Schutz der Kulturpflanze
Die Befreiung der Stadttomaten

Ja, diese Formen und Farben sollen unsere Definition von Tomate auf den Kopf stellen! ProSpecieRara kultiviert 140 verschiedene Paradiesäpfel.
Foto (CC BY-NC-ND): Zacharias Thiel / ProSpecieRara

Das Projekt Stadt-Tomaten macht aus Schweizer Städtern leidenschaftliche Tomatenbauern. Gleichzeitig produzieren sie freies Saatgut für alle.

Slivi Limonje sieht aus wie eine Zitrone. Auch beim muskulösen Vincent trügt der Schein: Paprika oder Tomate? Beide sind echte Tarnkünstler. Beim Ochsenherz, da sind wir uns der Tomate sicher – wir kennen es seit geraumer Zeit aus der Gemüseabteilung. Rund und rot sieht die normale Tomate aus, denn unsere Wahrnehmung von Vielfalt entspricht dem Angebot im Supermarkt.

Das wollen die Menschen von ProSpecieRara ändern, indem sie alte Sorten in Umlauf bringen, die unsere Definition von Tomate auf den Kopf stellen: pinke Riesen, grüne Minis, rot-gelb Gestreifte... 140 verschiedene Paradiesäpfel kultiviert die Schweizerische Stiftung, die insgesamt 3800 alte Kulturpflanzen und einige Nutztierrassen vor dem Aussterben schützt. Seit ihrer Gründung vor 34 Jahren mischen sich das Wollschwein, das Appenzeller Spitzhaubenhuhn und die Stiefelgeiss wieder unters Holsteinvieh, und schwarzer Mais und gelbe Himbeeren machen Schweizer Äcker und Gärten bunter. Mit der Kampagne Stadt-Tomaten soll die botanische Mannigfaltigkeit nun auch einen urbanen Aufstieg erleben – hinauf auf die Balkone! Wie aber bringt man Stadtmenschen dazu, sich für erdige Agrarthemen zu interessieren? Mit Samen, Schaufel und Social Media.

Selbstgärtnern erhält enormen Zuspruch

In Zusammenarbeit mit den Städten Genf, Lausanne und Zürich entwickelt ProSpecieRara seit 2012 Starter-Kits für die Züchtung von Tomaten und seit kurzem auch von Paprika und Salat, die Freizeitgärtner über die Website und soziale Medien bestellen können. Mit ein paar Posts im zeitigen Frühjahr bringt Nicole Egloff die Tomaten jeweils ins Rollen, und sobald die ersten Bestellungen in der Mailbox blinken, verwandelt sich ihre Schaffensstätte in Basel in eine Versandfabrik. „Dank vielen freiwilligen Helfern, Zivis, Praktikanten und einem verständnisvollen Sekretariat können wir den Ansturm bewältigen“, erzählt die 34-jährige Kommunikationsverantwortliche. Seit sie vor neun Jahren als PR-Praktikantin zur Stiftung gekommen ist, setzt sie zusammen mit der Projektleiterin Anna Kornicker Botschaften zu knackigen Kampagnen um und berät auch mal Hobby-Gärtner bei braunen Blättern oder weißen Fliegen. Letztes Jahr war ihre Kommunikationsfreude ganz besonders gefragt, denn die Stadt-Tomaten-Aktion schlug ein wie eine Samenbombe. Die Bestellungen brachten die „Saatgut-Logistiker“ an ihre Grenzen – und nach nur zweieinhalb Wochen waren alle Samen weg und Egloff platt.

Endlich „Farmville“ offline spielen...

„Tomate statt Tamagotchi“, so beschreibt Egloff den Kulturwandel, der aus naturfremden Städtern plötzlich passionierte Gärtner macht. Eltern schenken ihren Kindern Schäufelchen und Samen und zelebrieren auf ihren Balkonen gemeinsam das Wunder des Lebens. Zum ersten Mal übernehmen die Kleinen die Verantwortung für etwas Lebendiges und päppeln, staunen, beobachten – und erleben auch mal eine Enttäuschung. „Die Kinder lernen den Kreislauf des Lebens zu verstehen und sehen ‚rund und rot’ als nur eine von vielen Tomatenfacetten.“ Und auch die erwachsenen Urban Gardener, die konsumüberdrüssig das Ursprüngliche suchen, finden es in der Gartenarbeit. Mit fast 25.000 Stadt-Tomaten-Botschaftern in vier Jahren hat ProSpecieRara ihr Ziel schneller erreicht als geplant. Das zeigt Egloff: Die Zeit ist reif für das neue alte Gemüse.

...und die eigenen Züchtungen online preisen

Reif sind nach einigen Monaten auch die Früchte der gärtnerischen Arbeit. Die baumeln wie Christbaumkugeln an den Ästen ihrer grünen Mütter, die auf städtischen Balkonen, in Hinterhöfen und Schrebergärten Wurzeln geschlagen haben. Die Wachstumsphasen ihrer Zöglinge dokumentieren die Stadt-Tomaten-Botschafter mit Bildern über Facebook und lassen die Community an ihrem Glück teilhaben. Darüber erkennt Egloff auch, wie vielschichtig ihre Freizeit-Farmer sind. Manche von ihnen machen sich die Finger erst seit dieser Saison schmutzig, andere graben schon seit Jahrzehnten in der Erde. Vier-, 90-, 48- und 22-Jährige – Gärtner und Gärtnerinnen allen Alters helfen mit, die nächste Generation Tomaten zu sichern, denn mit Säen, Pflanzen und Ernten ist das Projekt Stadt-Tomaten noch nicht zu Ende.

Ist der Erntezeitpunkt da, nimmt die Tomatenzüchterin die hübsch illustrierte Anleitung aus dem Starter-Kit wieder zur Hand und liest bei Punkt drei weiter, wie sie die Kerne ihrer Tomaten nun richtig waschen, trocknen und aufbewahren muss. So funktioniert Saatgutproduktion! Aber nur, wenn es sich um samenechte Sorten handelt. Die meisten Sorten aus dem Handel sind Hybride, die sich nicht vermehren lassen. Mit solchen und anderen Beschränkungen, zum Beispiel durch Patente auf Gemüsesorten, bestimmen die wenigen weltweiten Saatgut-Giganten, was wir essen und schließlich was wir sind – du bist, was du isst.

Spaßiges Unterfangen, ernste Aufgabe

So ist der Tomatenspaß eigentlich ein todernstes Thema und ProSpecieRara eine Freiheitskämpferin, welche die mächtigen Samenproduzenten mit ihren eigenen Tomaten schlägt: Sie lässt die knapp 4.000 Pflanzensorten von privaten Hobby- und Vollzeitgärtnern züchten. Mit Weiterbildungen, Lobbying, Informationsarbeit und Vernetzung schafft es die Stiftung, die Vielfalt und das Wissen stetig zu erweitern und sogar die Großverteiler für sich zu gewinnen. Coop bietet etwa bereits seit einigen Jahren Gemüse und Früchte mit dem Stiftungssiegel an und verkauft in ihren Gartenfilialen Saatgut und Setzlinge der raren Spezien. Und natürlich sollen auch die Saatgut vermehrenden Gönner immer mehr werden.

Die konnten sich letztes Jahr auch offline, auf dem Stadt-Tomaten-Fest, treffen. An der Saatgut-Tauschbörse wurden die eigenen Kerne gegen fremde Sorten gewechselt. So konnte man auf Schildern lesen: „Tausche Schwarzen Prinzen gegen Green Zebra!“ Andere kosteten an den langen Degustationstischen noch ein paar Schnitzchen Slivi Limonje und Paprika-Paradiesapfel Vincent. Dem Ochsenherz daneben, dem wird seither weniger Aufmerksamkeit zuteil, denn das gibt’s ja nun schon in jedem Supermarkt zu kaufen.