Übersetzungs-Workshop
Die Versschmuggler

Asmus Trautsch und Gala Uzrjutova
Asmus Trautsch und Gala Uzrjutova | Foto: © VERSschmuggel

Deutsche und russische Dichter haben an einem besonderen Übersetzungsworkshop teilgenommen. Was ist dabei entstanden?

Der Übersetzungsworkshop „VERSschmuggel“ fand in mehreren Ländern statt, von Finnland und Spanien bis Israel und Korea (entscheidend bei diesem Projekt ist, dass die Sprachen so weit wie möglich voneinander entfernt sein sollen). 2015 ist dieses Gemeinschaftsprojekt der Literaturwerkstatt Berlin und der Goethe-Institute in Moskau und St. Petersburg nun auch in Russland angekommen.

Die Idee, die dem Projekt zugrunde liegt, ist das Nebenprodukt einer langen Diskussion in der Literaturwerkstatt Berlin. Nach der deutschen Wiedervereinigung begann man zwei gegensätzliche Herangehensweisen bei der literarischen Übersetzung zu diskutieren. Die Übersetzungspraxis in der DDR begründete sich auf der Nachdichtung, welche von einem „Literaturarbeiter“ besorgt und dann von einem professionellen Lyriker oder einer professionellen Lyrikerin zu einem Gedicht verarbeitet wurde. Lyrikübersetzungen in der BRD dagegen waren vollkommen den Übersetzerinnen und Übersetzern überlassen. Natürlich gab es oftmals Ausnahmen von diesen Regeln.

Umso einzigartiger ist die Erfahrung, wenn Übersetzungen in Anwesenheit des Autors oder der Autorin entstehen, wie es beim „VERSschmuggel“ geschieht. Natürlich lässt sich das Ergebnis dieser Arbeit nicht auf das Wort „Übersetzung“ reduzieren, eher handelt es sich um eine Fortsetzung eines Gedichts, um eine Entwicklung eines dichterischen Themas am Material einer anderen Sprache.

Während des Workshops trafen also deutsche und russische Dichterinnen und Dichter direkt aufeinander – und mussten jeweils die Texte des oder der Anderen übersetzen. Sie arbeiteten einige Tage paarweise, wobei sie sich auf eine Nachdichtung stützten und Hilfe von einer qualifizierten Übersetzerin bekamen. Dabei gingen einige der Lyrikerinnen und Lyriker während der praktischen Arbeit zum Englischen über und nahmen die fremde Hilfe nur in besonders schwierigen Fällen in Anspruch. Während des Vortrags endlich lasen die Dichterpaare ihre Gedichte und Übersetzungen in willkürlicher Abfolge vor, und es blieb den Zuhörerinnen und Zuhörern überlassen herauszufinden, was Original und was Übersetzung war.

Die Eindrücke von den Vorträgen waren so unterschiedlich wie die Paare selbst. Manchmal schienen die Unterschiede direkt in der scheinbaren Ähnlichkeit auf. So verwiesen beispielsweise Daniela Danz und Jewgeni Proschtschin die Zuhörerinnen und Zuhörer jeweils an das Genre der Elegie. Aber im Prozess der Arbeit an der parallelen Übersetzung wurde der Unterschied in ihrer Herangehensweise deutlich. So spricht Proschtschin über „eine Poesie der rechten Gehirnhälfte, eine Poesie des programmatischen und des konzeptuellen Gedankens“. Demgegenüber steht Danz‘ Begriff von einer Poesie des Gefühls, der deduktiven Methode. Daniel Falb und Denis Larionow arbeiten beide im Genre einer philosophischen, existentialistischen Lyrik (besonderen Erfolg beim Publikum hatte das Gedicht über Edward Snowden). Steffen Popp und Jewgenija Suslowa, Lea Schneider und Iwan Sokolow präsentierten ihre Übersetzungen von Texten der Anderen, die einer ornamentalen, abstrakten Poesie im Geiste Chlebnikows zugerechnet werden können. Asmus Trautsch und Gala Usrjutowa hatten wohl den originellsten Vortrag vorbereitet: Sie lasen zweistimmig. Linus Westheuser und Lew Oborin arbeiten auf völlig unterschiedliche Weise. Westheuser las seine durch und durch komischen Verse (unter anderem ist er Mitglied des Berliner Lyrikkollektivs), Oborin stellte dem Publikum sein an den Präsidenten gerichtetes Gedicht vor, welches ziemlich düster klang.

Natürlich werden die deutschen Dichterinnen und Dichter während des Übersetzens und mit dessen Ergebnis in die russische Lyriktradition eingeschrieben. Dasselbe galt für die russische Lyrik (und die Gedichte für den Workshop wurden extra ohne Rücksicht auf ihre Schwierigkeit beziehungsweise Übersetzbarkeit ausgewählt). Russische Lyrik ins Deutsche zu übersetzen, galt meistens als schwierig. Aber während des Projekts war es bis zu einer bestimmten Stufe möglich „den Raum des deutschen Gedichts zu dehnen und zu verändern und jene Freiheit syntaktischen Denkens zu erreichen, welche uns in jedem Gedicht so viel wert ist“ (wie es Iwan Sokolow ausdrückte).

Das Ergebnis der Erfahrungen aus der Übersetzerwerkstatt wurde aufgezeichnet und wird auf das internationale Audioportal lyrikline.org gestellt sowie im Wunderhorn Verlag (Leipzig) und im Verlag OGI (Moskau) veröffentlicht. Dazu gibt es einen QR-Code, über den man zum Audiomaterial gelangen kann.

Der Auftritt des Übersetzers Hendrik Jackson war ein origineller und logischer Abschluss der Aufführung. Jackson hatte ein Gedicht aus Fragmenten von Gedichten des Lyrikerpaares verfasst, denen er zur Seite gestanden hatte, nämlich Daniel Falb und Denis Larionow. Jackson unterzog die Möglichkeiten der Lyrikübersetzung wohl eher dem Zweifel. Die Collage endete mit dem Satz: „Переводи это! Übersetz das!“ und der selbstbewussten Übersetzerreplik: „No!“ Im Folgenden erzählen vier russische Lyriker über die Arbeit in der Werkstatt. Mit ihnen sprach Wiktoria Djadkina.

Lew Oborin

Ich habe zusammen mit dem deutschen Lyriker Linus Westheuser gearbeitet. Wir haben jeder vier Übersetzungen voneinander angefertigt, welche wir in Moskau und Nischni Nowgorod vortrugen. Obwohl unsere Arbeitsmethoden in vielerlei Hinsicht gegensätzlich sind, konnte jeder von uns nachvollziehen, was den anderen interessiert und wie er arbeitet. Meine Texte beispielsweise sind kürzer, ich arbeite mit verdichteten, sich überlagernden Bedeutungen, er dagegen greift oft zum automatischen Schreiben, zur Methode des freien Assoziierens und einem eher zerstreuten Vers. Gleichzeitig rückt seine Lyrik wie die Gedichte der Moderne Symbole, welche in Beziehung zu geschichtlichen Realien stehen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. So wird beispielsweise in dem Gedicht „Gelbe Kühe“ über ein expressionistisches Bild, das mit der Kindheit in Verbindung steht, eine Vorstellung von der Tragödie des Holocausts vermittelt. Zweifellos ist es ein großes Plus, wenn man die Möglichkeit hat, eine Übersetzung autorisieren zu lassen, mit dem Autor darüber sprechen zu können, welche Bedeutungen er wo hineinlegt und welche Details man weglassen kann. Aber wenn ein Übersetzer dabei nicht weiß und fühlt, wie Lyrik funktioniert, wird er auch keine Lyrik hinbekommen. Uns wurde die Aufgabe dadurch erleichtert, dass mit uns und mit den anderen Lyrikerinnen und Lyrikern professionelle deutsch-russische Übersetzerinnen und Übersetzer gearbeitet haben – in unserem Fall war es Olga Aspissowa, welche uns in jeder Situation half, egal, wie schwierig es war.

Der „Schmuggel“ im Projekttitel verweist auf die Bedeutungsübertragung, welche bekanntlich niemand sanktioniert.

Ich kann nicht in vollem Umfang die Übersetzungen meiner Texte beurteilen, die Linus angefertigt hat, aber insgesamt bin ich mit ihnen zufrieden, er hat gut gearbeitet. In ihnen gibt es Besonderheiten, welche beispielsweise damit zusammenhängen, dass man in der heutigen europäischen Lyrikszene viel weniger an ein dichterisches Regelwerk, an Metrik und Reim gebunden ist, aber einige Anklänge daran hat Linus beibehalten, und zwar auf ziemlich originelle Weise. Mit meinen Übersetzungen von Westheusers Texten bin ich auch zufrieden – ich fühle, wie sie klingen. Wenn man verstehen will, ob ein Text gelungen ist, spielt der Klang eine große Rolle.

Natürlich hat niemand Diversion betrieben. Der russische Titel („DiVERSija“) ist ein Wortspiel mit der Wurzel „Vers-", welche es in verschiedenen europäischen Sprachen gibt. Das deutsche Wort „Schmuggel“ verweist auf die Bedeutungsübertragung, welche bekanntlich niemand sanktioniert. Wir kennen das Mandelstam-Zitat: „Ich teile jedwede Literatur in erlaubte und verbotenerweise geschriebene. Das erste ist Dreck, das zweite – gestohlene Luft.“ In solch einem Kontext sollte man es vermutlich verstehen.

Jewgeni Proschtschin

Ich habe zusammen mit Daniela Danz gearbeitet. Ich habe nicht ganz verstanden, wer die Paare zusammengestellt hat, ich glaube, es war eine gemeinsame Entscheidung, obwohl Hendrik Jackson gesagt hat, dass er dabei etwas zu sagen hatte. Ich denke, das grundlegende Prinzip besteht darin, dass man Paare nicht nach Ähnlichkeit, sondern nach den Schnittpunkten ihrer Poetiken auswählt. Eigentlich waren sich alle einig, dass die Zusammenstellung gelungen war. Ich konnte vier von fünf Texten übersetzen. Alle waren von mittlerem Umfang.

Ich bin überzeugt, dass Lyrik von Lyrikern übersetzt werden muss. Ich glaube, dass sich jemand, der es gewöhnt ist, alle möglichen Texte zu übersetzen, nicht genau vorstellen kann, was das ästhetische Ganze ist, welches meistens keine nachahmende Übereinstimmung bis hin zu den Satzzeichen erfordert, sondern die Suche eines Äquivalents, welches das weiterentwickelt, was das Original beinhaltet.

Ich kann kein Deutsch. Aber das war kein großes Problem. Erstens war das Niveau der Rohübersetzung sehr gut, sie war bereits sehr genau und uns während des Übersetzens eine große Hilfe. Zweitens hat uns Jelisaweta Sokolowa ungemein geholfen, die Übersetzerin für unser Paar. Drittens kann Daniela Danz Russisch, sie hat es in der Schule gelernt und das hat auch seinen Beitrag geleistet. Wir fingen damit an, dass wir viel geredet haben, nicht über die konkreten Texte, sondern über die Prinzipien unserer Poetiken. Dadurch ergab sich ein ganz klares Verständnis von der Übersetzungsstrategie, was sich jeden Tag weiter festigte. Wir arbeiteten oft parallel, übersetzten zur gleichen Zeit unsere Texte gegenseitig, was überhaupt nicht störte. Mir gelang nicht alles, aber viel, teilweise war ich zufrieden. Daniela ihrerseits hat meine Texte hervorragend erspürt. Viele sagten, dass wir in unserem Paar eine gewisse Ganzheit erreicht hätten. Das betrifft nicht nur die Wörter und ihre Bedeutungen, sondern auch die rhythmische Basis, welche wir einzufangen und zu vermitteln versuchten.

Iwan Sokolow

Mein Visavis war Lea Schneider, eine Kollegin von Linus Westheuser, die früher bereits mit Lew Oborin paarweise gearbeitet hatte, in der literarischen Vereinigung G13. Ihre Texte sind „Gedichte in Prosa“, was meine Aufgabe gleichzeitig erleichtert und erschwert hat. Ich kann ganz gut auf Deutsch lesen, dafür bin ich aber, was das Reden angeht, sehr gehemmt. So habe ich nicht nach der Nachdichtung übersetzt, sondern nach dem Original, und in gewissem Sinne konnte ich damit sprachliche Barrieren umgehen. Trotzdem holten wir uns Hilfe bei unserer „Sprachmittlerin“, der Übersetzerin Wladislawa Agafonowa, die nicht nur übersetzte, sondern auch lektorierte.

Lea kann natürlich kein Russisch lesen, deshalb zerteilte sich ihre Wahrnehmung ganz den Spielregeln der „Lyrischen DiVERSion“ entsprechend zwischen der deutschen Interlinearübersetzung, Wladislawas Kommentaren auf Deutsch, meinen auf Englisch und meinem Vortrag des Originalgedichts auf Russisch. Der Vortrag des Textes ist einer der Schlüsselmomente beim Übersetzen. Das Zuhören, wenn der Dichter oder die Dichterin seinen oder ihren Text vorträgt, ist unglaublich wichtig. So sind beispielsweise Daniel Falbs Texte durch und durch feindlich gegenüber allem gesinnt, was ich mache, sie rufen in mir das Gefühl kategorischer Ablehnung einer solchen Art zu denken hervor, alle meine Texte verneinen wütend die Möglichkeit solcher Erfahrungen, wie sie uns in Falbs Gedichten präsentiert wird. Und dann muss man nur einmal hören, wie Daniel sie vorliest, und alle Fragen verschwinden und man begreift einfach mit jeder Faser seines Körpers, dass dies Lyrik der ganz großen Schule ist.

Wir versuchten, das imaginäre Bild des Gedichts so zu rekonstruieren, wie es ausgesehen hätte, wenn ich es ursprünglich nicht auf Russisch, sondern auf Deutsch geschrieben hätte.

Lea und ich hatten zu Beginn der Arbeit in der Übersetzerwerkstatt so gut wie keine Vorstellung von zeitgenössischer Lyrik im jeweils anderen Land. Das war eins der am schwersten zu überwindenden Hindernisse: Stellen Sie sich vor, dass Sie Puschkin lesen und nicht nur Batjuschkow und Baratynski nicht kennen, sondern auch nicht einmal Schukowski und Karamsin.

Ich mag Leas Herangehensweise ans Übersetzen sehr, welche von einem Kopieren mit sprachwissenschaftlicher Buchstäblichkeit genauso weit entfernt ist wie von der vereinfachenden Nacherzählung des Originals. Wir versuchten, das Gesagte nicht nach dem gleichen Muster zu übersetzen, sondern das imaginäre Bild des Gedichts so zu rekonstruieren, wie es ausgesehen hätte, wenn ich es ursprünglich nicht auf Russisch, sondern auf Deutsch geschrieben hätte. Eine der rein empirischen Annahmen war, dass ich, um mein Ziel im Deutschen zu erreichen, wohl beispielsweise nicht auf das verzweigte, morphologische System der russischen Substantive zurückgreifen würde, welche ganz unterschiedlich mit der Verbvalenz funktionieren, indem ich in ihr neue syntaktische Positionen entdecken und die erforderlichen ignorieren würde, sondern dass ich deutsche Komposita benutzen würde, zusammengesetzte Substantive, mit denen man auf neue Art die Syntax des Originals durchspielen könnte.

Denis Larionow

Ich hatte das Glück, zusammen mit Daniel Falb arbeiten zu können, ein überaus interessanter und bei uns fast unbekannter Dichter mittleren Alters. Für ihn eine Entsprechung in der russischen Lyrik zu finden, ist so gut wie unmöglich (vielleicht Alexei Parschikow, aber nur ansatzweise). Ich weiß, dass Hendrik Jackson, Dichter und Übersetzer russischer Lyrik, mit dem ich schon länger bekannt bin, die Zusammenstellung unseres „Paares“ mit beeinflusst hat: Er hat auch Aurélie Maurin, die Kuratorin von „VERSschmuggel“, davon überzeugt, dass Daniel und ich zusammen arbeiten sollten.

Ich hatte keine Eile – das Projekt war ja auf ein halbes Jahr angelegt – und bin sofort an zwei Texten aus Falbs Zyklus „Fünf Texte Drei“ hängen geblieben. Daniel hat mir ziemlich ausführlich über die Konzeption des Zyklus erzählt, aber einige Dinge muss ich für mich noch klären: Der Zyklus ist angefüllt mit einer Vielzahl literarischer Anspielungen, die der Dichter manchmal ironisch (sogar sarkastisch) verarbeitet hat, mit einer Masse an Fakten und wissenschaftlich-philosophischen Informationen. Falb ist ein überaus schwieriger Autor, und ich bin Hendrik Jackson – wie auch Jelisaweta Sokolowa und Olga Aspissowa – dankbar für ihre Hilfe und ihre Beratung.

Tatsächlich ist diese Übersetzungserfahrung für mich die erste. Und viele Fragen, welche für meine Kollegen bereits „gelöst“ waren (so scheint mir), tauchten für mich zum ersten Mal auf. Aber umso interessanter ist es, in die unbekannte Welt eines Textes einzutauchen, welcher auf einer anderen Sprache geschrieben wurde: Ich denke, dass eben darin die „Diversion“ steckt, die der russische Titel des Projekts in sich trägt.