Hartmut Rosa im Gespräch
"Hier kann ich ganz sein, wie ich bin"

Hartmut Rosa
Hartmut Rosa | Foto: © Universität Jena

Warum wir am glücklichsten sind, wenn wir mit anderen mitschwingen können.

Ein Gespräch mit Hartmut Rosa von Ulrich Schnabel
© mit freundlicher Genehmigung von DIE ZEIT     

DIE ZEIT: Herr Rosa, die Psychologie erklärt uns, dass unser Ich-Gefühl zu weiten Teilen nur eine Art Konstrukt ist. Trotzdem haben wir intuitiv immer wieder den Eindruck, in bestimmten Situationen authentischer zu sein als in anderen. Was zeichnet diese Situationen aus?
Hartmut Rosa: In solchen Momenten spürt man: Hier kann ich ganz sein, wie ich bin; man fühlt sich in seinem innersten Wesen angesprochen. Dieses Gefühl hängt damit zusammen, dass sich zwischen uns und den jeweiligen Menschen oder Dingen so etwas wie eine Verbindung herstellt. Was uns als Spezies auszeichnet, ist ja unser sozialer Sinn und unsere Fähigkeit, Kontakt aufzunehmen, uns in die Gedankenwelt anderer hineinzuversetzen. Und am beglückendsten ist es, wenn wir das Gefühl haben: Da antwortet mir etwas, wir schwingen sozusagen auf derselben Wellenlänge. Dieses Weltverhältnis beschreibe ich mit dem Begriff der Resonanz.

ZEIT: Meinen Sie damit, dass man eine Art Widerhall spürt?
Rosa: Ja, aber nicht im Sinne eines Echos, sondern einer Antwort. Das ist wie bei einer Stimmgabel: Wenn sie mit dem rechten Ton angeregt wird, beginnt sie automatisch mitzuschwingen. Das Gefühl, lebendig und authentisch zu sein, ist für uns Menschen stark mit dieser Erfahrung verknüpft.

ZEIT: Kommt diese Resonanz von außen oder von innen?
Rosa: Beides ist möglich. Es kann von außen kommen, zum Beispiel durch Menschen, die etwas Besonderes ausstrahlen, die Resonanz vermitteln und andere sozusagen anstecken. Diese Menschen erleben wir dann in der Regel als besonders "authentisch". Das Resonanzmoment kann aber auch von innen kommen, wenn mich eine Emotion bewegt, ich gewissermaßen einen Draht zur Welt spüre und das Gefühl habe: Ich kann da draußen was erreichen! Resonanz meint also einen Zustand, in dem ich mich berührt oder bewegt fühle, aber zugleich auch die Erfahrung mache, selbst etwas oder jemanden berühren oder bewegen zu können. Interessanterweise fühlt man sich gerade dann am ehesten im Einklang mit sich selbst.

ZEIT: Und wenn nichts schwingt?
Rosa: Dann sind das Situationen, die einen kaltlassen, die einem nichts sagen, bei denen man sich fehl am Platze fühlt. Selbst wenn man etwa einen spannenden Film im Kino sieht, kann man doch das schale Gefühl haben: Eigentlich spielt es keine Rolle, ob ich da bin oder nicht. Es fehlt das Selbstwirksamkeitsgefühl, das wichtig ist für die Erfahrung der Resonanz.


„Das feine Gefühl des authentischen Lebens lässt sich gerade nicht instrumentalisieren, wie so vieles andere in der Welt. Zum Glück“
Hartmut Rosa



ZEIT: Gilt das in allen Lebensbereichen?
Rosa: Ja, Resonanz hat viel damit zu tun, ob sich Menschen als selbstwirksam erleben. Beispiel Politik. Immer mehr Menschen haben das Gefühl: Es ist egal, wen ich wähle, das macht ohnehin keinen Unterschied. Denn auch Demokratie bedeutet Resonanzversprechen. Sie beruht darauf, dass eine Wechselwirkung zwischen Bürger und Politiker stattfindet, dass uns die öffentlichen Institutionen gleichsam antworten: Wir erreichen sie und sie uns. Aber diese Erwartung geht zunehmend verloren. Deshalb kommt es so häufig zu Protesten von Bürgern gegen politische Entscheidungen.

ZEIT: Und wie geht es Ihnen persönlich? Fühlen Sie sich eher in Resonanz oder nicht?
Rosa: (lacht) Natürlich kenne auch ich das Gefühl der Entfremdung. Wenn ich etwa Forschungsanträge schreibe, denke ich oft: Das bin eigentlich gar nicht ich, da schwingt nichts.

ZEIT: Und wo findet man Resonanzräume?
Rosa: Die einen finden sie in der Kunst, beim Malen, Dichten oder Musizieren. Singen zum Beispiel ist ja Resonanz per se, da spürt man die Schwingung ganz körperlich. Andere zieht es in die Natur. Sie gehen in den Wald, in die Berge oder ans Meer und fühlen sich dort auf besondere Weise berührt. Und dann gibt es natürlich noch die Religion. Die Bibel ist ja ein einziges Dokument des Schreiens, Betens und Harrens auf Antwort. Alle religiösen Traditionen kennen verschiedene Resonanzpraktiken. Deshalb ist die Religion auch nicht totzukriegen.

ZEIT: Muss man für diese Art von Resonanz besonders begabt sein? Gilt für andere sinngemäß der Ausspruch von Max Weber, der sich für "religiös unmusikalisch" hielt?
Rosa: Ich glaube, wir alle haben schon einmal Resonanzerfahrungen gemacht. Kinder können ohne Resonanz nicht aufwachsen. Aber nicht jeder ist dazu gleichermaßen begabt und begünstigt. Vermutlich bedarf es dazu einer gewissen Einübung, aber eben auch entgegenkommender Lebensbedingungen. Je zuverlässiger man solche Erfahrungen als Kind gemacht hat, umso leichter fallen sie einem wohl auch als Erwachsener.

ZEIT: Was steht der Resonanz entgegen?
Rosa: Ich glaube, es gibt heute zunehmend soziale Dämpfungen, die Resonanz verhindern. Dazu zählen für mich etwa Zeitdruck oder auch die ständige Ablenkung… (im Hintergrund hört man gerade ein elektronisches Dauerpiepsen)

ZEIT: So wie durch Ihren Computer, der da bimmelt?
Rosa: Ja fürchterlich, das zerschießt jede Resonanz. Um sich auf etwas einzulassen, braucht man Zeit und eine gewisse Ungestörtheit. Auch Wettbewerb ist ein Resonanzfeind: Ich kann mit Menschen entweder resonieren oder konkurrieren.

ZEIT: Verhindert unser ökonomisches System also die Erfahrung von Resonanz?
Rosa: So pauschal würde ich das nicht sagen, aber ich glaube schon, dass unser derzeitiges Denken und Handeln zu sehr auf die Herstellung der Bedingungen für Resonanz abzielt. Wir denken, wenn ich genug Geld, Zeit, Freunde und so weiter habe, dann stellt sich auch ein resonantes – oder eben: authentisches – Weltverhältnis ein. Darüber geht aber häufig die Fähigkeit und Bereitschaft verloren, sich konkret auf diese Erfahrungen einzulassen, also gewissermaßen in den Resonanzmodus einzutreten.

ZEIT: Brauchen wir vielleicht so etwas wie Resonanzberater?
Rosa: Um Himmels willen, nein. Ich will jedenfalls kein Resonanzberater sein. Erstens ist Resonanz etwas sehr Individuelles. Wenn Sie keine Musik mögen und ich Sie zum Konzert oder zum Kirchenbesuch zwinge, erleben Sie höchstwahrscheinlich nur Entfremdung. Zum Zweiten haben Resonanzerfahrungen stets etwas Unverfügbares. Nehmen wir an, es gibt ein Musikstück, das Sie besonders berührt. Wenn Sie das nun hundertmal am Tag hören, verschwindet der Resonanzeffekt bald vollständig. Das feine Gefühl des authentischen Lebens lässt sich eben gerade nicht instrumentalisieren, wie so vieles andere in unserer Warenwelt. Zum Glück.

Hartmut Rosa ist Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt und lehrt Soziologie an der Universität Jena. Er wurde bekannt mit seiner Theorie der modernen Beschleunigung. Derzeit arbeitet er an einem Buch über das Phänomen der Resonanz.