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Uwe Johnson
"I came here to verify the rumor"

Uwe Johnson
Foto (Ausschnitt): © picture allicance / Keystone

Uwe Johnson (1934-1984) gilt als Chronist der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere der deutschen Teilung. 1959 erschien sein erster Roman, Mutmassungen über Jakob. Seitdem hat Uwe Johnson einen festen Platz in der Literaturgeschichte. Nicht zufällig erschien dieses Buch 2017 als erster Band einer großen Werkausgabe. Im Uwe-Johnson-Archiv an der Universität Rostock werden seine Bibliothek sowie Manuskripte und Briefe aufbewahrt. Es gewährt Einblick in eine Biographie, die beispielhaft für die Verwerfungen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert steht. Zugleich gibt es Aufschluss über die Arbeits- und Denkweise eines engagierten Beobachters. Das wird auch sichtbar an der Sammlung von Zeitungsausschnitten aus der New York Times, die Johnson anlegte, während er von 1966 bis1968 in New York City lebte. Sie diente ihm als Materialbasis für seinen großen Roman Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl.

"America was a rumor", hatte Uwe Johnson 1966 in einem Interview mit der New York Times behauptet, "I came here to verify the rumor". Weil er vom alltäglichen Leben nicht aus zweiter Hand erfahren wollte, hatte er großen Wert darauf gelegt, weder als Schriftsteller noch als Tourist in die USA zu kommen. Helen Wolff, seine amerikanische Verlegerin, brachte ihn im Verlag Harcourt, Brace & World unter, mit einem Arbeitstag von neun bis fünf. Dort hatte er ein Jahr Zeit, um ein deutsches Lesebuch für die High School zusammenzustellen. Es erschien im Herbst 1967 unter dem Titel Das neue Fenster. Selections from Contemporary German Literature. Das Buch stellt 21 deutschsprachige Autoren vor. Alle Texte sind nach 1945 geschrieben, sie führen die Vielgestaltigkeit von Literatur vor und betonen ihre ethische Dimension. Was er von den Lesern seiner Romane verlangte, verlangte er auch von den Schülern: Mitarbeit beim Lesen und ein eigenes Urteil.
 
Gleich zwei der Romane Johnsons wurden ins Englische übersetzt, während er im Verlag arbeitete, Das dritte Buch über Achim und Zwei Ansichten. Zudem sorgte Helen Wolff dafür, dass Johnson in das Leben der Stadt einbezogen war. Und sie machte ihn mit Hannah Arendt bekannt. Arendts Wertschätzung für Johnson lässt sich an der Empfehlung an Martin Heidegger ablesen; 1972 schrieb sie ihm: "Der hat vor Jahren ein schönes Buch geschrieben, 'Mutmassungen über Jakob', und schreibt jetzt ein seltsames Buch in drei Bänden, von denen die ersten beiden erschienen sind: 'Jahrestage', das ich beinahe geneigt bin, für ein Meisterwerk zu halten. Der erste deutsche Nachkriegsroman, von dem ich etwas halte jedenfalls."
 
Arendt hat Johnson mit großer Selbstverständlichkeit in ihre philosophischen Kreise aufgenommen. Bei ihr begegnete er Lyrikern wie W.H. Auden und Robert Lowell, Kritikern wie Susan Sontag und Mary McCarthy, allesamt prägende Stimmen des Landes, in dem Johnson möglichst aufmerksam zu leben suchte. Aus diesen Zusammenhängen heraus fand er noch während der Arbeit am Lesebuch den Stoff für seinen nächsten Roman. Für seinen Alltag bedeutete das: Er hörte auf, Lektor zu sein, er wurde wieder Schriftsteller.
 
Nun wurde das eigene Erleben zu einer Quelle, etwa wenn zu beschreiben war, welche Formulare für die Einreise auszufüllen sind, wie eine U-Bahn-Fahrt verläuft, was ein Speiseeis kostet. Johnson benutzte das eigene Leben in New York als Material bis hin zu der Adresse und der Telefonnummer, die seine Familie dort hatte: Beides ist in den Jahrestagen an die Cresspahls vergeben. Für den Roman erarbeitete er sich New York noch einmal. Das begann mit dem täglichen Zeitunglesen. Aus dieser Lektüre entstand ein Archiv, das am Ende 16 Leitz-Ordner umfasste. Die Ausschnitte bildeten die Basis dessen, was im Roman das "Bewußtsein des Tages" heißt.
 
Aus der Materialsammlung, die sich Johnson anlegte, entstand zuerst ein kleiner Text, der später unter dem Titel Ein Teil von New York erschien. Er stellt das Viertel vor, in dem die Johnsons wohnten, die Upper Westside. Johnson versucht, die Charakteristik des Viertels durch eine Folge von Beschreibungen zu erfassen: die geographischen Merkmale, der Zustand der Straßenzüge, die Eigenarten ihrer Anwohner nach Rasse, Religion, Einkommen und Beschäftigung, Weiße, Schwarze, Intellektuelle, Handwerker, Puertoricaner, Iren, Katholiken und Juden. Alles wird mit einer beeindruckenden Detailfülle unterlegt, historische Daten, Lokalnachrichten, Beobachtungen zu Schulbussen, Leuchtreklamen und Sonntagsausflüglern – um schließlich in eine Beschreibung des anderen Broadway zu münden, oberhalb der 72nd Street.
 
Aus demselben Material hat Uwe Johnson auch ein Textbuch für einen Dokumentarfilm entwickelt, in dem die Upper Westside vorgestellt wurde: Summer in the City von Michael Blackwood (Christian Schwarzwalds Künstlername). Der Film wurde in schwarz-weiß gedreht, nach der Methode des Direct Cinema Regisseurs Robert Leacock: Die Kamera fungiert als Beobachter, es wird nichts inszeniert, das Material wird möglichst ungeschnitten wiedergegeben. Die Effekte des Films entstehen durch die Auswahl, Anordnung und Kommentierung der Szenen. Diese Technik entspricht dem Ansatz in Johnsons Beschreibung. Er hat die Texte selbst eingesprochen.
 
All das lokale Material geht im Roman in einer transatlantischen Konstellation auf: Die Handlung ist auf zwei zeitlichen Ebenen angesiedelt, denen zwei Landschaften entsprechen, New York und Mecklenburg. Auf der Gegenwartsebene wird das Leben einer alleinstehenden Mutter, Gesine, und ihrer Tochter, Marie, im New York der späten 60er Jahre berichtet. Dort erzählt Gesine Marie die Geschichte ihrer Familie, beginnend 1888, dem Geburtsjahr des Großvaters, bis ins Frühjahr 1961, als die beiden in New York eintreffen. Es ist eine private Geschichte, die mit den Ereignissen der deutschen Historie eng verwoben ist. Die Mutter erzählt bis zu dem Moment, von dem an die Tochter die Geschichte selbst fortsetzen könnte. Der Roman wiederholt die erzählerische Geste der Mutter: Er überliefert die Geschichte der Familie und behauptet ihre Geltung in der erzählerischen Gegenwart.
 
Fünfzehn Jahre später, als Jahrestage endlich abgeschlossen war, hat Johnson auf der letzten Seite als Arbeitszeit festgehalten: "29. Januar 1968, New York, N. Y. – 17. April 1983, Sheerness, Kent". Als Johnson 1968 aus New York abreiste, nahm er 47 Seiten Manuskript mit, im Handgepäck. Im Kopf hatte er ein Bild der Stadt und eine Vorstellung von Amerika.
 

Holger Helbig ist Inhaber der Uwe Johnson-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts an der Universität Rostock und leitet dort das Uwe Johnson-Archiv. Er ist Projekt- und Arbeitsstellenleiter des Akademienvorhabens »Uwe Johnson-Werkausgabe« der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.


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