Die neuen Deutschen
Ein Land vor seiner Zukunft

Zweifellos kann man die Auffassung vertreten, die Vorstellung der Nation sei in der Welt des 21. Jahrhunderts antiquiert, und deswegen dafür optieren, den Nationsbegriff völlig aufzugeben und nur mit dem Begriffspaar von Staat und Gesellschaft zu operieren. Das hat aber zwei bedenkenswerte Konsequenzen: Erstens überlässt man dann das stark emotional besetzte Nationskonzept anderen, die es politisch nutzen; zweitens verzichtet man auf eine politische Kategorie, die wie kaum eine andere in der Lage ist, Solidarität und gegenseitige Hilfsbereitschaft zu mobilisieren. Tatsächlich ist die Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit und Identität das Gegenmittel zu einer Gesellschaft, die allein aus Tauschakten unter gegenseitiger Nutzenerwartung besteht. Dass wir uns in einigen Lebensbereichen weiter in diese Richtung entwickeln werden, ist absehbar. Umso dringlicher brauchen wir jedoch den Solidaritätsgenerator Nation – freilich auch eine Vorstellung von Nation, die hinreichend modernisiert ist, um den Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft zu begegnen.

Herfried Münkler, Marina Münkler: Die neuen Deutschen. Ein Land vor seiner Zukunft. Berlin: Rowohlt 2016, S. 290.