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Berlinale-Blogger*innen 2022
„Brother in Every Inch“ – Ein Kriegsfilm über den Frieden mit sich selbst und der Welt

Sergey Zhuravlev, Nikolay Zhuravlev_Brother in Every Inch_© Proline Film
Sergey und Nikolay Zhuravlev in Alexander Zolotukhins Film „Brother in Every Inch“ 2022 | Photo (Detail) © Proline Film

In der Sektion „Encounters“ des Berliner Filmfestivals Berlinale wurde der Film „Brat vo vsyom“ (Engl. Brother in Every Inch) von Alexander Zolotukhin gezeigt – ein zerbrechlicher, zärtlicher und hundertprozentig pazifistischer Film über Soldaten, gedreht mit Unterstützung des russischen Verteidigungsministeriums.

Von Egor Moskvitin

Vor drei Jahren haben wir Alexander Zolotukhin schon einmal in Berlin gefeiert. Damals wurde auf der Berlinale sein Film „A Russian Youth“ (Rus. Мальчик русский / Malchik russkiy) gezeigt – die Geschichte eines unbeholfenen Teenie-Soldaten, der die Erwachsenen darum anfleht, ihn mit in den Krieg zu nehmen. Getrieben wird er von seinem Gewissen und dem Hunger nach einem Leben, das sinnerfüllt ist. Nachträglich wird dieser Krieg mit einer Ordnungszahl belegt: es ist der Erste Weltkrieg. Und der Junge, der nach einer chemischen Attacke erblindet, bekommt einen Zwilling aus der Zukunft zur Seite gestellt: einen modernen russischen Jugendlichen, der in Sankt Petersburg in einem Orchester spielt. Die Welt der Musik wird zur Alternative zum Massengrab im Schützengraben, und die realistische Dokumentarfilmtechnik der Orchesterproben zur Antithese der Kriegsszenen, die von einer theatralischen Tragik gezeichnet sind.

Die Filmidee scheint also auf der Hand zu liegen: die Gewehre hätten genauso gut Musikinstrumente sein können, und die Geigen Waffen. Alexander Sokurov, der wahrscheinlich im Western anerkannteste russische Regisseur und Lehrmeister von Alexander Zolotukhin, antwortete kürzlich auf die Frage, was junge Menschen in Russland bewegt: „Der Hunger nach Gerechtigkeit und Schönheit.“ „A Russian Youth“ ist, wie es scheint, ein Film genau über das – über die Gleichheit im Bemühen des Spielzeugsoldaten und des traurigen Musikers.

„Brother in Every Inch“ befasst sich ebenfalls mit soldatischer Brüderlichkeit und mit einer Welt von Menschen, die von Berufswegen her auf den Krieg warten; und doch zeichnet ihn paradoxerweise eine pazifistische Haltung aus. Die Hauptdarsteller sind Zwillingsbrüder (die Schauspieler Sergey und Nikolay Zhuravlev), Kadetten, die im Fliegen von Militärjets ausgebildet werden. Ihre unzertrennliche Verbundenheit hindert sie jedoch daran, zu einer Kampfeinheit zu werden. Der vermutlich ältere Bruder lässt den vermutlich jüngeren nicht die Tragflächen steuern. Und der Jüngere reißt den Älteren mit zu Boden.
 

 Sergey Zhuravlev, Nikolay Zhuravlev und Mikhail Klabukov in Alexander Zolotukhins Film „Brother in Every Inch“ 2022 | © Proline Film Sergey Zhuravlev, Nikolay Zhuravlev und Mikhail Klabukov in Alexander Zolotukhins Film „Brother in Every Inch“ 2022 | © Proline Film

„Brother in Every Inch“ wirkt so, als sei der US-amerikanische Blockbuster „Top Gun“ durch den russischen Klassiker Alexandr Sokurov neu gedreht worden. Anstelle draufgängerischer Flugmanöver wird das schwere Leben der Piloten in den Metallkäfigen ihrer Kabinen und einer vakuumgleichen, von unbarmherzigem Maschinenlärm gefüllten Leere gezeigt. Anstelle von Muskelspielen und Testosteron-Injektionen steht eine zerbrechliche Körperlichkeit. Die einzige Szene, in der ein durch Fahrlässigkeit verletzter Soldat zu sehen ist, verstärkt bei den Zuschauenden nur die Angst vor dem Krieg. Und anstelle sich immer und immer wieder am typischen Verhalten von Soldaten abzuarbeiten, wird ein von jeder Heroik befreiter Alltag in der Armee gezeigt.

In der wohl tragischsten Szene werden die Kadetten dazu angehalten, die Sümpfe von Vögeln zu befreien, die das Training stören. Als die Vögel auffliegen, sollen die Soldaten das Schilf anzünden. Eine der Hauptfiguren verirrt sich während des Brandes zwischen den hochgewachsenen Gräsern und stößt auf zwei Jungvögel – eine Metapher auf die Zwillingsbrüder. Es gelingt nicht, sie in Sicherheit zu bringen; doch der Soldat schafft es, sich selbst und damit die eigene Familie zu retten.
 
Mikhail Klabukov in Alexander Zolotukhins Film „Brother in Every Inch“ 2022 | © Proline Film Mikhail Klabukov in Alexander Zolotukhins Film „Brother in Every Inch“ 2022 | © Proline Film

In Zolotukhins Film harmonieren Dinge, die in Armeefilmen über lange Zeit nicht miteinander vereinbar waren: eine Wertschätzung gegenüber dem Offizierswesen und Pazifismus; die Faszination für eine Technik, die von menschlicher Hand entworfen wurde und der Unwille, diese Technik in Gang zu setzen; Heroik und Zerbrechlichkeit, Jungenhaftes und Männliches. Cool, dass gerade ein europäisches Festival zur Startbahn dieses russischen Filmes geworden ist.

Der Film „Brat vo vsyom“ kommt ab dem 3. März 2022 in die russischen Kinos (Anm. d. Red.).
 

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