Frieden in Kolumbien
VISIONEN FÜR MILLIONEN

In Orten wie Apartadó (Antioquia) gibt es den Wunsch, Dinge zu ändern.
Foto (CC BY-NC): Dana Ritzmann

Die Initiative „48 Millionen“ will regionalen Akteuren in Kolumbien Aufmerksamkeit verschaffen und sie untereinander vernetzen. Das soll sie in ihrer Arbeit bestärken, um das Land nach dem erwarteten Ende des bewaffneten Konflikts neu aufzubauen.

Der 19-jährige Larry spricht mit der Weisheit und der Geschwindigkeit eines Menschen, der ein langes Leben hinter sich hat. Kugelstoßer und Hammerwerfer sei er gewesen, Studierendenvertreter, Rechnungsprüfer, Fremdenführer. Zum Opfer der Gewalt in Kolumbien sei er geworden, als Vertriebener in Bogotá gelandet, Umweltaktivist gewesen. So viele Funktionen habe er in seinem kurzen Leben schon ausgeübt, dass er ganz unbeabsichtigt soziale Verantwortung übernommen habe.

Larrys Mutter überlebte 1994 das Massaker von La Chinita, das als eines der grausamsten Ereignisse in die Geschichte des Landes einging. Der Vater von Larrys älteren Geschwistern wurde dabei ermordet. Larry wurde 1998 in Apartadó im Departamento Antioquia geboren, aber wer mit ihm spricht, gewinnt den Eindruck, als entstamme er einer anderen Welt als seine Eltern und Geschwister. Larry spricht von seinen Träumen, seinem Glauben an die Demokratie, seinem Wunsch, über sich selbst hinauszuwachsen und ein Vorbild für die jüngeren Mitglieder seiner Familie zu sein.

Cristian kam vor fast 20 Jahren in der fruchtbaren Region Urabá zur Welt. In nochmal 20 Jahren will er Gouverneur von Antioquia werden – ein Traum, den er mit einem Lächeln auf den Lippen jedem erzählt, der ihm über den Weg läuft. Es ist nicht der Traum eines Teenies, sondern eine politische Laufbahn, für die sich Cristian mit jeder Entscheidung, die er trifft, den Weg freikämpft. Zum Präsidenten des kommunalen Aktionskomitees in Apartadós Stadtteil Primero de Mayo wurde er bereits gewählt, ein unbezahlter Posten zwar, aber wichtig, meint Cristian, um der Politik Impulse zu geben. Die Führungsrolle scheint Cristian angeboren. In seinem letzten Schuljahr wurde er mit 72 Prozent der Stimmen zum Schülersprecher gewählt, und als ihn seine Nachbarn 2016 zu ihrem Kandidaten kürten, holte er prompt 331 Stimmen, während es der Gegenkandidat nur auf 41 brachte.

Mit einer Gruppe von Freunden, die sich um die Umwelt in Apartadó Sorgen machen, gründeten Cristian und Larry die Stiftung Más Verde Menos Gris („Mehr Grün statt Grau“), die sich um Angelegenheiten wie sauberes Wasser, Empowerment der Bevölkerung und das Flicken des sozialen Gefüges kümmert. Die Stiftung führt Umweltbelange und soziale Bedürfnisse zusammen, wenn sie zum Beispiel eine Initiative startet, bei der 1.000 Jugendliche aus einem kriminellen oder prekären Umfeld Samen für 1.000 Bäume säen. Damit tragen sie nicht nur zur ökologischen Wiederherstellung ihrer Gemeinde bei, sondern sind gleichzeitig Symbol für eine aufkeimende neue Lebenshaltung.

Akteure, die Millionen vereinen 

Mit ebendieser Initiative schlossen sich Cristian und Larry dem Projekt „48 Millionen“ an. Gefördert durch die Stiftungen Corpovisionarios und Fenalper mit Unterstützung der Britischen Botschaft in Kolumbien, soll diese Bewegung soziale Akteure, die als Friedenspioniere in verschiedenen Regionen wirken, mit Menschen in anderen Landesteilen vernetzen, die ebenfalls am Wiederaufbau des Landes in diesem historischen Augenblick teilnehmen möchten.

Anfang 2016 rief 48 Millionen die Vertreter von Friedensinitiativen zusammen. Die Herausforderung bestand darin, Helden wie Larry und Cristian ausfindig zu machen, die bereits damit angefangen hatten, das Land in seinen verschiedenen Regionen durch vielfältige Projekte neu aufzubauen. Ziel dabei waren die Vernetzung untereinander und eine verbesserte Arbeitsfähigkeit durch den Transfer innovativer Strategien. Das Ziel: sozialen Einfluss in ihren Gemeinden auszuüben. Dem Aufruf folgten fast 40 regionale Akteure aus verschiedenen Landesteilen, sie tauschten sich über ihre Initiativen und Anliegen aus, vernetzten sich, um das Vertrauen zu stärken und gaben gemeinsamen Projekten den Startschuss.

Zu 48 Millionen meint Cristian: „Es hat gedauert, solche Plattformen zu schaffen. Wir können uns dadurch vernetzen und neue Möglichkeiten kennenlernen, wie wir mit fast sofortiger Wirkung das Leben in unseren Gemeinden positiv beeinflussen können. Projekte wie Minga le ayudo oder Hágame un 48sind so einfach, dass sie ohne hohe finanzielle Mittel viel bewirken können.“

Wörter eines neuen Kolumbiens

Hágame un 48 war eine der angestoßenen Aktionen. In jeder Ortschaft wurden Sparbüchsen herumgereicht. Diejenigen, denen uneigennützige Hilfe durch einen Mitbürger zuteilgeworden war, schrieben dessen Namen auf einen Zettel, steckten ihn in die Sparbüchse und übergaben sie ihrem Helfer in einer Geste der Anerkennung. Dieser war nun seinerseits an der Reihe, reichte die Büchse wieder weiter und so fort, bis an einem festgelegten Stichtag die Sparbüchse geöffnet und die Kette an Hilfeleistungen öffentlich verlesen wurde. So wurden Formen der Solidarität sichtbar, die im jeweiligen Ort bereits existierten. Eine Dynamik der Anerkennung guter Taten wurde auf spielerische Weise in Gang gesetzt.

Das Projekt Minga le ayudo hingegen regt zur Arbeit im Kollektiv an. Die Bürger helfen zusammen dabei, ein Gebäude oder einen Platz zum Wohl der Allgemeinheit zu errichten, wiederaufzubauen oder zu renovieren. Vor Kurzem organisierten Larry und Cristian zusammen mit anderen sozialen Akteuren aus der Region Urabá eine solche Minga, um die Wohnbedingungen in einer Unterkunft für kubanische Flüchtlinge in der Hafenstadt Turbo zu verbessern. Sie schafften es, eine Gruppe Freiwilliger zusammenzutrommeln und sammelten die nötigen Materialspenden ein. Darüber hinaus ist es das Ziel jeder Minga, die lokalen Akteure bei der Durchführung kollektiver Aktionen zu bestärken. Minga le ayudo ermöglicht es den Gemeinden, sich in der Zusammenarbeit bei Projekten für das Allgemeinwohl zu üben, und zwar entgegen dem üblichen Narrativ, dass Kolumbianer nicht im Team arbeiten könnten.

48 Millionen soll die Aufmerksamkeit auf die engagierten Helden lenken, die in verschiedenen Landesteilen nach Lösungen für die Probleme ihrer Gemeinden suchen. Indem diese erkennen, dass sie nicht allein sind, lässt sich einerseits das in Kolumbien gängige Bild von seinen eigenen Einwohnern verändern; das gilt besonders für die entlegeneren Gebiete. Andererseits eröffnet die Initiative der städtischen Mehrheit einen Weg, die Machtlosigkeit des bloßen Fernsehzuschauers angesichts des Konflikts und des Friedensprozesses zu überwinden, indem sie eine Plattform zur Vernetzung Freiwilliger in lokalen Initiativen anbietet, die das Land verändern wollen. Es werden Brücken zwischen den verschiedenen Regionen gebaut, zwischen Stadt und Land. Zusammenarbeit, aktive Bürger und ein neues Modell ehrenamtlicher Arbeit werden gefördert, damit die 48 Millionen Einwohner Kolumbiens am Aufbau des Landes teilhaben können, von dem sie alle träumen.

Cristians Traum ist es, dass sich in Zukunft eine Mehrheit der Kolumbianer an 48 Millionen beteiligt, dass sie Hágame un 48 (statt der heute üblichen Redensart Hágame un 14 für „Kannst du mir einen Gefallen tun?“) sagen, wenn sie jemanden um einen Gefallen bitten, oder dass sie ein Minga le ayudo aussprechen anstelle von Venga le ayudo (sinngemäß: „Wir helfen zusammen“ anstelle von „Ich helfe Ihnen“). Dass diese Wörter für das neue Kolumbien stehen, davon träume er, sagt Cristian.