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Rede zum 70-jährigen Bestehen des Goethe-Instituts in Athen am 12. Oktober 2022
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Die Präsidentin Carola Lentz steht an einem Rednerpult. Hinter ihr auf der Leinwand steht „70 Jahre Goethe-Institut“
Die Präsidentin Carola Lentz beim Festakt zu 70 Jahre Goethe-Institut in Athen | © Goethe-Institut Athen/Vangelis Patsialos

Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, plädiert anlässlich des 70-jährigen Bestehens des Goethe-Instituts in Athen für eine vielstimmige, zukunftsoffene europäische Erinnerungskultur.

1952, nur wenige Jahre nach Kriegsende, war Athen der erste Auslandsstandort, der nach der Wiedergründung des Goethe-Instituts in München ein Jahr zuvor eröffnet wurde. Wie so oft, brauchte es Menschen, die sich aktiv einsetzen. Für die Athener Neugründung war maßgeblich Werner Günther verantwortlich, ein ausgewiesener Kenner Griechenlands und Athens, der bereits für die 1925 in München gegründete Deutsche Akademie tätig gewesen war. Das Institut entwickelte sich rasch vom reinen Sprachkurs- und Prüfungsanbieter zu einem zentralen kulturellen Akteur, der neue künstlerische Trends aufgriff, sich aber auch offen der eigenen Vergangenheit stellte – das aktuelle Projekt zum Archiv des Goethe-Instituts und die für das Jubiläum erarbeitete Ausstellung sind lebendiger Ausdruck dieses Bemühens.

So wenige Jahre nach den entsetzlichen Kriegsverbrechen, die Deutschland in Griechenland verübt hat, in Athen ein Institut für die deutsche Sprache und den Kulturaustausch mit Deutschland zu eröffnen, war keine Selbstverständlichkeit! Und so möchte ich hier als erstes im Namen des Goethe-Instituts unseren griechischen Gastgebern und Partnern einen großen Dank aussprechen für ihre kritische Begleitung und freundschaftliche Unterstützung während der vergangenen sieben Jahrzehnte.

Ein Jubiläum lädt zu einem Blick auf die Vergangenheit ein. Ein solcher Blick kann aber nicht einfach historiographisch Geschichte vergegenwärtigen, im Sinne einer möglichst objektiven Darlegung dessen, „wie es eigentlich gewesen“ ist, um Leopold von Ranke, den Vater des Historismus zu zitieren. Jeder Blick auf die Vergangenheit ist zwangsläufig selektiv. Er ist geprägt von aktuellen Herausforderungen und von Visionen der Zukunft. Erinnerung findet in der Gegenwart statt und will aktiv Zukunft gestalten. Darum ist Erinnerung auch immer umstritten.

Im Idiom der Geschichte wird über gegenwärtige Positionen und wünschenswerte Zukünfte gestritten. Das gilt für die Erinnerung jeder Familie, jeder Organisation und jedes Nationalstaats. Und es gilt erst recht für die transnationale Erinnerungspolitik zwischen Nationalstaaten, zwischen ehemaligen Kriegsgegnern oder zwischen Kolonialherren und Kolonisierten. Es wäre anmaßend, hier allzu schnell von gemeinsamer, geteilter Erinnerung zu sprechen. Wir müssen vielmehr anerkennen, dass die Perspektiven auf die Vergangenheit unterschiedlich, ja sogar konträr sein können. Und wir sollten darüber behutsam und respektvoll miteinander ins Gespräch kommen.

Wir Deutschen müssen dabei vor allem zuhören. Wir müssen den Schmerz der anderen, die historischen Traumata respektieren und nach unserer eigenen Verantwortung fragen. Das ist die Voraussetzung dafür, gemeinsam mit unseren Partnern in aller Welt nach Verbindungen zu suchen und Brücken zu bauen. Und genau dazu möchte und kann das Goethe-Institut beitragen.

Ehe ich Ihnen einige Überlegungen zu einer europäischen Erinnerungskultur präsentiere, erlauben Sie mir einen Exkurs zu meinen eigenen Verbindungen mit Griechenland und griechischen Intellektuellen.

Vor genau fünfzig Jahren, im Oktober 1972, begann ich mein Studium an der Universität Göttingen, in Germanistik und Politikwissenschaft. Schon bald schloss ich mich einer kleinen Gruppe von engagierten Studenten an, die die Seminare von Kosmas Psychopedis besuchten und sich dort intensiv mit den Klassikern der politischen Philosophie auseinandersetzen – Kant und Hegel, Marx und schließlich Max Weber. Kosmas Psychopedis, 1944 in Athen geboren, hatte zunächst in Athen studiert und dann nach der Machtübernahme durch die Junta 1967 in Deutschland Zuflucht gesucht. Er studierte in Frankfurt bei Theodor W. Adorno und Iring Fetscher und kam nach seiner Promotion 1973 als wissenschaftlicher Assistent, später Akademischer Rat, nach Göttingen. Ich hatte das große Glück, über Jahre hinweg an dem engen intellektuellen Austausch mit ihm teilhaben zu dürfen, der nicht nur an der Universität stattfand, sondern auch in seiner Wohnung und den griechischen Kneipen der Nachbarschaft. Ein solch beglückendes Symposium eines akademischen Lehrers, der uns Studierende als gleichberechtige Gesprächspartner ernstnahm und uns zu intellektuellen Höchstleistungen antrieb, ist an heutigen Universitäten fast unvorstellbar! Kosmas habilitiert sich dann 1981 und ging nach Athen zurück, aber unsere freundschaftlichen Bande blieben bestehen. Kosmas arbeitete zuerst an der Pantios-Hochschule für Politische Wissenschaften, später an der Kapodistrias Universität. Er war ein streitbarer, leidenschaftlicher Kämpfer für die Aufklärung und den Rationalismus und hat übrigens auch am Goethe-Institut Athen einige Konferenzen organisiert. Auch seine Frau Olympia Frangou-Psychopedis, eine herausragende Musikwissenschaflerin, veranstaltete mit dem Goethe-Institut gemeinsam einen Kongress. Leider sind beide viel zu früh verstorben, Kosmas schon 2004, Olympia 2017. Doch ich erinnere mich mit großer Dankbarkeit dieser inspirierenden Verbindungen, auch zu weiteren griechischen Intellektuellen, die in Göttingen im Exil lebten.

Ebenfalls vor fünfzig Jahren, im März 1972, fand am Goethe-Institut in Athen bzw. seinem „Studio für Moderne Kunst“ eine legendäre Kunstausstellung statt, mit Arbeiten einer Gruppe junger griechischer Künstler, der sogenannten „Jungen Realisten“, an der auch Jannis Psychopedis teilnahm, der jüngere Bruder von Kosmas. Jannis ging erst 1971 nach Deutschland, an die Akademie der Bildenden Künste in München, kehrte später für den Militärdienst nach Griechenland zurück und pendelte dann zwischen Deutschland, Griechenland und Belgien. Die Athener Ausstellung von 1972 mit den Werken junger, regimekritischer Künstler zog enorm viele Besucher an und soll ungläubiges Staunen der griechischen Sicherheitskräfte provoziert haben. Doch der Programmdirektor des Goethe-Instituts Johannes Weissert gewährte der Ausstellung und den beteiligten Künstlern besonderen Schutz – ein Beispiel für die Rolle als Schutzraum und Zufluchtsort, die das Goethe-Institut in autoritär regierten Ländern immer wieder spielte und heute mehr denn je spielen muss.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt Europa vor neue Herausforderungen. Die Solidarität zwischen den europäischen Staaten spielt in der neuen polarisierten geostrategischen Konfiguration eine noch wichtigere Rolle als bisher. Auch die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland nehmen hier einen zentralen Platz ein. Den europäischen Zusammenhalt stärken: dazu will und kann auch das Goethe-Institut mit seinem Netzwerk in ganz Europa einen Beitrag leisten. Es tut dies, indem es insbesondere Verbindungen zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Kunstschaffenden unterstützt – ein wichtiges Gegengewicht zu den diplomatischen und wirtschaftlichen Verflechtungen.

Belastbare und zukunftsfähige europäische Verbindungen können nur, davon bin ich überzeugt, auf der Basis einer offenen, zur Selbstkritik bereiten Auseinandersetzung mit der häufig traumatischen Geschichte dieser Beziehungen gelingen. Wie präsent diese Vergangenheit auch in der Gegenwart immer wieder ist, konnte man bei der Staatsschuldenkrise Griechenlands in den 2010er Jahren erleben, als man sich in Griechenland an Deutschlands Rolle als Besatzer erinnerte und in Deutschland alte Stereotypen über einen reformunfähigen Balkan aufrief.

Ähnliche Beispiele lassen sich für Deutschlands Beziehungen zu unseren polnischen und italienischen Nachbarn beobachten, und selbst die oft beschworene deutsch-französische Freundschaft verhindert nicht, dass alte Wunden anlässlich aktueller politischer Differenzen wieder aufbrechen. Alles vergeht, außer der Vergangenheit: dieser Titel eines Buchs des belgischen Soziologen Luc Huyse – er inspirierte auch den Titel eines europäischen Projekts des Goethe-Instituts zum kolonialen Erbe – verweist treffend auf die generationenübergreifende Macht der Vergangenheit.

Um diese potenziell zerstörerische Macht der Vergangenheit zu bannen, braucht es aktive Erinnerungsarbeit. „Ein Konsens über das, was das Projekt Europa und seine Zukunft ausmacht, bleibt so lange schwierig“, schreibt Aleida Assmann in ihrem Buch Der europäische Traum (2018), „wie es keine Verständigung oder Anerkennung der gemeinsamen Gewaltgeschichte gibt“. Zu dieser Gewaltgeschichte gehört, dass das deutsche imperiale Projekt, wie Mark Terkessidis bei einer Diskussionsveranstaltung am Goethe-Institut Athen im Oktober 2020 konstatierte, nicht nur auf überseeische Kolonien, sondern ebenso auf den Osten und Mitteleuropa gerichtet war.

Wie schon in seinem Buch, Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute (2019), forderte Terkessidis in seinem Gespräch mit dem griechischen Historiker Kostis Papaioannou und der Sozialanthropologin Athena Athanasiou, dass insbesondere Griechenland und der Balkan im Hinblick auf die Verbrechen der Wehrmacht und Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg eine größere Rolle in der deutschen Erinnerungspolitik spielen müssten. Auch der Koalitionsvertrag der aktuellen deutschen Regierung fordert neben der weiterhin zentralen Erinnerung an den Holocaust eine intensivere Auseinandersetzung auch mit der deutschen Kolonialgeschichte und dem Vernichtungskrieg im Osten.

Doch wie können wir die miteinander verflochtenen gewaltvollen Geschichten der europäischen Gesellschaften und Staaten so erinnern, dass eine humanere, demokratische Zukunft möglich wird? Darüber sind sich Politiker, Historiker, Intellektuelle und Künstler keineswegs einig. Die transnationale Erinnerungspolitik ist umstritten, doch auch schon innerhalb der einzelnen Nationalstaaten ist der Umgang mit der Geschichte vielstimmig, wenn nicht kontrovers.

So erleben wir in Deutschland gerade anlässlich der auf der Documenta gezeigten antisemitischen Werke eine erbitterte Auseinandersetzung über den Umgang mit dem Holocaust und seine Beziehung zu Kolonialverbrechen. Manche sehen in der aktuellen Diskussion eine Neuauflage des ersten Historikerstreits von 1986 zur Frage der Einzigartigkeit des Holocaust in Bezug auf den Gulag, während andere eher die neuen Dimensionen der gegenwärtigen Diskussion betonen, wie sich im kürzlich veröffentlichten Sammelband mit Positionsbestimmungen unter dem Titel Historiker streiten (2022) nachlesen lässt.

Wie können wir Wege der Auseinandersetzung finden, die Vielstimmigkeit respektieren, ohne unfruchtbare Polarisierungen anzuheizen? Charlotte Wiedemanns anregendes Buch Der Schmerz der anderen. Holocaust und Weltgedächtnis (2022) macht das Konzept der Empathie stark. Sie fragt selbstkritisch, welchen Toten und welchen historischen Massenverbrechen wir unsere Empathie schenken, und plädiert für eine Universalisierung von Trauer und Empathie. Erinnerungen an den Holocaust und an Kolonialverbrechen dürften nicht miteinander konkurrieren – eine Forderung, die auch Michael Rothberg mit seinen Argumenten für die Möglichkeit einer „multidirektionalen Erinnerung“ vorgebracht hat. Die Universalisierung der Empathie setzt freilich voraus, kollektive Verdrängungsprozesse rückgängig zu machen und die scheinbar entfernteren oder verdrängten Gräueltaten näher an unser Bewusstsein heranzurücken. Und das scheint mir nur auf der Basis von mehr Wissen möglich. Ein breites, transnational mitfühlendes Erinnern und die Entstehung eines „Weltgedächtnisses“ scheinen mir lohnende Ziele, doch sie sind voraussetzungsreich und schwierig. Ich würde darum zunächst nicht so sehr Einfühlung und Solidarität einfordern, als vielmehr die Suche nach Verbindungen stark machen – die auch problembelastet sein und Trennendes aufrufen können.

Die südafrikanisch-israelische Historikerin Tali Nates, eine der Preisträgerinnen der Goethe-Medaille 2022, hat dieses Konzept der Verbindungen in dem von ihr 2008 gegründeten Johannesburg Genocide & Holocaust Centre umgesetzt. Das Centre betreibt vor allem eine auf südafrikanische Jugendliche zielende Bildungs- und Aufklärungsarbeit, dokumentiert aber auch jüdische Lebensgeschichten in ihren vielfältigen Bezügen zu Südafrika, aber auch weit darüber hinaus. Und es erinnert an den Genozid in Ruanda. 1961 in Israel als Kind von Holocaust-Überlebenden geboren, die von Oskar Schindler gerettet wurden, liegt Tali Nates eine Relativierung des Holocaust völlig fern. Aber sie will biografische und gesellschaftliche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gewaltgeschichten aufspüren.

In einer Podiumsdiskussion in Weimar im Rahmen der Preisverleihung erläuterte sie, wie eine solche Suche nach Verbindungen in ihrem Zentrum konkret aussehen könne. Nicht wenige der geflohenen Juden, die in Südafrika vor dem Nationalsozialismus Zuflucht gesucht hätten, so Tali Nates, seien zu Unterstützern der Apartheidpolitik geworden, von der sie als Weiße profitierten. Dagegen sähen viele junge schwarze Südafrikaner Israel – vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit dem südafrikanischen Apartheidregime – als einen Apartheidstaat und solidarisierten sich mit den Palästinensern in einer Weise, die auch antisemitische Züge annehmen könne. Bildungsarbeit zum Holocaust müsse in Südafrika diese unterschiedlichen Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen und Zusammenhänge der verschiedenen Schicksale aufzeigen.

Außerdem könne man in Südafrika, so Tali Nates, eigentlich nicht über Holocaust und Völkermord sprechen, ohne den Genozid in Ruanda einzubeziehen, der genau in dem Zeitraum, als Südafrika das Ende des Apartheidregimes feierte, einer Million Tutsi das Leben kostete. Enge Verbindungen zu dieser und anderen afrikanischen Gewaltgeschichten würden sich nicht zuletzt durch die Präsenz von Flüchtlingen und Migranten aus afrikanischen Nachbarländern ergeben. Die xenophoben Ausschreitungen in Südafrika würden vor Augen führen, wie notwendig hier Bildungsarbeit ist, die die Lebensgeschichten der südafrikanischen Jugendlichen mit denen von Flüchtlingsfamilien in Beziehung setzt.

Hier wird also deutlich: die vielstimmige Erinnerungsarbeit entlang biografisch-historischer Verbindungen produziert keineswegs ein harmonisches Gesamtbild, sondern enthält viel Konfliktstoff. Den gilt es aber auszuhalten und durchzuarbeiten, wenn ein belastbares und in die Zukunft weisendes friedliches Miteinander entstehen soll. Von Tali Nates’ großartigem Erinnerungsprojekt und ihrer Suche nach Verbindungen lässt sich, so glaube ich, viel lernen für die notwendigen Schritte auf dem Weg zu einer vielstimmigen europäischen Erinnerungskultur. Eine solche Erinnerungsarbeit braucht solides Wissen über die historischen Ereignisse, weit über den engen nationalen Rahmen hinaus. Es bedarf nicht nur der Empathie mit den Opfern, sondern auch des Wissens über die Täter und die Dynamiken der Ausgrenzung und Gewalteskalation. Und man sollte sich der Historizität von Erinnerungskulturen bewusst sein.

Wenn mich meine Forschung zu afrikanischen Erinnerungspolitiken – Unabhängigkeitsfeiern, Heldengedenken und vielem mehr – eines gelehrt hat, dann wie stark sich Erinnerungspraktiken und Gedenkkulturen im Lauf der Zeit verändern können. Denkmalsstürze und die Errichtung neuer Gedenkstätten wechseln sich ab; Feiertage werden eingerichtet und von der nächsten Regierung wieder abgeschafft. Dies geschieht vor allem, weil neue politische Konfliktlinien den Blick auf die Geschichte verändern und weil neue Visionen einer wünschenswerten Zukunft ein anderes Erbe aufrufen wollen. Wenn sich Erinnerungspraktiken in der Vergangenheit immer wieder verändert haben, können wir sie auch jetzt und zukünftig verändern!

Generell brauchen wir vielleicht erst einmal mehr „Geschichtskultur“ als „Erinnerungskultur“. Wir brauchen eine neugierige und offene Erinnerungsarbeit, die auf Wissen basiert und Ambivalenzen ebenso wie Streitgespräche aushält, zugleich aber auch Brücken zu bauen sucht. Und dafür wiederum bedarf es offener Räume und vielfältiger Netzwerke, in denen solcher Austausch stattfinden kann. Hierzu nun kann das Goethe-Institut mit seinem weltweiten Netzwerk einen Beitrag leisten – und hat das auch schon getan, nicht zuletzt in Griechenland und gemeinsam mit griechischen Intellektuellen und Künstlern.

Die Zeit läuft mir davon, und ich kann Beispiele dafür nur antippen.

Das Werk von Jannis Psychopedis zum Beispiel, den ich eingangs erwähnte, hat sich immer wieder in vielfältiger Weise mit dem Thema des kulturellen Erbes und der griechischen Geschichte im europäischen Raum auseinandergesetzt. Zu den im März 1972 im Goethe-Institut gezeigten Werken gehörte etwa die Reihe „Seminars“, die sich kritisch vom damals offiziell propagierten Dogma des „Griechentums“ absetzte und auf kluge Weise den gewaltsam unterbrochenen gesellschaftspolitischen Wandel im Land ansprach. Dem Thema der kritischen Auseinandersetzung mit Ideologien und Mythen Griechenlands blieb Psychopedis auch in den folgenden Jahrzehnten treu. Und er wurde durch seine kosmopolitische Biografie und engen Kontakte zu deutschen Künstlern und Intellektuellen auch zu einer der wichtigen Stimmen bei der Documenta 14, die Verbindungen zwischen Deutschland und Griechenland stiften wollte – zu einer Zeit, in der die massiven Verwerfungen durch die Schuldenkrise noch spürbar waren. Fruchtbare Verbindungen zwischen den Perspektiven griechischer und deutscher Intellektueller und Künstler entstanden damals übrigens auch dadurch, dass das Goethe-Institut Athen der Ausstellung der griechischen „Jungen Realisten“ im Herbst 1972 eine Ausstellung von zwölf Berliner Künstlern und Künstlerinnen unter dem Titel „Kritischer Realismus“ folgen ließ.

Ich freue mich sehr, dass Maria Stefanopoulou nachher sprechen wird. Sie hat mit ihrem Roman Athos der Förster (auf Griechisch 2015, auf Deutsch 2019 erschienen), den ich mit großer Begeisterung gelesen habe, ein zentrales Werk zur notwendigen und schmerzvollen Erinnerungsarbeit in Bezug auf die deutschen Verbrechen in Griechenland geschrieben. Sie reflektiert nicht zuletzt die besondere Rolle der Kunst und Literatur für diese Erinnerungsarbeit. „Über den Krieg sprach ich nie, weder über den gegen die Deutschen noch über den griechischen Bürgerkrieg – schon allein, weil mich lange Jahre Erinnerungslücken quälten. Dann kehrte die Erinnerung durch Bilder zurück, ausschließlich durch Bilder, die – obwohl sie mich heimsuchten und meine Gedanken überschatteten – meinen Alltag nicht beeinträchtigten“, so lässt Stefanopoulou ihren Protagonisten Athos sprechen.

Besonders aufschlussreich fand ich, wie unterschiedlich sie die Erzählerinnen aus verschiedenen Generationen auf das Verbrechen von Kalavryta schauen, wie verschieden sie es in Worte fassen und beurteilen lässt. Während Athos im vom Partisanen- und Bürgerkrieg zerrissenen Land keine Partei ergreifen wollte, nehmen andere im Roman klarer Stellung, und von Athos Enkelin Lefki heißt es: „Obwohl sie erst zwölf Jahre danach geboren wurde, spürte sie, dass es ihre Pflicht und Schuldigkeit war, dem Toten zu seinem Recht zu verhelfen und ihn wieder ins Leben zurückzuholen“. Es geht im Roman um die vielen Facetten einer generationenübergreifenden posttraumatischen Erinnerungsarbeit. Erst die dritte Generation leistet die explizite Erinnerungsarbeit, während die erste Generation überlebt und die zweite sich den historischen Wunden durch Vergessen zu entziehen zu versucht. Doch erst die vierte Generation, Lefkis Tochter Iokaste, bricht aus dem bedrückenden Kreislauf der Opfer-Täter-Narrative aus.

Mich hat fasziniert, wie Stefanopoulou dabei in die vielschichtige Romanhandlung auch Verbindungen mit deutschen Akteuren eingeflochten hat – mit einem Wehrmachtsdeserteur und späteren Kameraden von Athos in einer gemeinsamen Haltung des Antiheldentums, und mit der Deutschen Inge Brahms, die sich als Nachfahrin der Täternation auf historische Spurensuche begibt (eine Anspielung auf die Historikerin Ehrengard Schramm-von Thadden, die sich schon in den 1950er Jahren für die Überlebenden von Kalavryta einsetzte).

Die schmerzhafte Erfahrung des Erinnerns steht auch im Mittelpunkt der vom Goethe-Institut Thessaloniki koordinierten Ausstellung „Gespaltene Erinnerungen. Griechenland 1940-1950. Zwischen Geschichte und Erfahrung“. Dieses Ausstellungsprojekt steht für eine beispielhafte Kooperation von deutschen und griechischen Partnern – vom Jüdischen Museum Thessaloniki, dem Makedonischen Museum für Zeitgenössische Kunst Thessaloniki und dem Deutschen Historische Museum Berlin. Zuerst 2016-17 in Thessaloniki gezeigt, gibt es aktuell ein digitales Rückspiel nach Deutschland in Zusammenarbeit mit dem NS-Dokumentationszentrum in Köln, der Partnerstadt von Thessaloniki. „Gespaltene Erinnerungen“ widmet sich einem der bedrückendsten Kapitel in der deutsch-griechischen Geschichte, stehen die 1940er Jahre doch für Besatzung, Holocaust und Bürgerkrieg.

Verschiedenen Geschichten und persönlichen Erfahrungen Raum zu geben und damit zu einer neuen, differenzierteren Perspektive auf dieses schwierige Jahrzehnt beizutragen, war und ist Ziel der Ausstellung. Die Erarbeitung der Ausstellung legte Asymmetrien in der Erinnerungsarbeit offen, wie die Redner in der Eröffnung der digitalen Ausstellung darlegen. Dabei geht es den Ausstellungsmachern nicht um eine wissenschaftliche Dokumentation, sondern darum, mit der Symbolik von Artefakten aus Kunst, Poesie und anderen ästhetischen Medien neue Kontexte zu eröffnen. Das Mosaik an künstlerischen Perspektiven erlaubt auch, dominante Mythen, zu denen Geschichte mittlerweile geronnen ist, kritisch zu hinterfragen. So wird die Ausstellung auch zu einem Beispiel für die Kraft der Kunst, staatliche verordnete Erinnerungspolitik zu hinterfragen, Ambivalenzen auszuhalten und verflochtene Biografien ebenso wie traumatische Erfahrungen zu thematisieren.

„Geschichte ist kein Gefängnis, Geschichte muss Schule sein“, hatte Außenminister Nikos Kotzias bei der Eröffnung der Ausstellung in Thessaloniki im Dezember 2016 gesagt – und er verwies damit auf die befreienden Zukunftsperspektiven, die eine solche reflektierte und vor allem kooperative Erinnerungsarbeit eröffnen kann. Ich möchte alle drei genannten Beispiele als Bausteine verstehen auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur, derer wir heute und in den kommenden Jahren mehr denn je bedürfen.

Es geht darum, Räume für Debatten und Auseinandersetzungen offenzuhalten und zugleich Verbindungen zu stiften statt Opferkonkurrenzen zu betonen – in einzelnen Gesellschaften, aber vor allem auch transnational. Die besondere Chance der Kunst ist dabei, Vielschichtigkeit zu zeigen, leise Töne zu erlauben und Ambiguitäten auszuhalten, ohne die eine gemeinsame Erinnerung nicht entstehen kann. Hierzu hat das Goethe-Institut auf seine Weise einen Beitrag geleistet und wird auch in Zukunft Beiträge leisten. Und in diesem Sinne wünsche ich dem Goethe-Institut in Athen und Griechenland noch viele weitere produktive Jahre!
 

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