Von Wurzeln und Flügeln: Ein Interview über das Dazwischen

Exil bedeutet nicht, in einem neuen Land zu sein oder Formulare auszufüllen. Es geht um das Gefühl, seine Wurzeln verloren zu haben. Als würde man überall nach vertrauten Geräuschen, Gerüchen und Bildern suchen – nach einem Zuhause, das sich nicht mehr wie Heimat anfühlt. „Once We Were Trees, Now We Are Birds" erzählt von Künstler*innen, die mit dem Thema Heimat, Verlust und Neuanfang ringen. Vom 21. Februar bis 8. Juni 2025 werden in einer gemeinsamen Ausstellung 47 dieser Arbeiten gezeigt. Das performative Gegenstück zur Ausstellung bildet das Festival, das vom 6. bis 8. Juni 2025 stattfindet. Anna Karpenko, eine der Mitkuratorinnen der Ausstellung und des Festivals neben Emrah Gökdemir, Muhammad Salah, Thibaut de Ruyter, Ludmila Pogodina und Kholoud Bidak, begleitet diese Reise und hilft dabei, sie sichtbar zu machen.
Was hat den Titel „Einst waren wir Bäume, jetzt sind wir Vögel“ inspiriert? Wie spiegelt er die Themen der Ausstellung und des Festivals wider?
Anna Karpenko: Die Idee des Titels „Einst waren wir Bäume, jetzt sind wir Vögel“ hatte einer unserer Ko-Kuratoren, Emrah Gökdemir. Wir haben nach einem Titel gesucht, der etwas Ursprüngliches ausdrückt – aber ohne das Wort „Exil“, weil wir es alle nicht mögen. Emrah kommt aus Antakya, einer Region im Süden der Türkei. Er hat uns eine Weisheit aus seiner Heimat erzählt, die von einer Taube handelt, die singt: „einst waren wir Bäume, jetzt sind wir Vögel.“ Wir alle kennen dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Entwurzelung, aber vor allem dieses existenzielle Dazwischen-Sein. Man ist noch nicht ganz angekommen, aber auch nicht mehr da, wo man mal war. So eine Art Schwebezustand, in dem man sich erstmal neu orientieren muss.
Wie ergänzt das Festival die Ausstellung? Welche Erfahrungen sollen die Besucher*innen daraus mitnehmen?
Die Ausstellung ist der erste Teil des Projekts, und danach geht es mit dem Festival weiter, das von Emrah Gökdemir, Ludmila Pogodina and Kholoud Bidak kuratiert wird. Dabei liegt der Fokus nicht nur auf Bildender Kunst. Das Festival bringt auch Schriftsteller*innen, Dichter*innen und Filmemacher*innen zusammen. Die Ausstellung selbst folgt einem bestimmten architektonischen und kuratorischen Konzept. Wir hatten das Glück, mit dem Kurator und Architekten Thibaut de Ruyter zusammenzuarbeiten. Er hatte von Anfang an die Idee, mit Postern zu arbeiten. Poster als Medium haben eine lange Geschichte – sie waren immer wieder ein wichtiges Mittel in Protesten und Demonstrationen. Wir wollen, dass sie nicht nur an den Galeriewänden bleiben, sondern das Besucher*innen sie mitnehmen können. So wird die Kunst nicht nur gezeigt, sondern geht in den Alltag der Menschen über. Und genau darum geht’s ja auch: Wie Kunst mit den aktuellen sozialen und politischen Entwicklungen verbunden ist. Das Festival setzt diese Idee fort. Es ist nicht einfach nur ein Event, sondern eine Weiterführung der Ausstellung. Wir haben uns das Festival als einen Ort vorgestellt, an dem wir zusammenkommen können – um unsere Lieder, unsere Geschichten und einfach unsere Präsenz zu teilen. Ich denke, es wird heute sehr geschätzt, wenn man nicht nur auf Instagram scrollt, Nachrichten liest und diskutiert, sondern echte Menschen an einem echten Ort treffen kann – dort, wo die Bäume grün sind und die Luft von sommerlicher Wärme erfüllt ist. Es ist ein ganz anderes Erlebnis, die physische Präsenz eines anderen Menschen zu spüren.
Das Festival bietet Performances, Lesungen, Filme und DJ-Sets. Gibt es besondere Events oder Künstler*innen, die Sie besonders beeindrucken?
Das Programm ist wirklich intensiv, und es gibt viele andere Kurator*innen, die am Festival beteiligt sind. Ludmila Pogodina ist für den musikalischen Teil zuständig. Zeyo aus dem Sudan ist ein faszinierender Musiker – geboren im Sudan, aufgewachsen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und jetzt in Deutschland lebend, setzt er sich mit Hip Hop als einem Mittel der Heilung auseinander. Wenn man sich allein die Biografien dieser Künstler*innen anschaut, sieht man schon, welche Themen wir hier ansprechen: Exil, Migration und Übergang. Ein weiteres Highlight ist Zinhle Pure Mkhize. Sie ist eine sehr spannende und Musikerin, die Musik und Performance auf eine ganz besondere Weise miteinander verbindet. Der literarische Teil wird von Kholoud Bidak kuratiert, die einige unglaublich interessante Schriftsteller*innen und Lyriker*innen eingeladen hat. Eine davon ist Ma Thida, eine international bekannte Autorin. Sie war früher die Leiterin von PEN Myanmar und lebt jetzt im Exil in Deutschland als Mitglied von PEN Deutschland. Ein weiterer bedeutender Poet ist Ali Abdollahi aus dem Iran. Unser Film- und Performance-Programm wird von Emrah Gökdemir kuratiert, der selbst auch Performer und Filmemacher ist. Ein persönliches Highlight von mir ist ein sehr bewegender Film des iranischen Filmemachers Vahid Zare Zade. Der Film ist den Menschen gewidmet, die im Iran-Irak-Krieg gekämpft haben und jetzt in einer psychiatrischen Klinik sind. Es ist eine unglaublich emotionale Erzählung darüber, wie der Krieg tiefe Wunden hinterlässt – und zwar nicht nur körperlich, sondern auf einer sehr persönlichen und existenziellen Ebene. Der letzte Teil – wenn auch nicht in chronologischer Reihenfolge – ist das diskursive Programm. Dort hat das Publikum die Gelegenheit, die Leitung der Martin Roth-Initiative, Goethe-Institut im Exil sowie Vertreter*innen der Partnerinstitutionen und ehemalige Stipendiat*innen der MRI kennenzulernen. Sie werden Einblicke – und hoffentlich auch Hoffnungen – darüber teilen, wie künstlerische Unterstützung in diesen turbulenten Zeiten weitergeführt werden kann.
Viele der teilnehmenden Künstler*innen haben Exil oder Vertreibung erlebt. Wie schafft das Festival einen Raum für den Dialog über diese Erfahrungen?
Viele reden über Exil und Vertreibung, aber wenige verstehen wirklich, was das eigentlich bedeutet. Bei Festivals wie diesem, bei dem Menschen über ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Vertreibung sprechen, hört man eine andere Perspektive. Manche mussten ihre Heimat für immer verlassen, tragen aber immer noch ein Stück davon in sich, weil das manchmal das Einzige war, was sie mitnehmen konnten. Man kann seine Erfahrung teilen, aber es gleicht einer Trauer. Das Festival ist eine Chance, echte Menschen zu treffen und nicht nur über ihre Erfahrungen zu lesen - sondern sie wirklich zu fühlen, sie wirklich zu erleben. Wir, die wir nicht mehr in unseren Herkunftsländern leben, die aus vielen Gründen gezwungen wurden zu gehen – sei es wegen Krieg, Vertreibung, Invasion, Genozid oder anderen schrecklichen Dingen, die jetzt passieren – tragen diese Geschichten mit uns.
Sie haben in Belarus, Deutschland, Polen, Frankreich, Luxemburg und darüber hinaus gearbeitet. Wie hat sich Ihre eigene kuratorische Praxis durch Begegnungen mit Künstler*innen im Exil entwickelt?
Ich arbeite seit 2015 mit verschiedenen Institutionen in Deutschland zusammen, habe aber auch eine längere Zeit in Polen gelebt und an einem Forschungsprojekt zur Avantgarde mit dem großartigen Team des Muzeum Sztuki in Łódź zusammengearbeitet. Die osteuropäische Perspektive ist für mich wichtig. Seit Jahrzehnten diskutieren wir Themen wie „nicht westlich genug“ oder den „ehemaligen Westen“ im Kontext osteuropäischer Kunst. Doch innerhalb dieses Diskurses gibt es nach wie vor Unklarheiten – insbesondere darüber, was genau als Osteuropa definiert wird. Für meine kuratorische Praxis war es immer wichtig, mit der Geschichte und den diskursiven und historischen Aspekten der Kultur in Verbindung zu stehen. Mein Heimatland zum Beispiel wurde immer als „schwarzes Loch“ betrachtet, aber nach 2022 wurde es noch isolierter und stärker ausgeschlossen, da es nicht „europäisch“ genug ist, selbst im Kontext osteuropäischer Praktiken. Gleichzeitig war es für mich immer entscheidend, mich nicht im kulturellen Kontext meiner Herkunft zu verfangen. In den letzten 5 Jahren habe ich viel zum Thema „Ost“ gearbeitet, bezogen auf die Mittelmeerregion und die frühen Christentum-Zeiten. In Beirut oder im Pathos fühle ich mich genauso glücklich wie zu Hause in Minsk.
Wie hoffen Sie, dass „Once We Were Birds, Now We Are Trees“ zur Diskussion über Migration, politische Repression und Resilienz beitragen wird?
Ich liebe den Text „Reflections on Exile“ von Edward Said, in dem er unter anderem sagt, dass wir, wenn wir in unserem Heimatland leben, oft alles als selbstverständlich ansehen – auch unsere Muttersprache. Wir denken nie wirklich darüber nach, es ist einfach da und fühlt sich ganz natürlich an. Aber wenn man es verliert, wird es plötzlich zu einer sehr schmerzhaften Erfahrung. Dann beginnt man, über die eigenen Gefühle, Ängste und die Suche nach einer neuen Identität nachzudenken. Dieser Prozess kann auch dazu führen, dass man sich selbst stigmatisiert. Wie Said auch sagt: Exil kann sich in gewisser Weise wie ein „schützendes Dogma“ anfühlen.
Ich glaube, wir wissen alle, dass man als Migrant*in der ersten Generation nie wirklich ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft im Land wird, in das man gezogen ist. Aber wenn man sich die Romantik und die Philosophie von Novalis ansieht – wo Heimweh und der Wunsch, überall zu Hause zu sein, eine große Rolle spielen – dann denke ich, dass das Leben fernab der eigenen Wurzeln erträglicher sein könnte.
Ich hatte mal ein wirklich tolles Gespräch mit einer Teilnehmerin der Ausstellung, die sagte: „Ich habe mein künstlerisches Projekt hier in Deutschland begonnen, weil ich wissen wollte, wo das Exil in meinem Körper beginnt.“ Es ist so ein komplexes Gefühl – man versucht zu verstehen, was mit einem selbst passiert, was mit dem eigenen Geist, der eigenen Seele, den Muskeln im Körper passiert. Warum man plötzlich Dinge nicht mehr mag, die einem früher Freude gemacht haben, warum einen nichts mehr beruhigt oder die Seele nährt. Unser Leben ist auf eine Art und Weise beschädigt, und man kann das nicht einfach schnell und leicht reparieren. Selbst wenn man genug Geld verdient (was in Deutschland übrigens nie passiert ist) und sich sicher fühlt, hat das Leben durch das Exil oder die Vertreibung bereits eine Wendung genommen. Es ist keine einfache Geschichte. Es ist kein Märchen, das man einfach so in einem Gespräch unter Künstler*innen oder in einer Podiumsdiskussion erzählt. Es ist etwas, mit dem Menschen jeden Tag leben. Ein Trauma, das man nicht einfach ignorieren kann. Deshalb ist es so wichtig, sensibel für die Traumata anderer Menschen zu bleiben und die Zerbrechlichkeit der Erfahrungen zu erkennen, die wir alle durchmachen.
Anna Karpenko wurde in Minsk (Belarus) geboren und lebt derzeit in Berlin und Leipzig (Deutschland). Sie ist Kuratorin und Autorin. Karpenko studierte Philosophie an der Belarussischen Staatlichen Universität (Minsk), Visuelle Studien an der Europäischen Universität der Geisteswissenschaften (Vilnius) und Kuratorische Studien an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (Leipzig). Sie hat einen Masterabschluss in Soziologie und einen Masterabschluss in Kuratorischen Studien. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Internationalen Vereinigung der Kunstkritiker (AICA). Als Kuratorin hat sie Ausstellungen und Forschungsprojekte mit Institutionen wie dem Badischen Kunstverein (Karlsruhe), dem Museum für Gegenwartskunst, der GfZK (Leipzig), Halle 14 (Leipzig), dem Museum Sztuki (Łódź), der Arsenal Galerie (Białystok), der Labirynth Galerie (Lublin), dem Future Laboratory (Luxemburg), der ifa Galerie (Berlin) und anderen organisiert. Als Autorin wurden ihre Texte in Fachzeitschriften wie Springerin, BLOCK, Dwutygodnik, RTV, Magazyn SZUM, Kulturaustausch und Berlin Art Link veröffentlicht.