme sind weder der Islam noch seine politischen Formen, sondern der Zerfall von Staaten, die aus diesen politischen Formen hervorgegangen sind (Syrien, Libyen, Afghanistan). Es stehen uns vorerst keine verlässlichen Studien über die Flüchtlinge zur Verfügung. Wie denken sie wirklich? Tatsache ist, dass in ihrer Kultur Religion und Politik, in Gegensatz zu den Prinzipien der Aufklärung, (noch) nicht getrennt sind. Die Gesetzgebung des Islams, die Scharia, gilt – da sie von Gott stammt - als ethisch und auch politisch höher gestellt als alle anderen modernen Rechtssysteme. In europäischen Städten, in deren Bevölkerung der Islam stärker präsent ist als früher, gibt es Bestrebungen, dieses Rechtssystem einzuführen. Die Scharia hat religiöse und weltliche Geltung zugleich. Das ist, als ob die Rechtssysteme der Staaten innerhalb der EU oder der ganzen Ersten Welt mit dem katholischen oder konfuzianischen Kirchenrecht identisch wären.

Die bisherigen links-liberalen Antworten auf die Situation sind im Osten Europas, etwa in Ungarn, im Grunde genommen ohne Wirkung geblieben. Es ist eher die extreme Rechte, die aus den keineswegs herunterzuspielenden Ängsten der ahnungslosen Bevölkerung immer mehr politisches Kapital für sich zu gewinnen versteht. Für den ungarischen Premier war das Flüchtlingsproblem ein gefundenes Fressen. In bestimmten Teilen des Landes wurde bereits der Notstand eingeführt, und man erwägt die Einberufung von Reservisten zum Militär. All das hat die Macht von Orbán und seiner Kreise immens gestärkt.

Immer wieder hört man das Argument, die Zahl der Migranten sei im Vergleich zur EU-Bevölkerung von 500 Millionen Menschen verhältnismäßig gering. Das ist irreführend. Die Zuwanderung kann schnell intensiver werden. Allein für Deutschland prognostiziert man für dieses Jahr 800.000 Flüchtlinge. Was sich heute in der Welt des Islams abspielt, erinnert an den Dreißigjährigen Krieg im Europa des 17. Jahrhunderts, der damals im Namen der Religion geführt wurde. Zum Glück kann man heute, dank der Globalisierung, fliehen. Ein Ende des heutigen Kriegs ist nicht abzusehen. Im letzten Jahr sind bereits mehrere hunderttausend Flüchtlinge nach Europa gekommen. Man kann davon ausgehen, dass ihre Zahl sich in einigen Jahren auf viele Millionen erhöhen wird. Die Humanität verpflichtet uns, sie alle aufzunehmen.

Ein Teil derer, die zu uns kommen, ist gut ausgebildet. Oft sind es Angehörige der wohlhabenderen Mittelschicht. Das kann gewiss zur Integration motivieren. Doch ist bereits jetzt abzusehen, dass die Flüchtlinge sich nicht an die Verteilung nach Quoten halten und in den weniger entwickelten Ländern bleiben werden. Und selbst wenn sie sich daran halten würden, werden sie in einige Staaten von Kerneuropa zurücksickern, und zwar in die größeren Städte. Dort wird sich ihr Anteil auf das Mehrfache des Durchschnittlichen erhöhen.

Eine solche Menge von Migranten in einzelnen Großstädten in so kurzer Zeit erfolgreich zu integrieren ist keine alltägliche Aufgabe. Das kann in den Gesellschaften der Aufnahmestaaten größere Spannungen als bisher generieren.

Es wäre verblendet, in einer solchen Situation zu behaupten, es werde ausreichen, wenn die Einwanderer die Gesetze des jeweiligen Aufnahmestaates respektieren. Es ist töricht, die Ängste vieler Menschen angesichts der Flüchtlingsströme herunterzuspielen und über den Grund ihrer Angst nicht zu sprechen. In den östlichen Staaten der EU, vor allem in den Grenzländern, die erst jetzt mit den Flüchtlingen konfrontiert sind, ist diese Angst besonders stark.

Wenn sich schon die Integration der viel früher Eingewanderten so schwierig gestaltet, kann es kaum stimmen, dass sich der Flüchtlingsstrom im heute noch wesentlich toleranteren Westeuropa über eine bestimmte Zahl hinaus wirtschaftlich und vor allem kulturell auf die gewohnte Art und Weise handhaben lässt. In der Frage, ob die Zahl der Flüchtlinge begrenzt werden könne, ist bereits jetzt eine Neuorientierung zu beobachten, und zwar nicht nur bei rechten Politikern. Es stimmt nicht, dass für die heutige, von Bürgerkrieg und Tyrannei beherrschte Lage im Nahen Osten und in Nordafrika ausschließlich der Westen verantwortlich wäre, und dass daraus Verpflichtungen resultieren würden. Die militärischen Eingriffe in Afghanistan und Irak haben zweifellos deshalb keine entscheidenden Veränderungen gebracht, weil sich Demokratie nicht exportieren lässt. Immer öfter ist die Meinung zu hören, im heutigen Zustand des Islams (der natürlich nichts Statisches ist, er verändert sich auch) hätten die früheren säkularen Militärdiktaturen mehr Sicherheit geboten. Die demokratischen Revolutionen, die sich in den letzten Jahren in einigen arabischen und afrikanischen Ländern, und zwar ohne Eingriffe von außen, abspielten, sind ebenfalls weitgehend gescheitert. Ihre Fortentwicklung (und damit ein „Westfälischer Frieden” und eine „Aufklärung” innerhalb des Islams) wird voraussichtlich ein langwieriger, von Rückfällen begleiteter Prozess sein. Diesen Prozess muss man fördern.

Die grundlegende Frage ist in Wirklichkeit folgende: Muss man die Flüchtlinge aus den islamischen und afrikanischen Kulturen selbst dann aufnehmen, wenn sie durch ihren erhöhten Anteil mancherorts in der EU eventuell dominant werden gegenüber der euroatlantischen Kultur?

Man muss als Demokrat Mut aufbringen, wenn man diese Frage beantworten will.

Ein Ja wäre zu allererst politische Selbstvernichtung. Es gibt keinen noch so demokratischen Staat, dessen Mehrheit mit diesem Ja einverstanden wäre. Kein Zufall, dass demokratische Politiker zu einer solchen Antwort heute eindeutig nicht bereit sind.

Ein Nein hingegen führt dazu, dass man von den konservativen, in Wirklichkeit fundamentalistischen Demokraten diskreditiert wird. Wer als Demokrat, um die Errungenschaften der Aufklärung fürchtend, mit einem solchen Nein antwortet, riskiert als „kultureller Rassist” gebrandmarkt oder im besten Fall als Leugner des Humanismus, aber auf jeden Fall als Verbündeter der rassistischen Rechten oder der Orbánschen Politik eingestuft zu werden, die ein möglichst umfassendes Bedrohungsszenario aufrechtzuerhalten trachtet. Für manche ist bereits die Frage selbst Angstmacherei, und der Fragesteller selbst Demagoge. Auch wenn niemand sagen kann, wann der Flüchtlingsstrom abreißen wird.

Darf man jedoch mit Verleugnern der Humanität Kompromisse machen? Denn eine Bedrohung der euro-atlantischen kulturellen Identität bedeutet zugleich die Bedrohung der Errungenschaften von Aufklärung und Humanismus.

Das heißt natürlich nicht, dass jede fremde Kultur in Europa Gefahren mit sich bringt. Sie stellt nur dann eine Bedrohung dar, wenn sie mehrheitlich noch nicht (ausreichend) eine Überzeugung adoptiert hat, die die Werte der Aufklärung und damit des demokratischen Denkens als die höchsten achtet. Bei diesen Prinzipien darf man keine Kompromisse machen, selbst wenn der Mensch fehlbar ist.

Eine wirkliche Auseinandersetzung damit hat nicht nur bei einem Teil der westeuropäischen Demokraten nicht stattgefunden; in der östlichen Hälfte der EU (also auch in Ungarn) ist sie noch weniger in Sicht. Unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kultur hängen davon ab, ob wir im Fall einer negativen Antwort Alternativen zu einer neuen, offen oder unterschwellig rassistischen Willkürherrschaft finden. Ob wir eine Lösung finden, die sich mit den (zumindest in der zivilisierten Welt anerkannten) Menschenrechten vereinbaren lässt und zugleich auch die Europäische Union zu schützen vermag, die ja prinzipiell auf diesen Rechten beruht. Eine Lösung, die verhindert, dass Religionen und Bräuche, die gegen die allgemeinen Menschenrechte verstoßen, dominant werden, indem sie das, was an ihnen inakzeptabel ist, gegebenenfalls per Gesetz verbietet. Wozu hat Europa Recht, wenn es bereit ist, seine Demokratie und seinen Wohlstand mit anderen zu teilen? Kann die Verteilung nach Quoten die oben gestellte Frage wirklich beantworten? Können bestimmte Grundprinzipien des Islams nicht als unvereinbar mit den Verfassungen der EU-Staaten deklariert werden? Wie weit darf unser europäisches Schicksal in unseren eigenen Händen liegen?
Man muss den Flüchtlingen helfen, aber sich auf die Einhaltung der Gesetze im Allgemeinen zu berufen, reicht nicht. Es müssen auch die konkreten Bedingungen dafür klar formuliert werden. Der deutschtürkische Vorsitzende der Grünen, Cem Özdemir, hat uns den Weg dazu gezeigt. In einem Interview sagte er unter anderem: „Wer nach Deutschland einwandert ... , übernimmt auch Verantwortung für deutsche Geschichte. Daraus folgt, dass das Existenzrecht Israels für uns nicht verhandelbar ist.” Die Demokraten müssen klipp und klar sagen: Wem die Meinungsfreiheit nicht gefällt und etwa die Mohammed-Karikaturen verbieten will, braucht nicht nach Europa zu kommen.

Eine offene Diskussion unter den Demokraten lässt sich weder in Ungarn noch in den anderen südöstlichen Grenzländern der EU beobachten. Die Ablehnung von Rassismus an sich bringt noch keine Lösung. Dabei lassen sich alle demokratischen Alternativen, mit denen man zugleich die verängstigte, der rechtsextremen Hetze ausgelieferte Masse für sich gewinnen könnte, aus einer glaubwürdigen Antwort auf die oben gestellte Frage ableiten. Es gibt noch einen weiteren, noch latenten Konflikt, nämlich zwischen denjenigen, die sich um die Werte der Aufklärung sorgen und den fundamentalistischen Auslegern der Menschenrechte. Orbán hat inzwischen die V4-Staaten für seine Flüchtlingspolitik gewonnen. Der sonst ungarnfeindliche, nationalistische Premier der Slowakei, Robert Fico, ist sein engster Verbündeter. Die durch den Flüchtlingsstrom geschürten Ängste und lokal entstehenden sozialen Spannungen können auch in den westlichen Staaten der EU zu einem Rechtsruck führen. Die deutsche Willkommenskultur kann an Kraft verlieren. In einer solchen Situation kann es auch zu einer politischen Umstellung kommen, und die potentiellen Verbündeten von Viktor Orbán könnten auch in Deutschland an Gewicht gewinnen.

Übersetzt von Lajos Adamik

In: Népszabadság, 9. Sept. 2015, S. 10. (vom Autor bearbeitete Fassung, Originaltitel: Nincs demokratikus válasz?)