Demokratie
Die bulgarische Gegenöffentlichkeit

Vladimir Shopov
Vladimir Shopov | Foto: © Persönlicher Besitz

Eine geschlossene Gesellschaft führt zu gravierenden politischen Problemen und verhindert das normale Funktionieren der Demokratie. Nur eine starke Zivilgesellschaft kann den Zerfall der bulgarischen Demokratie verhindern.

Freie Öffentlichkeit ist seit jeher eine notwendige Voraussetzung für Demokratie. Jenseits des Ideals der direkten Demokratie ist sie jedoch stets mittelbar und passiert verschiedene Institutionen und Räume. Die Praxis der offenen, freien Öffentlichkeit erfordert Medien, Schutzstandards sowie rechtliche und kulturelle Sicherheiten. Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas schrieb ihr sogar die Pflicht des Diskurses zu, des ständigen Dialogs der unzähligen Akteure, die in ihr spielen und das Geschehen mit ihren Beschreibungen und ihrer Sprache erfassen. Die Schaffung eines solchen öffentlichen Umfelds zählte zu den ersten Aufgaben und relativen Erfolgen der Umwälzungen, die nach dem Fall der Berliner Mauer Ende 1989 begonnen haben. Die losgelassene Energie des freien Wortes fand vielleicht nicht immer die für sie am besten geeigneten institutionellen Kanäle, doch die Einrichtung einer relativ freien und bunten Medienwelt gehörte zu den sichtbarsten Errungenschaften des extrem schweren Übergangs vom Kommunismus zur Demokratie.

Innerhalb dieses Prozesses kletterte Bulgarien auf den verschiedenen Ranglisten der Medienfreiheit nach oben, und die Vielfalt der Print- und elektronischen Medien kam zumindest teilweise den Anforderungen der modernen Öffentlichkeit nahe. Die Vielfalt kam schon einem Pluralismus nahe, obwohl die ganze Zeit über der Verdacht einer verborgenen Konzentration der Kapitalquellen für die neuen Medien bestand.  Auch die Internet-Öffentlichkeit entwickelte sich immer schneller, ergänzte die Print- und elektronischen Medien und fing an, Druck auf sie auszuüben. Unterstützt wurde dieser Prozess durch den Druck und der fachlichen Bewertung von EU, Europarat und anderen Organisationen Große Nichtregierungs-Spendenorganisationen leisteten einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in diesem Bereich, zur Journalistenausbildung, zum investigativen Journalismus usw. Ebenso brachten die Vorbereitungen zum EU-Beitritt und die Beachtung politischer Kriterien gewisse Positiva. Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Bulgarien es schaffen würde, eine trotz ihrer zahlreichen Mängel recht gute Medienlandschaft zu pflegen.

Allmählich schwanden aber die ursprünglichen Erfolge dahin. Das Eigentum konzentrierte sich immer mehr in den Händen von Wenigen,  die Tendenz zum Sensationsjournalismus und manipulativer Berichterstattung verstärkte sich und viele Publikationen glichen einem „Stoßtrupp“ gegen politische und wirtschaftliche Interessen der Konkurrenz.  Ganz deutlich wurde, dass sich immer mehr ausländisches Kapital zurückzog und viele Medien in die Fänge lokaler Business-Imperien gerieten. Mit dem Beitritt des Landes zur EU ließ auch der Duck von außen nach, und das Fehlen einer breitangelegten europäischen Gesetzgebung auf diesem Gebiet schränkt bis heute die Außeninstrumente für eine Intervention ein.  Nach und nach erlaubten sich die Regierungen immer mehr, und die Vergabe öffentlicher Mittel wurde zu einem Mechanismus der Einflussnahme auf die Redaktionspolitik. Viele Medien mutierten  nicht nur zu Boulevardblättern, sondern begannen regelrecht, „Informationen“ zu basteln und zu erfinden. Die Auflagen brachen ein, und damit auch alle halbwegs normalen Geschäftsmodelle des Medienmanagements, die möglich gewesen wären. Bulgarien fiel in den internationalen Ranglisten der Medienfreiheit und-qualität steil nach unten. 2013 fand sich das Land auf dem 87. Platz der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen wieder. Nur sieben Jahre zuvor hatte es noch den 35. Platz belegt!

Die Netzöffentlichkeit kann die gesamtgesellschaftlichen Mängel nicht ausgleichen

Die Entstehung und Entfaltung der neuen Öffentlichkeit im Internet stimmte zeitlich mit diesem Zerfall der Medienlandschaft überein und glich ihn teilweise aus. Zahlreiche Blogs tauchten auf, was die Landschaft nicht nur auffrischte, sondern auch vielen unabhängigen Blickpunkten auf die Geschehnisse im Lande Öffentlichkeit verlieh. Blickpunkten, die in den Mainstream-Medien immer mehr fehlten und die im Zuge des Vormarsches des Hochgeschwindigkeits-Internets unverhältnismäßig viel Präsenz und Einfluss erlangten. Außerdem erschienen die ersten wirklich guten Online-Medien, meist mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland. Websites, auf denen man seine Kommentare abgeben kann, erlebten ebenfalls einen Aufschwung, und ein Großteil der Nutzer „migrierte“ einfach auf der Suche nach unabhängigeren und tauglichen Ansichten zu den Ereignissen. Ungeachtet der wachsenden thematischen Vielfalt der Blogs kann diese Form der Gegenöffentlichkeit die generellen Mängel der offiziellen Medien kaum wettmachen und was ihre Reichweite und Marktdurchdringung betrifft, so bleibt sie eher bescheiden.
Geschlossene Öffentlichkeit führt zu schwerwiegenden politischen Problemen und behindert das normale Funktionieren der Demokratie. Sie schneidet neuen Parteien den Zugang zur Öffentlichkeit ab, nimmt ihnen die Möglichkeit, ihre Ideen, Positionen und Thesen zu präsentieren. Im Prinzip besteht in Bulgarien ein de facto-Vetorecht der wenigen Medieneigentümer in Bezug auf das öffentliche Auftreten solcher Subjekte, was wiederum eine der wichtigsten Aufgaben funktionierender Demokratien blockiert - die der Repräsentanz. Infolge der globalen Krise entstanden in den vergangenen Jahren in Europa viele neue Parteien und sind Teil der Politik geworden. Ein relativ leichter Zugang zur Öffentlichkeit ist eine Grundvoraussetzung für diese Neugründungen. So erreichte beispielsweise in Spanien bei der letzten Europawahl die neue Protestpartei „Podemos“ 8 % der Wählerstimmen, obwohl sie erst einige Monate zuvor offiziell registriert worden war. Eine unzulängliche Öffentlichkeit lässt praktisch wichtige Diskussionen in Führungs- und Politikbereichen kaum noch zu, worunter das gesamte Gesellschaftssystem und die Administration immer mehr leiden.

Die Weiterentwicklung der Gegenöffentlichkeit gehört zu den wichtigsten Aufgaben der bulgarischen Demokratie. Geschieht das nicht, werden die Grundvoraussetzungen für ihr Funktionieren weiter zerfallen, und selbst der heutige Schein von Demokratie wird zusammenbrechen. Zivilgesellschaftliche Aktivität ist eine der wenigen Garantien dafür, dass eine solche Entwicklung vermieden werden kann.