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Kulturelle Wiedervereinigung
Die Rückkehr des deutschen Comics

Arne Bellstorf: Der Tagesspiegel-Comic Series
© Der Tagesspiegel

Die Wiedervereinigung hat Deutschland wieder auf der Weltkarte der Comics verortet. Eine ehemalige Ost-Berliner Zeichner-Gruppe wurde damals zur neuen deutsche Comic-Avantgarde. Das comicfreundliche Klima an den deutschen Universitäten förderte maßgeblich die Entwicklung neuer Richtungen und die Erweiterung des Spektrums der Themen und Stile: ein Blick zurück auf 30 Jahre deutscher Comicgeschichte.

Von Andreas Platthaus

Dass Deutschland seit vielen Jahren wieder auf der Weltkarte der Comics verzeichnet ist, ist auch der Wiedervereinigung geschuldet. Und es ist der ostdeutsche Landesteil gewesen, der den wichtigeren Anteil an dieser Rückkehr hatte – zumindest, wenn man das Augenmerk auf ästhetische Aspekte richtet statt auf rein ökonomische.

Mawil: Fahrrad-Tour-Checkliste, Der Tagesspiegel, Juli 2008 Mawil: Fahrrad-Tour-Checkliste, Der Tagesspiegel, Juli 2008 | © Der Tagesspiegel Natürlich gab es auch vor 1990 schon einzelne deutsche Comiczeichner und -zeichnerinnen, die anerkannt waren. Aber egal, ob man Matthias Schultheiss nennt oder Ralf König, wenn es um international beachtete Künstler geht; ob Walter Moers oder Rötger Feldmann alias Brösel, wenn man rein einheimische Erfolgsgeschichten hören wollte, oder ob mit Hannes Hegen und Rolf Kauka die 1950er- und 1960er-Jahre angesprochen werden – sie alle übernahmen längst etablierte Stil- und Erzählformen aus anderen Ländern. Seien dies nun Einflüsse des in den 1950er-Jahren gegründeten amerikanischen Comicsatiremagazins Mad, von Walt Disney, aus Frankreich oder aus dem amerikanischen Underground.

„PGH Glühende Zukunft“

Deutsche Bildergeschichten gab es zwar bereits von Wilhelm Busch oder e. o. plauen, eigentlich Erich Ohser, der von 1934 bis 1937 die Comicserie Vater und Sohn zeichnete. Aber als eigenständig kann man die Comic-Avantgarde erst ab 1990 bezeichnen.

Ihre Keimzelle war Berlin, und wenn man einen einzigen Namen nennen soll, so wäre es der eines Kollektivs: PGH Glühende Zukunft nannte sich mit ironischem Bezug auf die im Sozialismus üblichen Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) eine Ost-Berliner Künstlergruppe, die sich unmittelbar nach der Wende von 1989 formierte und aus Anke Feuchtenberger, Holger Fickelscherer, Henning Wagenbreth und Detlef Beck bestand.

Sie waren alle ostdeutscher Herkunft und hatten in der DDR den Vorzug einer fundierten grafischen Ausbildung genossen, die noch jene Techniken lehrte, die in westdeutschen Kunsthochschulen und sonstigen Ausbildungsstätten längst vergessen waren. Die Arbeit an Handpressen, Holz- oder Linolschnitten, Schriftmalerei und Buchgestaltung bildete das Fundament für die Kunst des Berliner Quartetts – und auch etwas jüngere ostdeutsche Comiczeichner und -zeichnerinnen wie Georg Barber alias Atak und Kat Menschik profitierten noch von der traditionellen Ausbildung in der DDR.

Neugier auf Comics

Bekannt wurden diese Künstlerinnen und Künstler vor allem mit Plakaten oder Karikaturen, doch das setzte nur fort, was auch in der DDR möglich gewesen war. Für künstlerische Comics dagegen hatte es zuvor kein Forum gegeben, weil sich die DDR-Bildergeschichten- produktion auf das monatlich erscheinende Mosaik-Heft und vereinzelte Serien in den parteigebundenen Jugendzeitschriften Atze oder Frösi beschränkte. Comics (die nicht einmal so heißen durften) waren in den Augen der Staatsführung Kinderkram. Das erzählerische Potenzial von Bildergeschichten wurde dementsprechend in der DDR verkannt.

Entsprechend neugierig waren die Mitglieder der PGH Glühende Zukunft auf diese Erzählgattung. Sie fertigten bevorzugt Comics an, auch wenn sie ihr Auskommen nur dank anderer grafischer Arbeit fanden. Diese Unabhängigkeit vom finanziellen Ertrag der Bildergeschichten ermöglichte jedoch Experimente, die etablierte westdeutsche Comiczeichner gar nicht erst wagten, um ihren kommerziellen Erfolg nicht zu gefährden. Bewusst knüpften die vier Berliner am Expressionismus als derjenigen bedeutenden modernen Kunstrichtung an, die als spezifisch deutsch gelten darf.

Düstere Bildergeschichten

Line Hoven: Liebe schaut weg, Reprodukt 2007 Line Hoven: Liebe schaut weg, Reprodukt 2007 | © Reprodukt Und diese Traditionslinie kam im Ausland besonders gut an, weil man plötzlich in Comics aus Deutschland etwas wiederfand, das man bereits aus der Kunstgeschichte als Errungenschaft dieses Landes kannte. Die meist düsteren Bildergeschichten der PGH-Zeichner mit ihrem existenzialistischen oder zynisch-satirischen Grundton schienen unmittelbar an jene Epoche anzuknüpfen, die Berlin für ein Jahrzehnt zur Welthauptstadt der Kunst gemacht hatte: an die 1920er-Jahre während der Weimarer Republik.

Anke Feuchtenberger, die vor allem literarische Vorlagen der Schriftstellerin Katrin de Vries in feministische Bildergeschichten umsetzte, und Henning Wagenbreth mit seiner unverkennbaren Piktogrammatik wurden Mitte der 1990er-Jahre zu Aushängeschildern der deutschen Comic-Avantgarde – die eine in Frankreich, der andere in Amerika. Fickelscherer und Beck dagegen schafften den internationalen Durchbruch nicht. Dafür gelang er gleichzeitig zwei westdeutschen Zeichnern: Hendrik Dorgathen und Martin tom Dieck.

Jenseits der Grenzen

Dorgathen reüssierte zunächst als Illustrator, ehe er mit Space Dog einen wortlosen Comic zeichnete, der beim Rowohlt Verlag, einem der renommiertesten literarischen Verlage der Bundesrepublik Deutschland, herauskam und rasch auch international Furore machte. Martin tom Dieck aus Hamburg dagegen etablierte sich vor allem mit einer von Jens Balzer getexteten Bildergeschichte namens Salut Deleuze, in der die poststrukturalistische Philosophie von Gilles Deleuze, Roland Barthes, Michel Foucault und Jacques Lacan zum Gegenstand einer höchst intelligent erzählten Höllenfahrt der vier verstorbenen Denker gemacht wird. Der Comic erschien 1998 zuerst in Frankreich, bevor ihn zwei Jahre später ein Schweizer Verlag auch auf Deutsch herausbrachte.

Das ist ein Beispiel, das bis heute Geltung beanspruchen darf: Viele deutsche Zeichnerinnen und Zeichner, vor allem die inhaltlich anspruchsvollsten, haben es im Ausland und da vor allem in Frankreich weitaus leichter als in ihrer Heimat. Ulf Keyenburg alias Ulf K., Barbara Yelin oder Jens Harder haben jenseits der Grenzen weitaus mehr publiziert als in Deutschland selbst, durchaus unter anderem bedingt durch ihre Themenwahl, die aus  einer internationalen Perspektive als „typisch deutsch“ wahrgenommen wird und gerade deshalb in anderen Ländern besonders gut ankommt.

Romantik und Moderne

So weist das Werk von Ulf K. mit seinen beiden wichtigsten Figuren, Monsieur Mort und Hieronymus B., Referenzen zur deutschen Kunstgeschichte auf, indem es Totentänze oder Grotesken aufnimmt, die in der Frühen Neuzeit durch Hans Holbein d. J. oder Hieronymus Bosch ihre eindrucksvollsten Beispiele hervorbrachten. Und nicht zuletzt knüpft es an die Fantastik des Werks der Künstler Arnold Böcklin (1827 bis 1901) oder Max Klinger (1857 bis 1920) an, die am Übergang von der Romantik zu einer Moderne stehen, die auf Traummotive, surrealistische Motive und Mythenpersiflagen zurückgreift.

Barbara Yelin dagegen zeichnet Comics, die ihre Struktur und Themen entscheidend der Romantik verdanken, und Jens Harder knüpfte mit seinen bisherigen Großprojekten Leviathan und Alpha an die Bemühung des Zoologen Ernst Haeckel (1834 bis 1919) an, die Natur systematisch grafisch zu erschließen. Haeckel hatte in der Nachfolge von Darwin den Versuch gemacht, die Evolution durch aufwendige Schemata darzustellen. Sie erregten aber vor allem bei Künstlern und Philosophen Aufsehen. Das also, was als besonders deutsch in der Kunstgeschichte empfunden wird, findet als Comic im Ausland besonders große Resonanz. Alpha etwa gewann im Januar 2010 im französischen Angoulême auf dem wichtigsten europäischen Comicfestival den Prix de l’Audace (Preis für Wagemut).

Comicfreundliches Klima

Doch es ist längst nicht mehr nur avantgardistisches Erzählen, das deutsche Comics erfolgreich macht. Seitdem die ältere Zeichnergeneration Lehrstühle an den Kunsthochschulen erhalten hat – Feuchtenberger in Hamburg, Wagenbreth in Berlin, Dorgathen in Kassel, Martin tom Dieck in Essen, Atak in Halle –, ist in Deutschland endlich ein comicfreundliches Klima an den Universitäten entstanden, das generell das Erzählen in Bildern begünstigt. Einige der erfolgreichsten deutschen Comics des letzten Jahrzehnts sind als akademische Abschlussarbeiten entstanden, wobei besonders Held von Felix Görmann alias Flix und Wir können doch Freunde bleiben von Markus Witzel alias Mawil zu nennen sind. Der erstgenannte Titel ist eine fiktive westdeutsche Autobiografie, der zweite eine reale ostdeutsche. Und das Spektrum an Themen und Stilen im Comic wird immer breiter.

Zwei Zentren haben sich dabei herausgebildet: Berlin, wo vor allem die Comicgruppe Monogatari (das japanische Wort für Geschichten) von sich reden gemacht hat, und Hamburg, wo die Lehrveranstaltungen Anke Feuchtenbergers an der Hochschule für Gestaltung die Herausbildung einer jungen Comiczeichnerszene ermöglicht haben, die auch davon profitiert, dass mit Martin tom Dieck, Markus Huber und Isabel Kreitz drei weitere etablierte Künstler/innen in der Stadt leben.

Unbekanntes Erzählprinzip

Arne Bellstorf: Der Tagesspiegel-Comic Series Arne Bellstorf: Der Tagesspiegel-Comic Series | © Der Tagesspiegel Die Feuchtenberger-Schüler Sascha Hommer und Arne Bellstorf haben mit der jährlich erscheinenden Anthologie Orang ein Forum für diese heute meist um die dreißig Jahre alten Hamburger Zeichnerinnen und Zeichner geschaffen. Mit Line Hoven und Moki zählen auch zwei Frauen zu dieser Gruppe, die mit dem Bezug auf klassischen Holzschnitt (Hovens Schabkartontechnik) und auf Manga-Ästhetik (Mokis gezeichnete Fantasywelten) jene beiden Extreme ausloten, zwischen denen sich junge deutsche Comiczeichner und -zeichnerinnen heute bewegen.

In Berlin hat sich bei Monogatari, zu deren Mitgliedern Jens Harder, Mawil, Ulli Lust, Tim Dinter, Kathi Käppel und Kai Pfeiffer zählen, eine dokumentarische Richtung des Comics herausgebildet, bei dem nicht das sehr erfolgreiche Modell des autobiografischen Erzählens allein im Mittelpunkt steht, sondern auch die phänomenologische Beobachtung eine große Rolle spielt. Das deutsch-israelische Comicreportage-Projekt Cargo, an dem Harder und Dinter beteiligt waren, bietet ein gutes Beispiel für dieses bislang in Deutschland unbekannte Erzählprinzip, das auch Ulli Lust und Kai Pfeiffer mit ihren Berlinstreifzügen gepflegt haben.

Internationale Erfolge

Reinhard Kleist: Cash – I See A Darkness, Carlsen Verlag 2006 Reinhard Kleist: Cash – I See A Darkness, Carlsen Verlag 2006 | © Carlsen Und mit der Johnny-Cash-Biografie des gleichfalls in Berlin lebenden Reinhard Kleist, dessen Karriere unter dem Einfluss der Comicavantgarde der 1990er-Jahre begann, ist eine weitere Richtung etabliert worden: der Sachcomic. Cashist auch international ein großer Erfolg geworden, genauso wie Isabel Kreitz’ historisch akribisch recherchierter Comic über den Spion Richard Sorge, der als Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Tokio im Zweiten Weltkrieg Hitlers Angriffspläne an die Sowjetunion verraten hat.Isabel Kreitz verwendet für ihre in Japan spielende Geschichte keine Stilelemente des Manga, also des japanischen Comics. Dagegen haben zahllose deutsche Zeichnerinnen und Zeichner aus der jüngeren Generation ihre Vorbilder in Fernost gefunden: Der seit den 1990er-Jahren anhaltende Siegeszug der Manga hat auch in Deutschland ein ganz neues Segment entstehen lassen, das mittlerweile eigene einheimische Künstlerinnen und Künstler hervorgebracht hat. Dabei ist besonders bemerkenswert, wie viele Frauen sich als Mangaka, also Zeichner/innen von Manga, betätigen. Genannt seien als Beispiele Anike Hage, Christina Plaka, Judith Park, Nina Werner, Olga Rogalski oder das Zeichnerinnenduo Dorota Grabarczyk und Olga Andryenko, das unter dem Pseudonym DuO firmiert.

Eigene Geschichten und Stile

Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie im Gegensatz zu den zuvor erwähnten Zeichnerinnen und Zeichnern keine künstlerische Ausbildung absolviert haben, sondern als Fanzeichnerinnen begonnen und sich über Talentwettbewerbe emporgearbeitet haben. Darum spielen für Mangaka Einteilungen in Schulen oder nach Traditionen eine weniger wichtige Rolle als bei den sonstigen Comiczeichnern. Die offeneren Strukturen dieser Szene haben dem deutschen Comic gerade im kommerziell-populären Bereich viel frisches Blut zugeführt, und die längst weltweit reüssierte Mangaästhetik sorgt auch dafür, dass die jungen Künstlerinnen und Künstler über die Grenzen hinaus bekannt werden.

Wenn dann auch noch so geschickt auf deutsche Geschichte angespielt wird wie im Falle von Christina Plaka mit dem Titel ihrer Erfolgsserie Prussian Blue (Preußisch Blau, also jener aus Deutschland stammende synthetische Farbton, der durch die Holzschnittserie Die 36 Ansichten des Fuji von Hokusai in Japan berühmt wurde) oder in Anike Hages Gothic Sports der Fußball Thema ist, wird hier ein weiteres Mal die kulturelle Neugier bei fremdsprachigen Lesern geweckt. Und so bewährt sich der deutsche Comic auch als Manga vor allem darin, dass er seine eigenen Geschichten und Stile sucht und findet.

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