Heinrich von Kleist
Mein Freund Kleist

Mein Freund Kleist_Magazin
Kleist.Werke | Foto: Hernád Géza

Vor vielen Jahren verbrachte ich drei Monate am Wannsee, im Haus des Literarischen Colloquiums Berlin. Ich kam dort Ende Januar an: Es war dunkel und kalt, der See fest zugefroren, und wochenlang wohnte im Haus niemand außer mir. Ich bewarb mich um ein Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung, um mich von Heinrich von Kleists bedrückender Nähe zu befreien, um jene geistige und emotionelle Last loszuwerden, die ich kurz davor durch das Übersetzen vom Michael Kohlhaas und einiger anderer Werke Kleists auf mich geladen hatte.

Nun wohnte ich also am Ufer des Wannsees, an der alten Potsdamer Landstraße, nur 150 Schritte vom Ort entfernt, wo Kleist sich das Leben nahm. An der Stelle des Wirtshauses, in dem Kleist und Henriette Vogel die letzte Nacht verbrachten, steht jetzt das Restaurant Loretta; dort aß ich jeden Tag zu Mittag. Von diesem nur wenige Schritte entfernt, am Ufer des Kleinen Wannsees, zwischen den Liegenschaften verschiedener Ruder- und Segelbootvereine steht das Grabmal der beiden. Soweit zur erfolgreichen Trennung von Kleist. Ach ja, vielleicht noch so viel, dass die nach der historischen Persönlichkeit Kohlhase benannte Ortschaft Kohlhasenbrück ebenfalls in der Nähe liegt. Der Mann, der übrigens Hans Kohlhase und nicht Michael Kohlhaas hieß, beging einen Teil seiner Verbrechen in der Umgebung.
Damals, um die Mitte der 1990er Jahre, war Heinrich von Kleist mein Freund. Er ist es eigentlich immer noch, nur haben wir uns inzwischen voneinander entfernt. Genauer gesagt, ich habe mich von ihm, dem seit 200 Jahren Toten, entfernt. Ich beschäftige mich nur noch selten mit ihm.

In solchen Fällen spricht man natürlich nur im halben Ernst von Freundschaft, aber immerhin im halben. Freundschaften entstehen, wenn ein Mensch einen anderen an seinem Leben teilhaben lässt, ihn anspricht und sich durch ihn angesprochen fühlt, wenn er Antwort bekommt und antwortet; wenn er die Denkart des anderen kennenlernt und diese Denkart seine eigene beeinflusst; und schließlich, wenn er etwas Handfestes für den anderen tut. Ich lebte nicht zu Kleists Zeit und konnte nicht zum Zeugen seines Lebens werden; er aber ist zum Zeugen meines eigenen geworden. Dass seine Erzählungen neuerdings (nicht zuletzt durch die Genauigkeit und Stiltreue der Übersetzungen) als zeitgenössische ungarische Prosa gelesen werden, kann ebenfalls als Zeichen der Freundschaft gelten.

Dass der Übersetzer das Werk, das er übersetzt, genau analysiert und mit der Ausarbeitung der Idee auch das Denken des Autors rekonstruiert, muss nicht automatisch zur Freundschaft führen. Mit Goethe etwa, von dem ich Faust I übersetzte, ließ es sich nicht befreunden. Ihn konnte man nicht duzen, so wie man Kleist ohne weiteres duzen konnte. Er erwartete von einem jene drei Schritte Distanz und die Anrede „hochgeborener Herr”. Novalis war überhaupt nicht ansprechbar. Von den Brüdern Grimm war es Wilhelm, der meine Fragen und Bemerkungen zu beantworten bereit gewesen wäre, nur wurde er von Jacob jedes Mal zum Schweigen gebracht.

Beim Übersetzen von Kleist ist mir klar geworden, dass ich, obwohl mir das Werkzeug des professionellen Übersetzers durchaus zur Verfügung steht, literarische Kunstwerke, die der Übersetzung wert sind, nur als Autor zu übersetzen fähig bin. Das heißt nicht, was übrigens viele Autoren mit prägnantem Stil machen, dass ich die eigenen stilistischen Eigentümlichkeiten auch auf meine Übersetzungen übertragen will, im Gegenteil: Das Ziel wäre, die Tricks, die Finessen und Raffinessen des Kollegen, der in einer anderen Sprache schreibt, auszuhorchen und diese in die ungarische Sprache so zu übertragen, dass sie lebendig bleiben. Damals, beim Übersetzen von Kleist habe ich mein Ziel als Autor formuliert: zu schreiben, als ob ich lesen würde und zu lesen, als ob ich schreiben würde.

Über Kleists Prosastil wurde bereits viel Gescheites gesagt. Er ist vielschichtig und komplex, zugleich kristallklar und übersichtlich. Betonhart, dennoch nicht schwerfällig. (Wobei ich ihn auch nicht als leicht bezeichnen möchte.) Er verzichtet auf statische Beschreibungen, dafür bevorzugt er die dynamische, an Bühnenanweisungen erinnernde Veranschaulichung der Aktionen. Indem er unauffällig die Perspektive wechselt, sie mal näher bringt, mal entfernt, stößt er den Leser augenblicklich in den Strudel der Ereignisse, in das scheinbar, aber nur scheinbar ungeordnete Gewebe des Lebensmaterials. In Kleists Prosa herrscht eine Ordnung, wie sonst nur in den griechischen Tragödien. (In seinen Dramen meines Erachtens bereits weniger, hier geht es aber nicht um sie.) So ist es nicht wirklich überraschend, dass für Erich Auerbach Kleist als die nicht eingelöste Verheißung des deutschen Realismus galt.

Nachdem meine Arbeit als Übersetzer beendet war (neben Michael Kohlhaas habe ich noch die Erzählung Der Findling sowie das Theaterspiel Die Hermannsschlacht übersetzt), wollte ich als Autor die Freundschaft mit Kleist aufrechterhalten. Ich wollte etwas schreiben, was er nicht geschrieben hat, obwohl es mit ihm zu tun hatte. Ich wollte etwas können, was er nicht konnte. Ganz konkret: Einen Roman wollte ich schreiben. Kleist hatte mehrere Romanpläne, er hat aber keinen realisiert. Ich wollte einen Roman schreiben, dessen Grundlage er sicher gekannt, nur eben nicht verwendet hatte. 

So nahm ich mir vor, jene 1731 erschienene dreibändige Dokumentensammlung, die „Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen und angrentzenden Ländern”, zu studieren, die auch Kleist benutzt hatte, da sie den Auszug aus der Chronik von Peter Hafftitz über Kohlhase enthält. In den ungarischen Bibliotheken jedoch ist kein einziges Exemplar dieser Sammlung zu finden. Nachforschungen eines Bekannten ergaben, dass ein Exemplar in Berlin, in der Bibliothek des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, aufbewahrt wird. 

Am zweiten Tag meines Berlinaufenthalts fuhr ich hinüber nach Dahlem, wo sich das Archiv befindet. Nach knappen 15 Minuten lagen die drei Bände vor mir. Ich öffnete einen der drei an einer beliebigen Stelle: Dort war das Gesuch zu lesen, das 1604 von der Witwe eines Tuchfärbers namens Jacob Wunschwitz an den Kaiser gestellt wurde. Wunschwitz hat in der Stadt Guben einen Bürgeraufruhr beschwichtigt und das Blutvergießen verhindert; die Anführer wurden freigelassen, Wunschwitz hingegen zum abschreckenden Beispiel ohne Gerichtsprozess und Urteil hingerichtet. 

Ich spürte und wusste: Das ist meine Geschichte. Eine Geschichte, die Kleist mit Sicherheit kannte, die er aber nicht gebrauchen konnte, weil ihn der Racheengel Michael Kohlhaas interessierte. 

Nach einer Weile begann ich die gesammelten Materialien zu verarbeiten. Nach einer Weile taute auf dem Wannsee das Eis. Nach einer Weile ist der Roman Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz erschienen, erst auf Ungarisch, dann auch in deutscher Übersetzung. Nach einer Weile hat sich die unheimliche Freundschaft in die Beziehung zwischen zwei Autoren, einem aus der Goethezeit und einem aus der Gegenwart, verwandelt.