Vortrag von Gesine Schröder
Seelengeschenke von Laien. Die Versprechen reformatorischer Musik

Gesine Schröder
© Yongboom Lee

Ein Vortrag von Gesine Schröder (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) im Rahmen des Symposiums „Reformation und Perestrojka“ in Moskauer Tschaikowski-Konservatorium.

Luthers Reformation und sowjetische Perestroika – welch abenteuerliche Kombination! Zugesagt habe ich Herrn Tarnopolskis freundliche Anfrage, im Rahmen der gleichnamigen Veranstaltung des von ihm geleiteten Instituts für Neue Musik zu dieser Thematik zu sprechen, weil es eine Ehre ist, am Tschaikowski-Konservatorium, zu dem das Institut gehört, vortragen zu dürfen, vor allem aber, weil mich das Thema reizte: einmal reden über etwas, was den Fachdiskurs weit hinter sich lässt. Das Thema verlangt weniger sorgfältige Recherche als wagemutige Kombinatorik. Dazu ließ ich mich gern herausfordern.
 
Sowjetische Komponistinnen und Komponisten bezogen sich in der Zeit der Perestroika in auffälliger Weise auf geistliche Musik, darunter prominent auch auf Musik von Lutheranern, vor allem auf Bach. Was versprachen sie sich von der Referenz auf Komponisten, die ihr Werk in den Dienst des Protestantismus gestellt hatten? Die diesbezüglichen Beweggründe sowjetischer Komponisten zu ermitteln, dürfte für Rezeptionsforscher Anlass sein, das russischsprachige Musikschrifttum der 1980er-Jahre zu durchforsten. Als was galt die Musik der Protestanten damals? Wofür stand sie? Als Musiktheoretikerin neige ich dazu, für die Ermittlung jener Beweggründe zunächst nach Eigenschaften in der protestantischen Musik selbst zu suchen. Welche Eigenschaften mögen diese geeignet gemacht haben, in den 1980er-Jahren kompositorisch reflektiert zu werden?
 
Seele, Geschenk, Laien, Versprechen: Das sind Stichworte, unter denen sich noch unabhängig von konkreten musikalischen Eigenschaften die Ambitionen protestantischer Musik bestimmen lassen. Das protestantische Musizieren, zu welchem die Reformation geführt hatte, bewirkte eine breite Aktivität musikalischer Laien, welche bald direkt in kompositorische Strukturen hineinzuragen begann. Die Reformation bereitete mit dem Hören auf Laien und mit Laien einen Boden, auf dem sich Gewächse wie „die Seele“ ansiedeln konnten: eine leidende, eine büßende, aber auch: eine hoffende Seele. Der Bedarf nach „Seele“ war in den späten 1980er-Jahren nicht an jedem Ort der Welt gleich stark spürbar.
 
In der westdeutschen Komponistenszene lassen sich zur Zeit der sowjetischen Perestroika Bezugnahmen auf lutherische Musik nicht beobachten, doch machen sich schon seit den 1970er-Jahren Attacken auf eine professionelle Avantgarde bemerkbar. In diesen Attacken bleiben religiöse Bezüge unsichtbar. Über das Verbindungsglied „Antiprofessionalität“ hätte es zu einer Konvergenz sowjetischer und deutscher kompositorischer Ansätze kommen können. Diese Chance ließ man verstreichen. Tarnopolski schreibt mir, welche Fragen ihn bei der Thematik „deutsche Reformation und russische Perestroika“ umtrieben: „Waren die Reformation und die Perestroika Revolutionen oder waren es Evolutionen?“ Das Urteil darüber, ob die Reformation – wie in den Jahren um 1800 üblich[1] – als Revolution gehandelt werden solle, ist mir mehrere Nummern zu groß. „Worin bestand das Resultat von Reformation und Perestroika?“ – so eine weitere Frage Tarnopolskis. „War es Erneuerung? Oder war es Zerstörung?“ Die billige Weisheit, jede Erneuerung setze Zerstörung voraus, reicht mir für unseren Kontext vorerst aus. Denn man möchte erst einmal konkrete Details verstehen. Dass der Bezug auf Musik, die von kirchlichen Riten des mittleren und westlichen Europa herkam, der Musik russischer Komponisten bereits des 19. Jahrhunderts den Gebrauchssinn entzog und sie zur Kunst neutralisierte, lernte ich von Aleksandra Savenkova, einer Absolventin der hiesigen Lehranstalt, die sich für eine gemeinsame Publikation mit dem Komponisten Alexis von Lwoff befasst hatte.[2] Musik, die dem katholischen Ritus entstammte, konnte und kann noch heute ebenso wenig wie protestantische Musik in russischen Kirchen aufgeführt werden – solange sie Instrumente einschließt. In der Zeit der Perestroika habe – Tarnopolski zufolge[3] – der Bezug auf west- und mitteleuropäische religiöse Musik bedeutet, die durch die Sowjetzeit zerstörte Verbindung mit der europäischen Geschichte wiederzufinden. Der Bezug auf weltliche west- oder mitteleuropäische Musik generell wäre zu undeutlich gewesen. Und offenbar musste die Musik, auf die man sich bezog, nicht nur an eine bestimmte Weltgegend gebunden sein, sondern auch religiös und außerdem vormodern, vorromantisch und vorklassisch. Wer sich in der späten Sowjetunion auf religiöse Musik bezog, habe damit zugleich eine Art Widerstand geleistet. Wenn es sich um katholische oder protestantische religiöse Musik handelte, bekam der Widerstand noch einen politischen Akzent. Der Bezug ist nicht nur als Aufforderung oder moralischer Appell zu lesen. Vielleicht bewirkte er sogar eine Reinigung: Wer Bach zitierte, reinigte als Komponist sein (musikalisches) Gewissen – „Gewissen“: das geht als überkonfessionell gewordene Erfindung Luthers durch. Das Ostentative, mit dem Stücke wie „Es ist genug“ (1986) für Bratsche und Klavier von Edison Denissow oder Sofia Gubaidulinas Meditation über den Bach-Choral „Vor Deinen Thron tret’ ich hiermit“ (1993), für Cembalo und Streichquartett protestantische Choräle zitieren, Stücke, die bei dem zu diesem kleinen Symposium gehörigen Konzert gespielt werden, machen auch klar, dass sich die Rolle der Religion im heutigen Russland gegenüber den 1980er-Jahren drastisch verändert hat. Tarnopolski sagt es so: In Gestalt der russisch-orthodoxen Kirche ersetze sie heute die kommunistische Ideologie.
 
Die späten 1980er-Jahre: Was geschah zeitgleich in westdeutscher Kunst? Und wie dachten westliche Avantgardisten über ihre sowjetischen Kolleg_innen? Tarnopolski erinnert sich, dass sich Lachenmann während eines Besuchs bei Edison Denissow erstaunt darüber zeigte, wie konservativ „süß-schön“ und bürgerlich die Musik russischer Avantgardisten war. Ähnlich Nono, der ihm (Tarnopolski) gesagt habe, Schnittke sei noch schlimmer als Chrennikow. Die Unterschiede zwischen sowjetischen und westeuropäischen Kompositionen jener späten 1980er-Jahre sind offensichtlich. Sucht man nach Gemeinsamkeiten, so konzentriert sich diese Suche gewöhnlich auf Momente, in denen die Werke damaliger sowjetischer Komponisten an die der damaligen westlichen Avantgarde heranlangen. Lassen Sie mich Richtung der Suche probeweise umkehren und nach Momenten suchen, in denen Stücke west- und mitteleuropäischer Komponisten der 1980er-Jahre denen ihrer sowjetischen Kollegen ähnlich werden. Dazu mache ich einen Umweg über die Musik der Reformation.
 
Perestroika heißt im Deutschen „Umgestaltung“. Wenn die Perestroika eine Umgestaltung oder Reformation der kommunistischen Idee ist, wird die kühne Parallele zwischen Kommunismus und Katholizismus gezogen: So wie die Reformation Luthers den Katholizismus umgestaltete (ihn zum Luthertum revolutionierte), so gestaltete die Perestroika den Kommunismus um. Man kann es auch so verstehen: Die kommunistische Idee wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts (wie der Katholizismus für mehr als ein Jahrtausend bis hin zu Luther) von der realen Umsetzung korrumpiert. Wie Luther zum Wortlaut der Bibel zurückkehren wollte, sie nach den Quellen übersetzte und neu auslegte, so wollte man mit der Perestroika zu einem Urkommunismus zurückkehren, ihn vom real existierenden Sozialismus reinigen. Nun mal langsam: Falls Luthers Reformation tatsächlich von einem korrumpierten Katholizismus befreite, dann frage ich mich, ob diese Reformation auch auf die Musik übergegriffen hatte. Befreite die lutherische Kirchenmusik von einer korrumpierten katholischen Kirchenmusik? Ging es auch um eine musikalische Reformation? War die Welt der Musik um 1517 nicht auch für Luther „in Ordnung“? Luther bewunderte Josquin Desprez, den Katholiken. Lutherische Komponisten hatten im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert keinerlei Berührungsscheu gegenüber ihren katholischen Kollegen. So lernte Leonhard Lechner vermutlich bei Orlando di Lasso. Später ging er nach Nürnberg, dann nach Stuttgart, Städte, die schon 1525 bzw. 1534 die Reformation nach lutherischem Bekenntnis eingeführt hatten. Heinrich Schütz, Kapellmeister im protestantischen Dresden, war Schüler des katholischen Giovanni Gabrieli. Gabrieli seinerseits war befreundet mit dem aus Nürnberg stammenden protestantischen Hans Leo Haßler, der wiederum bei Giovannis (katholischem) Onkel Andrea in Venedig studiert hatte. Abgesehen von gewissen Unterschieden bei den vertonten Texten scheint eine Trennung zwischen katholischen und evangelischen Kirchenmusikern in jenem Reformationsjahrhundert musikalisch nicht existent gewesen zu sein. Die Unterschiede, die es trotzdem gab, tangierten das Tun professioneller Musiker zunächst kaum. Sie tangierten aber das Tun musikalischer Laien:

  • Das Volk (die Gemeinde) wurde durch gemeinsames Singen beteiligt. Die Musik musste sich ändern, um dafür geeignet zu sein.
     
  • Das mitteldeutsche Berufsbild des Kantors war wichtig. (Mitteldeutsche Kantoren waren bekanntlich Lutheraner.) Da der Kantor auch in Schulen unterrichtete (wie noch Bach), erreichte religiöse Musik nun breite Schichten. Sie wurde dort installiert, wo sie sich noch heute am leichtesten festheftet: bei Kindern.
     
  • Für den Schulunterricht wurden neue kunstmusikalische Genres installiert (vielleicht nicht erfunden, aber ausgebaut), z.B. Bicinien. Mit ihnen konnte man Vieles lernen, mindestens: Latein, das Notenlesen, die Bibel, den Kirchenkalender, das Singen. Lutherische Kantoren sorgten für Bildung, nicht nur musikalische.
     
  • Es gab häusliche Erbauungs-, Frömmigkeits- und Andachtsmusik, die freilich erst einige Zeit nach der Reformation, ab dem 17. Jahrhundert, in pietistischen Gesängen zur Blüte gelangte. Dass hier auch Frauen als Dichterinnen von Kirchenliedtexten prominent in Erscheinung traten, zeigt, dass ein professioneller Bildungsgang keine Vorbedingung für sichtbare Aktivität mehr war.
     
  • Es gab volksnahe protestantische Musik. Wichtig ist hier zunächst der Genfer Psalter, dessen Texte – zunächst auf Französisch – bald in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden, so zum Beispiel ins Plattdeutsche und sogar ins Arabische. Gesungen wurden die Lieder von den Hugenotten zu Hause oder auf dem Weg zur Kirche, und zwar mehrstimmig und möglichst laut. Denn noch im Himmel droben sollte man (Gott) ja den Gesang hören. Ein Beispiel aus ist Claude Goudimels Fassung der Psalmen von 1564 (leider nicht gesungen).
     


 
Für den vierstimmig homophone Fassung des Genfer Psalters hatte sich Goudimel Improvisationsmodelle einfachster Art bedient, so dass die Psalmen wegen der Vertrautheit ihrer Klangfolgen von jedermann leicht mehrstimmig gesungen werden konnten. Entscheidend für den Erfolg von Goudimels einfachen Sätzen war wohl, dass er mit dem Verzicht auf Artifizialität musikalische Nacktheit durch ihre Brauchbarkeit zum Wert werden konnte. Aufgegriffen wurden solche Modelle von dem musikalischen Laien Lukas Osiander aus Nürnberg, einem Pfarrer, der der Idee, konsequent die Liedmelodien in die Oberstimme zu legen, seinen Eingang in die Musikgeschichte verdankt. Das Neue in der protestantischen Musik stammte entweder von solchen musikalischen Laien wie Osiander und/oder es war für Laien. Hugenotten hatten ein Improvisationskonzept ohne Diminutionen ausgestellt. Sonst in Kunst eingekleidet – wie es sich gehörte –, wurde das Konzept nun ohne Drumherum präsentiert – absichtvoll kunstlos. Dass protestantische Musik vielerorts in die Provinz auswanderte, sich von Höfen entfernt, passt zu ihrer Faktur. Erhalten bleibt etwas von solcher Nacktheit noch ein Jahrhundert später in Thomas Selles dreichörigem und weitgehend homophonem „Veni sancte spiritus“, das von venezianischen Experimenten zehrt, aber auch von den Kantionalien Seth Calvisius’ oder Johann Hermann Scheins, bei denen er vermutlich in die Schule gegangen war:
 

 
Thomas Selle, ein Musiker aus dem sächsischen Zörbig, wurde, bevor er ins große Hamburg ging, von Kirchgemeinden in Heide (Holstein), Wesselburen und Itzehoe bestallt. Reformation bedeutete musikalisch, den Laien das Ohr und den Mund zu öffnen, bedeutete aber auch Gelehrsamkeit, eine Gelehrsamkeit, die nicht innermusikalisch blieb. Verkörpert wurde sie zum Beispiel durch den hugenottischen Claude le Jeune, einen musikalischen Intellektuellen, der sich in der von Jean-Antoine de Baïf mitgegründeten Académie de poésie et de musique umtrieb.
 
Ein lutherischer Kantionalsatz wie Heinrich Schütz’ Satz zu dem Psalm „Es stehe Gott auf, dass seine Feinde zerstreut werden“ hatte 1942 Johann Nepomuk David als Grundlage für sein Werk 29b gedient, die Symphonischen Variationen über ein Thema von Heinrich Schütz. Der hier verwendete Choral wurde schon im Ersten Weltkrieg von deutschen Militaristen zu Zwecken der Kriegspropaganda genutzt, und er war in einer Komposition aus dem Zweiten Weltkrieg daher alles andere als unpolitisch.[4] Lutherische Musik empfahl sich nachfolgenden Generationen mit solchen Beispielen nicht gerade als Äußerung von Widerstand. Überblickt man die Jahrzehnte des Kalten Krieges, so ist ein Bezug auf protestantische Musik in Stücken von Komponisten, die auf der westlichen Seite jenes Konflikts lebten, tatsächlich kaum auszumachen.
 
Aus den letzten Jahren lassen sich zwar Beispiele für Musik deutschsprachiger Komponisten anführen, die für protestantische Kirchen entstanden, so für die Feier 800 Jahre Thomana 2012 in Auftrag gegebene Werke Hans Werner Henzes und Heinz Holligers.[5] Ein Komponist aus dem westlichen Teil Deutschlands, der immer wieder Stücke auf Bibelworte oder andere religiöse Texte schrieb, ist Wolfgang Rihm. (2017 wurde er mit dem Preis der Europäischen Kirchenmusik bedacht.) In Rihms Werk sind geistliche Kompositionen ein Kontinuum, anders als die Bezüge sowjetischer Komponisten auf protestantische Musik zur Zeit der Perestroika sind sie keine Reaktion auf konkrete politische Lagen. Auch andere westeuropäische (avantgardistische) Komponisten haben unter anderem in den späten 1980er-Jahren geistliche Musik geschrieben. Wenig überrascht, dass Dieter Schnebel, der ja Pfarrer und Religionslehrer gewesen war, geistliche Thematiken wählte. Aber seine geistlichen Werke aus den späten 1980er-Jahren standen irgendwie außerhalb ihrer Zeit, man hätte sie nicht auf die aktuelle Lage von Politik und Gesellschaft bezogen und akzeptierte ihr Geistliches mehr als private Laune, eigentlich hielt man es für eine Marotte. Nach experimentellen Stücken wie FÜR STIMMEN (… missa est) von 1958 oder der berühmten glossolalie von 1959/60 schrieb Schnebel zwischen 1984 und 1987 seine Dahlemer Messe, ein groß angelegtes Werk für vier Solostimmen, zwei gemischte Chöre, Orchester und Orgel. Bei der Uraufführung, die ich 1989 hörte, erschien mir das Stück als Alterswerk in dem Sinne, dass der Komponist (der nicht einmal 60 Jahre alt war), nach seinen avantgardistischen Experimenten nun zurückkehre zu den Genres, welche die großen Meister bedient hatten, um sich selbst ein Monument zu schaffen und sich in die Geschichte der Meisterkomponisten einzuschreiben. Man sah das damals quasi als Kapitulation vor den Ansprüchen der 68er, die er (Schnebel) – wie ich glaubte – geteilt hatte. Es war, als dürfe man wieder große bürgerliche Kunstformen bedienen. Fragmentarisches, offene Form, kritisches Komponieren: Sollte all das nun Vergangenheit gewesen sein?
 
Eher undeutlich Religiöses gab es auch in Stücken von Luigi Nono. Jedenfalls entstammten die Ockeghem-Zitate zu den (unausgesprochenen) Worten „Malheur me bat“ („Unglück schlägt mich“) in dem Streichquartett „Fragmente – Stille. An Diotima“, das ich bei der Studioaufführung wohl 1980 im Theatersaal der Hochschule der Künste Berlin durch das Lasalle-Quartett hörte, wohl nicht zufällig gerade einer Messe.
 
Wie war es aber bei jüngeren Komponisten jener späten 1980er-Jahre? Wendeten auch sie sich dem zu, was die 68er eigentlich in den Mülleimer von Establishment zu werfen versprochen hatten? Unter den in den 1950er-Jahren geborenen Komponisten zählt der schon erwähnte Wolfgang Rihm zu jenen, die immer wieder geistliche Werke geschrieben haben. Jeder Biograph wird sich wünschen, dass diese Werke nicht bloß Auftragskompositionen gewesen seien, sondern ein persönliches Bekenntnis des Komponisten, und vielleicht ist das kein frommer Wunsch, auch wenn man dem simplen Konnex von Biographie und musikalisierten Worten misstrauen möchte. Gleichwohl scheint mir eine weniger äußerliche Parallele der Generation der westdeutschen 1950er zu etwa gleich alten sowjetischen Komponisten der Perestroika bemerkenswert: Sie wollten verstanden werden. Das anti-avantgardistische Konzept der neuen Einfachheit hatte Mitte der 1970er-Jahre auf so etwas abgezielt.  Zu den Komponisten, die 1976 das erste Manifest der neuen Einfachheit formuliert hatten, gehörten neben Wolfgang Rihm (*1952) Hans-Jürgen von Bose (*1953), Detlev Müller-Siemens (*1957) und Hans Neubahn, eine vermutlich fiktive Figur, die man erfunden hatte in Anspielung auf Schumanns Aufsatz „Neue Bahnen“, mit dem er Brahms als Komponisten der Zukunft installierte. Die Intention jener Komponisten der neuen Einfachheit wurde oft als bloßes Schielen nach Erfolg denunziert: Man habe vor den hohen Ansprüchen, die aus der Avantgarde resultierten, kapituliert und sich dem bürgerlichen Musikbetrieb, wohl sogar dem Kommerz an den Hals geworfen. Ich möchte behaupten, dass die Ambitionen der (damals) neuen Einfachen einem Impuls entsprangen, der ähnlich die sowjetischen Komponisten ihrer Generation umtrieb. Es gibt wohl die Nähe zwischen Komponisten derselben Generation – über geographische und kulturpolitische Entfernungen hinweg: Zwar hat Tarnopolski mit Denissow oder Gubaidulina gemeinsam, dass es in seinem Werk den Bezug auf protestantische (oder religiöse) Musik gab. Mit den Komponisten der neuen Einfachheit hat er aber gemeinsam, dass es einen ausdrücklichen Verzicht auf Komplexität und darauf gab, sich als Fortsetzer einer (im hegelianischen Sinne) zielgerichteten und dialektisch fortschreitenden Musikgeschichte zu fühlen.
 
Sicher haben Sie bemerkt, dass ich bei meinem Durchgang durch die Generationen bestimmte Jahrgänge ausgelassen habe, nämlich die in den 1940er-Jahren Geborenen. Sollte es in jenen Jahrgängen keine Komponisten gegeben haben, die entweder kompositionstechnisch oder in ihrer Publikumszugewandtheit bemerkenswert gewesen wären? Gegenbeispiele sind schnell an der Hand: Brian Ferneyhough (*1943), Gérard Grisey (*1946-1998)… Auch der hauptsächlich elektroakustische Komponist Konrad Boehmer wurde in den 1940er-Jahren geboren. Zwar wird man zögern, ihn in die erste Riege der Komponisten des 20. Jahrhunderts einzureihen, doch ist er als Denker wichtig. Boehmer sagte einmal in einem Rückblick, seine Generation von Komponisten habe versäumt, Vatermord zu begehen. Was auch immer die Gründe für das Ausbleiben dieses Gewaltakts gewesen sein mögen – die jungen Lehrer dieser Generation, das übermächtige Darmstadt der 1950er –, so fällt in der sowjetischen Musikgeschichte doch eine Parallelerscheinung auf, und auch in einem Beitrag zu einem 1990 erschienenen Sammelband über Sowjetische Musik im Licht der Perestroika war (in einem von einem Russen stammenden Beitrag) die Generation der in den 1940er-Jahren in der Sowjetunion geborenen Komponisten als „verlorene Generation“ bezeichnet worden.[6]
 
Will man Parallelen zwischen sowjetischen und westeuropäischen Komponisten finden, so kann man es vielleicht so sagen: Die Generation der in den 1920er- und 1930er-Jahren Geborenen will „die Seele“ sprechen lassen. Erreicht wird das bei denen aus dem Osten offensiv u.a. durch den Bezug auf protestantische Musik, insbesondere diejenige Bachs, und zwar unter gleichzeitiger Beibehaltung des Anspruchs avantgardistisch zu komponieren. Bei gleich alten West- und Südeuropäern geschah dies eher durch eine Restitution von Privatheit, auch durch ausgestellte Innerlichkeit, nun unter dem Rückzug von tragenden Gedanken der musikalischen Avantgarde. Für die Jüngeren aber hatte – gleich, woher sie kamen – der Avantgarde-Gedanke niemals diese quasi diktatorische Rolle gespielt.
 
Zum Schluss gestatten Sie mir ein paar Bemerkungen zur Rezeption der russischen Musik der späten 1980er-Jahre. Hermann Danusers bereits genanntes Buchprojekt zur Sowjetischen Musik im Licht der Perestroika, zu dem Jurij Cholopow ein Vorwort beigesteuert hatte, erschien 1990. Das Projekt war als Parallelaktion geplant: Vorausgegangen war eine Publikation über amerikanische Musik.[7] Wichtig innerhalb des deutschsprachigen Musikdiskurses war an den beiden Bänden, dass man im Zusammenhang von neuerer Musik nicht mehr die Musik von Mitteleuropäern ins Zentrum stellte. Es wurden nun die Musikkulturen dezentraler Länder ernst genommen, in gewisser Weise ein ethnographischer Ansatz, denn man redete nicht mehr in erster Linie über Qualität und kompositionstechnischem Stand in einer ort- und zeitlos gedachten Avantgarde, sondern man fragte nach Schreibarten, die von der lokalen Kultur und einem spezifischen gesellschaftspolitischen Standort geprägt waren. Die Tatsache, dass sowjetische Musiker kompositionstechnisch nicht gerade avantgardistisch waren, ihre Stücke Leuten aus dem Westen irgendwie zurückgeblieben vorkamen, deutete man als nationalkulturelle Eigenheit um. Aus der Sicht von Postmoderne wurde die sowjetische Musik der späten 1980er-Jahre dennoch wieder in die Fortschrittslinie allgemein kompositionstechnischer Entwicklungen einsortiert, diesmal als „selbständige Herausbildung eines postmodernen Denkens“.[8] Sowjetische Komponisten gelangten (mit wenigen Ausnahmen) erst am Ende der Perestroika (und der Sowjetunion) in die westdeutsche Öffentlichkeit, und zwar mit den Initiativen einiger Verlage, die beispielsweise die Werke von Denissow, Gubaidulina, Schnittke, Tarnopolski und anderen in ihre Verlagsprogramme aufnahmen. Es ist ungut, pessimistisch zu schließen. Mir scheint aber, dass die Initiativen, die in den 1990ern ergriffen wurden, seit mindestens einem Jahrzehnt an Schwung verloren haben. Es lässt sich heute in Mittel- und Westeuropa kein vermehrtes Interesse an russischen Komponisten erkennen. Ändern wird sich die Lage erst, wenn West- und Mitteleuropäer sehen, dass Russland zu Europa gehört, dass es kein exotischer Osten mehr ist. Die Globalisierung hat den Russen nicht gutgetan. 

[1] In der NZZ vom 1. April 2017 rekapituliert Friedrich Wilhelm Graf, protestantischer Theologe und emeritierter Professor der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität, die Einschätzungen Luthers durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und vorausgehende Aufklärungsphilosophen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts: Hegel erklärte Luthers „Reformation zur ‚Hauptrevolution’ der europäischen Geschichte, in der gegen überkommene Entfremdung das Recht des Menschen auf freies Selbstsein erkämpft worden sei“. S. 29, Spalten 1 und 2. 
[2] Vgl. Aleksandra Savenkova, „Musikalische Zeitgestaltung von Gebeten – Alexis von Lwoffs Suche nach dem freien oder nicht symmetrischen Rhythmus“, in: Rhythmik und Metrik, hrsg. von Gesine Schröder, Laaber 2016, S. 131–145.
[3] Mail Tarnopolskis an die Verfasserin vom 12. Februar 2017.
[4] Vgl. das Gespräch „Davids Dilemma“, in: Johann Nepomuk David. Linien und Unterbrüche, hrsg. von Gesine Schröder, Hildesheim 2016, dort den Redebeitrag von Boris von Haken, S. 228.
[5] Daneben wurden den aus der früheren Ostseite des Kalten Krieges stammenden Komponisten Krzysztof Penderecki und dem damaligen Thomaskantor Georg Christoph Biller Aufträge für Festmusiken erteilt. Sofia Gubaidulina hatte die Anfrage krankheitshalber nicht annehmen können. Ein weiterer Auftrag ging an den australischen Komponisten Brett Dean.
[6] Hrsg. von Hermann Danuser, Hannelore Gerlach und Jürgen Köchel, Laaber 1990.
[7] Amerikanische Musik seit Charles Ives. Interpretationen, Quellentexte, Komponistenmonographien, hrsg. von Hermann Danuser und Dietrich Kämper, Laaber 1987.
[8] Ebd. (Danuser), Vorwort, S. 14.