Zhenya Chaika
Von Grenzen der Emotionalität und Strukturen im künstlerischen Arbeiten

© Zhenya Chaika

1. Barrieren und Distanz
In meinen Schulen habe ich mich immer wohlgefühlt, und schon als Kind freundete ich mich gern mit fremden Erwachsenen an. Oft jedoch wurde meine kindliche Begeisterung für Kommunikation jäh gebremst durch einen rätselhaften Satz, mit dem mir einige Lehrer antworteten. Mit leicht erhobener Stimme und tadelndem Blick auf das Kind, das sich hier offenbar zu viel erlaubte, sagten sie in bedeutsamem Unterton: „Das besprichst du dann mit deiner Mutter in der Küche.“

Um was es dabei ging, habe ich damals nicht verstanden und natürlich kann ich mich heute nicht mehr daran erinnern. Doch dieser Satz blieb mir im Gedächtnis als etwas, das den Gesprächsfluss unterbricht, das unterschwellig die Grenzen des Erlaubten absteckt und definiert, was in der Öffentlichkeit gesagt werden darf und was ausschließlich in die Privatsphäre zu Hause gehört.

Die Tatsache, dass es in dieser Umgebung erklärter kreativer Freiheit und demonstrativ vertraulicher Atmosphäre Barrieren gab, entmutigte mich. Unverständnis und ein vages Gefühl der Kränkung dämmerten irgendwo am Rande meines Sichtfelds auf – bis sie vertrieben wurden von Beobachtungen, denen ich eine neue Regel entnahm: wird vor dir eine Linie gezogen, die nicht übertreten werden darf, handelt es sich dabei möglicherweise gar nicht um ein Verbot; es könnte vielmehr sein, dass du nunmehr „auf der sicheren Seite“ bist.

2. Konventionen, Regeln und Reglementierung
Die heimische Burg eines Kindes wird geschützt durch verschiedenste Grenzen, die wiederum Ausdruck finden in unzähligen Konventionen: Konventionen für die Nahrungsaufnahme, für den Schlaf, für Ausflüge und für den Umgang mit Krankheiten. Nach und nach werden Regeln für das Gespräch mit Fremden eingeführt – die tradierte Etikette lässt hier Distanz entstehen. In einer gesunden Umgebung wird diese Distanz kultiviert: als Basis für Freiheit und Würde, als makellose Grenze für eine ungestörte Privatsphäre.

Jedes Territorium – gleich ob es unsichtbar einen einzelnen Menschen umgibt oder sichtbar in dichtem Waldgebiet freigeschlagen wurde – wird abgeschirmt durch Zäune aus Regeln. Diese Regeln teilen ein in „richtig“ und „falsch“; in deutlich lesbaren oder nur gedachten Lettern errichten sie Verbote und verteilen Rollen: Wächter, Delinquenten und Mitläufer. Je vielseitiger der konkrete Zusammenhang ist, desto detaillierter und ermüdender wird das Regelverzeichnis. Viele Regeln sind bis heute intuitiv verständlich, sie sorgen für Sicherheit und die Interessen des Individuums. Andere erschließen sich dem Betrachter irgendwann nicht mehr und werden zu überholten Reglements im verstaubten Archiv der Firmen- oder Werks-Ethik.

Die professionelle Kunstszene verortet sich selbst in bequemeren Breiten jenes feinlinierten Netzwerks aus Regeln und Vorschriften: irgendwo an der Peripherie, in sicherer Entfernung von gestrengen Kodizes und Statuten, in einem Garten, in dem gemütliche Hängematten und Schaukelsitze dazu einladen, problemlos von der Strenge in die Leichtfertigkeit zu gleiten, von kategorischer Bestimmtheit zum Voluntarismus, von Prinzipientreue zur Haltungslosigkeit – oder auch umgekehrt. Die einem künstlerischen Prozess innewohnende Oszillation kann gewiss nicht mit der Gleichmäßigkeit einer Pendelbewegung verglichen werden, und doch gibt es Ähnlichkeiten: erstens existieren tatsächlich immer Polaritäten und zweitens ist der Punkt der Rückkehr niemals derselbe wie der Ausgangspunkt.

Dennoch bleibt jedes Milieu stabil, solange es Grenzen hervorbringt. Selbst dann, wenn diese unsichtbar, unaufdringlich oder zufällig scheinen – Rahmen unterschiedlicher Größe garantieren Beständigkeit. Ein Reglement wiederum garantiert gewissermaßen, dass die Grenze nicht verletzt wird. Betrachten wir nun aber die Grenze: wen oder was trennt sie voneinander? Verläuft sie zwischen dem Einen und dem Anderen? Oder anders: steht auf der einen Seite ein lebendiges Subjekt, während auf der anderen ein ungepflügtes Feld von Objekthaftigkeit liegt, Roherz schöpferischen Materials, begierig darauf, Gestalt und Form anzunehmen.

3. Beschränkungen und Regeln
Entsprechend einem weitverbreiteten Klischee zeichnet sich professionelles Handeln durch Emotionslosigkeit aus. „Sich in jemandes Lage zu versetzen“ und vereinbarte Termine nicht einzuhalten, zeugt von Schwäche und Emotionen. Professionelles Arbeiten bedeutet, die Spielregeln zu befolgen, gleich mit wie viel oder wenig Passion.

In allen Bereichen menschlichen Schaffens kennt der Manager die geltenden Reglements sehr genau. Auch ein Kurator ist in gewisser Weise Manager, und als solcher verpflichtet, Reglements zu befolgen. Doch als Gestalter (und damit als Person, die mehr oder minder eindeutig Neues anstrebt) muss er sich über Reglements hinwegsetzen. Nur wer Reglements perfekt beherrscht hat eine Chance, sie für die Sache gewinnbringend zu verletzen. Unkenntnis oder Ignorieren der Tatsache, dass Regeln existieren, befreit keinesfalls von der Verantwortung für das Einhalten von Grenzen.

Die moderne öffentliche Praxis kennt keine klare Definition für den Begriff und die Funktion eines Kurators. Doch gibt es Autoren, die sich theoretisch damit auseinandersetzen, was ein Kurator ist und worin genau seine Arbeit in der Gegenwartskunst besteht (insbesondere sind hier Viktor Misiano, Hans-Ulrich Obrist und Nicolas Bourriaud zu nennen); diese betrachten die Rolle des Kurators durch das Prisma seiner Beziehung zu anderen Subjekten des schöpferischen Prozesses, vor allem zu den Künstlern. Dabei charakterisieren sie diese Beziehung als prinzipiell informell und basierend auf Freundschaft, Sympathie oder – weiter gefasst – anerkannte Wertschätzung der Beziehung.

4. Anleitungen und Rezepte
Die künstlerische Ausbildung im Hinblick auf Gegenwartskunst und ihre kuratorische Betreuung ist letztendlich eine recht paradoxe Angelegenheit. Abgesehen von einigen Kursen, die bestimmte instrumentelle Fertigkeiten trainieren sollen, läuft die Ausbildung auf das Verinnerlichen der „Rezeptur“ des Metiers hinaus. Anstelle von Kompetenzen im Kopieren und Zitieren geht es vielmehr um eine universelle Anleitung, die – wenn man sie befolgt – das Verbleiben auf dem goldenen Mittelweg im Kunstprozess garantiert.

Der Lehrplan für entsprechende Studienfächer erinnert an ein Rezeptbuch, welches Gerichte sehr genau für bestimmte Anlässe festlegt: ein romantisches Abendessen, eine Party mit Freunden, ein Mittagessen mit den Eltern, das perfekte Frühstück… Durch eine Anzahl von Sternchen wird der Schwierigkeitsgrad angegeben – angefangen von der Präsentation eines jungen Autors in einer befreundeten Galerie (*) bis hin zum großen internationalen Projekt, einer Biennale oder etwas Ähnlichem (***). Besonderer Beliebtheit erfreuen sich in diesem Buch die Kapitel dazu, wie Gerichte mit einer begrenzten Menge Zutaten herzustellen sind. Handelt es sich zum Beispiel um eine warme Mahlzeit, so braisieren wir sie in einer kräftigen Sauce aus feministischer Theorie – gegart bei gemäßigter Temperatur, in wohlgewählten Proportionen. Die Sauce ist dabei das Wichtigste überhaupt: sie muss so zubereitet werden, dass sie selbst Vegetarier darüber hinwegtäuscht, dass sie gerade Fleisch zu sich nehmen, bzw. dass auch passionierte Fleischesser nicht bemerken, dass sie es mit exotischen Gemüsesorten zu tun haben.

5. Zäune und Pforten
Aus der Kunst verschwindet die Figur des Meisters und damit der sichtbare Horizont individuellen Könnens. Den Lehrmeister zu übertreffen – den Horizont der bekannten Kunst zu erweitern – ist zur unlösbaren Aufgabe geworden. In der übervölkerten Welt der Gegenwartskunst ist jene Linie nicht mehr zu sehen, an welcher Himmel und Erde aufeinandertreffen. Man sieht sich umringt von einem dichten Zaun aus Vorschriften der Kunstwelt, geschrieben auf Englisch, denn gemäß stillschweigender Übereinkunft gilt Englisch als allgemeingültig und universell. Je mehr du erfährst, desto mehr Latten fasst dein Zaun; denn jede neue Erkenntnis in dieser Welt bedeutet eine neue Anleitung, nach der du das Format jeder einzelnen deiner Ideen durchschauen sollst. Bist du neugierig genug und hast du ein Auge für Details, so wächst die Zahl der Latten so schnell, dass du keine Zeit mehr hast, sie nach eigenem Dafürhalten zu ordnen – und irgendwann, wenn du eine freie Minute hast, vielleicht in einem Flugzeug, das dich über den Ozean zum nächsten noch nicht geborenen Projekt trägt, fällt dir auf: 1) zwischen den Latten des Zauns ist gar kein Licht mehr zu sehen (absolut hermetischer Abschluss); 2) die Latten sind mittlerweile in mehreren Reihen angeordnet (perfekter Schutz vor der Außenwelt); 3) der Zaun beinhaltet längst neue Latten – und da diese im selben Abstand zueinander stehen wie die ersten, ist der Kreis so riesig, dass du vermutlich den Himmel sehen könntest, wenn du dich daran erinnern würdest, dass das aus irgendwelchen Gründen wichtig ist.

Jedes Mal, wenn du den Wunsch verspürst, den Himmel zu sehen, hast du schon eine Pforte im Zaun entdeckt und sie geöffnet; und beinahe bist du schon vor den Zaun getreten.

6. Form und Rahmen
Gegenwartskunst brüstet sich gern mit betonter Rationalität in künstlerischer Geste und Methode. Diese Rationalisierung beinhaltet keine Exklusivitäten, wenn auch deutliche Prioritäten. Es gibt den Wert der sozialen Verantwortung und Aktualität einer Aussage. Ferner gibt es das Streben, die „künstlerische Aussage“ im Rahmen des Vorgesehenen zu definieren. Doch steht hinter jedem Werk die ästhetische Erfahrung aus dem Schaffensprozess, welcher wiederum die ästhetische Erfahrung in der Wahrnehmung folgt. Diese Erfahrungen haben ihren Ursprung in Emotionen: handelt es sich im Schaffensprozess noch um ein Wallen und Brodeln, dem der Künstler schließlich Form verleiht, so müssen sich die hervorgerufenen Emotionen dort, wo das Werk auf Wahrnehmung trifft, nicht mehr verändern; sie dürfen unausgesprochen in der Luft hängen als Begeisterung, Entsetzen, Erstaunen, Ekel oder Unverständnis. Doch geben die in der Kunstwelt üblichen Konventionen den Emotionen oftmals Rahmen vor, bestehend aus genauem Wortlaut und Definitionen.
Die emotionale Natur des Ästhetischen ist eine maßgebliche Komponente sowohl für die Entstehung eines Werks als auch für seine Wahrnehmung. Für die künstlerische Kreativität sind Emotionen wie frische Luft und Freiheit, in welcher ein Material seinen Weg zur späteren Form findet. Die Form ist hier als natürliche und notwendige Grenze zu verstehen, als Endstadium der Bearbeitung der Welt im Sinne der Vollendung einer künstlerischen Aussage. Emotion und Form sind Bestandteile der Formel für Ästhetik allein auf der Entstehensseite eines Kunstwerks. Auf der Wahrnehmungsseite stehen Emotion und Rahmen als unbekannte und bekannte Größe: Die nicht vorhersehbare (oder nur bedingt vorhersehbare) Emotion im wahrnehmenden Bewusstsein richtet sich nach dem jeweiligen Rahmen; der Rahmen wiederum ist einer ausgewogenen Liste zu entnehmen, die der Kontext fürsorglich bereithält.

7.Verbote und Sanktionen
Der Kontext liefert den Rahmen für die Wahrnehmung; hierfür steht ihm ein Arsenal verschiedenster Möglichkeiten zur Verfügung, in welchem er individuelle Kenntnisse und Vorlieben des Wahrnehmenden sowie Werte und Regeln verschiedener Kulturen und Gesellschaften einander zuordnet. Der Kontext ist flexibel, je nach den Bedingungen, unter welchen Kunst im konkreten Fall existiert, kann er größer oder kleiner ausfallen. Er selbst ist nicht an den Rahmen der Ästhetik gebunden; ist er klein und konzentriert, kann er sich als überaus politisch oder gar ethisch erweisen. Da er Extremwerte annehmen kann, lässt sich auch von Verboten und Sanktionen sprechen, die sowohl für die Entstehung als auch für die Wahrnehmung eines Kunstwerks Meta-Grenzen darstellen können. Am wenigsten produktiv wäre wohl das Szenario einer Verwandlung des Ästhetischen ins Ethische. So entstehen zusätzliche Grenzen oder werden kultiviert. Dies sind moralische Gebilde im Bereich des Ästhetischen. Das führt zum Konflikt: die Regeln der Moral fordern, Emotionales zu unterdrücken, das Ästhetische aber kann nicht existieren ohne emotionales Handeln oder Zutun.

Künstlerische Arbeit ist ihrem Wesen nach ein emotionaler Prozess, der möglicherweise ausschließlich um der Kunst willen existiert. Der Prozess selbst ist extrem wichtig; mit allem, was er hat, strebt der Künstler der Vollendung zu. Die im Reglement noch gefeierte Vernunft erliegt dabei den Gesetzen des Praktischen und Unmittelbaren und fügt sich in emotionaler Erschöpfung.