Bildung für nachhaltige Entwicklung
„Das Wichtigste ist der Dialog auf allen Ebenen“

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Foto © Katrin Scheib

Anfang Dezember hat in Kasan die Konferenz „Winterakademie: Bildung mit Europa“ stattgefunden, an der Frau Sövegjarto-Wigbers, Koordinatorin des Umweltmanagementsystems am Zentrum für Umweltforschung und nachhaltige Technologien an der Universität Bremen, teilgenommen hat. Ihr Vortrag war der Bildung für nachhaltige Entwicklung gewidmet, einem Konzept bzw. einer Idee, die bereits seit den 1970-er Jahren diskutiert wird. Im Interview hat sie erzählt, wie das Konzept einer Bildung für nachhaltige Entwicklung das Bildungssystem verändern kann, welche Rolle dabei die Aktivisten spielen und warum Präsident Donald Trump eine „Katastrophe“ für die globale Umweltbewegung ist.

Wie soll das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung in das vorhandene russische Bildungssystem eingebunden werden?

 
Ich kenne mich mit dem russischen Bildungssystem nicht aus, kann aber gern von einigen Projekten und Ideen berichten. In Deutschland gibt es sehr viele Initiativen, die das Bildungssystem unter dem Aspekt des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung verändern möchten. Es gibt einige Bildungspläne, die das schon aufgenommen haben, dass Bildung für nachhaltige Entwicklung im Unterricht stattfinden muss. Unterricht heißt, in der Schule, in der Sekundarstufe eins und zwei. Ich rede jetzt nicht von Universitäten, sondern von der Schuldbildung. Wenn wir jetzt auf die Universitätsebene gehen, dann spielt Bildung für nachhaltige Entwicklung eine große Rolle bei den General Studies. Ich weiß nicht, ob es das in Russland auch gibt, dass im Rahmen von einem Studium, egal, welches Fach man hat, immer ein bestimmter Anteil General Studies ist, das heißt allgemeinbildende Themen. Da spielt Bildung für nachhaltige Entwicklung eine große Rolle.
 
Auch wenn Sie mit dem russischen Bildungssystem nicht vertraut sind, so verstehen Sie sicher, dass es nur selten und ungern Veränderungen gibt. Unlängst gab es allerdings Änderungen im Zusammenhang mit dem Einstieg in das Bologna-System; bei uns wurde eine Art Abitur eingeführt, und jetzt gibt es einige fakultative Fächer, wie zum Beispiel Religion. Wie könnte man Ihrer Meinung nach unter diesen Bedingungen Bildung zur nachhaltigen Entwicklung integrieren? Sind in der nächsten Zeit Änderungen möglich?
 
Ich kann mir nicht anmaßen, das zu beurteilen. Für mich ist das unheimlich schwierig, weil mir das System nicht vertraut ist. Bildung für nachhaltige Entwicklung in der Lehre einzuführen, funktioniert nur, wenn es im Bildungsplan und auch in den Curricula verankert ist. Nur wenn es prüfungsrelevant ist, kann man das umsetzen. Wenn es freiwillig ist, macht das keiner, weil die Anforderungen im Studium überall so enorm hoch sind, dass man keine Zeit hat, was außerhalb zu machen. Würde man dafür aber Leistungspunkte bekommen, dann wird das ganz anders wahrgenommen. Ohne dem geht es einfach nicht.
 
Ich kann das an einem praktischen Beispiel erläutern. Ich selbst bin Chemikerin, habe Chemie studiert, und in der Chemie früher hat man anorganische Chemie gemacht, organische Chemie – also alles schön chemisch fachlich. Seit wir die General Studies haben, müssen wir aber auch außerhalb des Fachs bestimmte fakultative Lehrveranstaltungen belegen. Und so haben wir ein bisschen Flexibilität ins Studium gebracht, sodass man auch über den Tellerrand hinaus studieren kann.
 
Mir scheint, dass es bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung, ganz gleich, ob es sich nun um ökologische, ökonomische oder soziale Aspekte handelt, auch um praktische Beispiele im Alltagsleben geht. Ist das nicht so? Besonders betrifft das natürlich das Umweltbewusstsein.
 
Ich sehe das genauso, man muss Beispiele haben. Ich verfolge da an der Universität – ich komme von der Uni Bremen – verschiedene Beispiele. Lehrbeispiel ist, dass ich versuche, dass der Chemieunterricht in der Schule interdisziplinär gemacht wird. Das heißt, Chemie nicht nur so zu unterrichten, wie ich eben erläutert habe, sondern insbesondere auch in Verknüpfung mit der Politik. Wir haben in Deutschland eine ganz spezielle Geschichte mit der Chemie gehabt, wir hatten Umweltverschmutzung, verschmutzte Gewässer, viel Luft- und Bodenverschmutzung. Und jemand, der in der Chemie arbeitet, muss auch lernen, mit der Umwelt umzugehen. Er muss darauf achten, wie er Chemikalien handhabt. Das kann man nur anhand von Beispielen machen. Sie müssen zum Beispiel wissen, wenn Sie jetzt ein Handy haben, das rot ist, wo der rote Farbstoff herkommt. Wie wird der hergestellt, der rote Farbstoff? Welche Auswirkungen hat das auf die Umwelt? Wenn wir solche Farbstoffe herstellen, wie verschmutzen diese das Gewässer? Wie kann ich verhindern, dass das Gewässer verschmutzt wird? Das muss man von klein auf lernen.
 
Wir haben uns mit Ihnen in einem der aktivsten Erdölförderregionen Russlands getroffen. In diesen und anderen Bereichen, beispielsweise auch in der Pharmakologie, kommt es vor, dass große Unternehmen in das Bildungssystem vordringen wollen, um dort für ihre Interessen zu „werben“ (ich vermeide hier das Wort Lobbyarbeit, das etwas übertrieben wäre). Gibt es solche Beispiele auch im Bereich der Ökologie in Deutschland? Und wenn ja, wie gehen Sie damit um?
 
Bei der Erdölförderung muss man aufpassen; das ist eine große Gefahr, das sehe ich auch so. Die Lehrer und Dozenten haben hier eine große Verantwortung. Aber nichtsdestotrotz muss man ja auch gucken, wie Bildung finanziert wird. Wir leben in Zeiten - das ist in Russland sicherlich nicht anders als in Deutschland -, wo Bildung ganz wenig Geld hat. Man muss das auch immer hinterfragen. Wenn Sie hier die Erdöllobby haben, muss man natürlich kritisch darüber diskutieren, wie es mit der Erdölverbrennung aussieht, wie es um die CO2-Emissionen steht. Was bewirken die CO2-Emissionen? Und wir müssen verhindern, dass möglichst viel Erdöl verbrannt wird. Das ist einfach eine Vergeudung von Ressourcen. Da spielt wieder das Konzept der nachhaltigen Entwicklung eine große Rolle. Die Dozenten und Lehrer sind immer wieder gefordert, diese Verknüpfungen herzustellen, sie den Schülern aufzuzeigen. Die Schüler müssen lernen, diese Dinge zu hinterfragen. Fragen zu stellen, ist das allerwichtigste. Also in Deutschland haben wir eine sehr starke Umweltgesetzgebung. Da gibt es viele Initiativen, die bei der Industrie, sei es nun die Erdölindustrie oder andere Branchen, darauf achten, dass die Umweltgesetze eingehalten werden. Die Bürgerinitiativen, also die Aktivisten, achten genau darauf, wie die Emissionen sind und ob die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Wenn sie das nicht machen, spielt die Presse eine ganz große Rolle und hat auch Einfluss.
 
Mir scheint, dass das Konzept von der nachhaltigen Entwicklung eine „linke“ Idee ist, in dessen Rahmen sowohl in Europa als auch in Russland unter anderem das endlose Wirtschaftswachstum kritisiert wird. Liege ich da richtig oder läuft das eher außerhalb von Ideologien?
 
Ich würde nicht sagen, dass das apolitisch ist; es muss ja politisch sein, da es ja um die Organisation unserer Gesellschaft geht. Aber für mich als Naturwissenschaftlerin steht natürlich der Umweltschutz ganz klar im Vordergrund. Wir dürfen aber auch nicht die Geschlechtergerechtigkeit oder die Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Konfessionen vergessen. Armutsbekämpfung spielt ebenfalls eine große Rolle. Von einer „linken Idee“ würde ich nicht sprechen. Da muss man aufpassen, dass man sich nicht in diese Ecke drängen lässt.
 
Noch eine letzte mit der Politik verbundene Frage: Wirkt es sich auf Ihre Arbeit und Ihre Ansichten aus, dass ein Mensch zum Präsidenten eines der einflussreichsten Länder der Welt gewählt wird, der die Existenz vieler ökologischer Probleme anzweifelt, beispielsweise die globale Erwärmung? Stört es ihre Arbeit, dass er die Meinung der Menschen nicht nur in Amerika, sondern weltweit beeinflusst? Immerhin ist er eine wichtige Person, die gut mit den Medien zusammenarbeitet, aber eben nicht in Ihrem Sinne.
 
Ich finde das eine absolute Katastrophe. Gerade wenn man die Klimaschutzabkommen betrachtet und weiß, was das in den letzten Jahren für ein Kampf war, dass die USA endlich beitreten und mitmachen. Und jetzt kommt so einer und sagt, es würde keinen Klimawandel geben. Ich hoffe, dass es viele, viele Stimmen gibt, die ihn eines Besseren belehren.
 
Jetzt zurück zu Russland. Bei uns sind im letzten Jahr viele Projekte ins Leben gerufen worden, die verschiedene Themen populärer machen wollen, hauptsächlich im Bereich der Geisteswissenschaften. Ich weiß, dass Sie sich mit Russland nicht so gut auskennen, aber halten Sie es für möglich, dass es in Zukunft Publikationen oder vielleicht auch eine Webseite zur Förderung nachhaltigen Entwicklung geben wird? Gibt es solche Projekte in Deutschland? Und wenn ja, wie arbeiten diese?
 
In Deutschland gibt es ein zentrales Büro, das sich um die Bildung für nachhaltige Entwicklung kümmert. Da gibt es die Webseite die Webseite www.bne.de, die man sich anschauen und von der man sich viel abgucken kann. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es so etwas in Russland auch gibt. Ich weiß nicht, wie die russische Regierung dazu steht. In der deutschen Bundesregierung gibt es ein Nachhaltigkeitskonzept. Man muss eben immer wieder darauf hinweisen und wiederholt sagen, wie wichtig das ist. Wenn Sie in einer Region mit Erdölindustrie leben, werden Sie merken, dass im Umkreis vielleicht der Boden nicht ganz in Ordnung ist. Man muss darauf aufmerksam machen, wenn Leute krank werden oder wenn Sie irgendetwas anderes beobachten. Ich kann das so einfach sagen, weil ich aus Deutschland komme; das ist in anderen Ländern nicht immer so.
Wir haben doch eine UNESCO-Kommission, die sich mit der Bildung für Nachhaltigkeit befasst. Wenn es um nachhaltige Entwicklung geht, kann man sich ja immer darauf beziehen und sagen, dass Sie das hier in Russland auch machen müssen. Man kann versuchen, das möglichst unpolitisch zu kommunizieren.
 
Wirkt sich das, was global oder auch in Russland passiert, beispielsweise die Wirtschaftskrise oder auch die Krise im Dialog zwischen den Ländern, auf die Verbreitung des Konzepts von der Bildung zur Nachhaltigkeit aus? Ein globaler Prozess findet ja nicht nur lokal statt. Wie beurteilen Sie diese Prozesse?
 
Ich finde beispielsweise so eine Konferenz, wie wir sie hier durchführen, die Winterakademie, wo verschiedene Bildungseinrichtungen zusammenkommen und darüber diskutieren, auf welche Weise das Konzept der nachhaltigen Entwicklung in den einzelnen Bereichen umgesetzt werden kann, sehr wichtig. Solche Veranstaltungen muss es noch viel mehr geben. Es muss einfach einen Dialog geben, egal auf welcher Ebene. Auf Regierungsebene natürlich, aber auch auf Universitätsebene. Wie organisieren Studierende ihre Leben an der Universität, an den Schulen? Da gibt es alle Möglichkeiten. Man muss einfach mit Projekten vorpreschen. Vielleicht können Sie an der Universität Kasan zum Beispiel eine entsprechende Homepage machen?
 
In Ihrem Lebenslauf steht geschrieben, dass Sie Mitglied des Ausschusses für Gefahrstoffe sind. Womit beschäftigen Sie sich da?
 
In Deutschland wird ganz stark gesetzlich geregelt, wie wir mit Chemikalien umgehen. Das kommt aus der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg – Giftgas usw. Da gibt es also einen entsprechenden Ausschuss. Und dort diskutieren wir die einzelnen Gesetze. So gibt es zum Beispiel ein Gesetz für den Umgang mit Asbest. Wenn ich eine Lehrveranstaltung zu Chemie mache, wie handhabe ich dann die Abfälle? Wie muss ich mich, meine Hände schützen, damit die Stoffe nicht über die Haut aufgenommen werden? Und das wird in diesem Gremium besprochen, das beim Ministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt ist. Das ist sozusagen mein Spezialgebiet. Gern würde ich einmal in Ihr Labor an der Universität Kasan kommen und mir anschauen, wie Studierende hier damit umgehen, auch um das mit Deutschland vergleichen zu können. (lacht)
 
Wenn ich mich unter meinen Bekannten so umschaue, stelle ich fest, dass sie ökologisch noch recht unbewusst bzw. ungebildet sind, selbst wenn es sich nur um die Mülltrennung handelt. Haben Sie eine Idee, was man tun kann, um das Umweltbewusstsein zu erhöhen? Vielleicht gibt es in Deutschland Beispiele, wie man das bewerkstelligen kann? Gibt es da ein Rezept?
 
Nein, ein Rezept gibt es nicht, man muss in kleinen Schritten vorangehen und ich kann da nur sagen, dass solche Konferenzen oder gemeinsamen Aktionen mit dem Goethe-Institut, wie „Umwelt macht Schule“, unheimlich wichtige Projekte sind. Wenn man die Schüler zusammenbringt, mit ihnen diskutiert und aufzeigt, welche Möglichkeiten es gibt. Sie müssen Dialogfähigkeit beweisen und anhand praktischer Beispiele agieren. Und wenn der Ansatz noch so klein ist.
 
Und wie macht man das am besten — von oben nach unten oder von unten nach oben?
 
Beides ist wichtig. Man muss beides angehen. Ich kann ja mal von der Universität Bremen berichten. Wir haben bei uns an der Universität ein Umweltmanagementsystem, das auf massive Forderungen der Studierenden eingerichtet worden ist. Die Studierenden haben gesagt, dass Müll getrennt werden muss und wir schauen müssen, dass nicht zu viel CO2 ausgestoßen werden darf usw. Dieser Forderungskatalog der Studierenden wurde an das Rektorat gegebene und die sind dann aktiv geworden.
Das ist genauso, wenn wir diese Konferenz „Umwelt macht Schule“ durchführen. Dann erarbeiten die Kinder und Schule am Schluss eine Umwelterklärung. Das fixieren sie zum Schluss schriftlich und überreichen es dann den Regierungsverantwortlichen in ihrer Region