Die Biennale in Venedig
Ist Kunst jenseits der Politik möglich?

Franz Erhard Walther, Various works, 1975-1986, Photo: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia
Franz Erhard Walther, Various works, 1975-1986, Photo: Andrea Avezzù. Courtesy: La Biennale di Venezia

Die Biennale stellt ein eigenartiges Schaufenster der gegenwärtigen Nachfrage, der Trends und Errungenschaften in der zeitgenössischen Kunst auf der ganzen Welt dar. Gerade deshalb sind der Blick des Chefkurators und die individuellen Stimmen als Orientierung für das Geschehen in der Welt der Kunst sowohl im Hinblick auf Ideen als auch in geografischem Sinne ausgesprochen wichtig.
 

Alle zwei Jahre verwandelt sich Venedig in einen Treffpunkt zeitgenössischer Kunst aus der ganzen Welt. Mit seiner einmaligen Formel stellt es parallel eine große kuratorische Ausstellung und eine Vielzahl von nationalen Präsentationen aus. Die Biennale von Venedig ist weltweit einzigartig. In diesem Sinne stellt sie ein eigenartiges Schaufenster der gegenwärtigen Nachfrage, der Trends und Errungenschaften in der zeitgenössischen Kunst auf der ganzen Welt dar. Gerade deshalb sind der Blick des Chefkurators und die individuellen Stimmen als Orientierung für das Geschehen in der Welt der Kunst sowohl im Hinblick auf Ideen als auch in geografischem Sinne ausgesprochen wichtig.

In Zahlen ausgedrückt, stellt die Biennale in diesem Jahr 120 Künstler aus 51 Ländern vor (wobei 103 davon zum ersten Mal teilnehmen), 85 nationale Teilnehmer, 23 begleitende Events und Sonderprojekte, einschließlich einem Pavillon, der den angewandten Künsten gewidmet ist, in Zusammenarbeit mit dem Victoria and Albert Museum, London.

Das Überraschende diesmal ist, dass im Brennpunkt der Hauptausstellung der Kuratorin Christine Macel (Direktorin des Centre Pompidou, Paris) nicht politische und soziale Ereignisse, die Weltkrise oder die Probleme mit den Flüchtlingen stehen. Oder zumindest nicht direkt und demonstrativ, zu Gunsten von eher „künstlerischen“ Problemen im Zusammenhang mit der Ästhetik, der Vision, aber vor allem mit der Idee zur Darstellung einiger etwas „marginaleren“ aber auch „bodenständigeren“ Stimmen und Angelegenheiten. Der sprechende Titel Viva Arte Viva scheint uns leichter Hand zur Auffassung „Kunst der Kunst selbst wegen“ zurückzubringen, schließlich sind wir es leid, uns ständig mit dem auseinanderzusetzen, was in der Realität um uns herum passiert, was uns ständig aus den Ausstellungsräumen überflutet? Obwohl einige kritische Stimmen in Bezug auf die als Problematik „bequeme“ und ihrem Inhalt nach durchschnittliche Ausstellung von Macel zu hören sind, kann man doch sagen, dass die „menschliche“, die humanistische Sichtweise, die von ihr vorgestellt wird, Aufmerksamkeit verdient. Im Endeffekt, meint sie, ist Kunst nicht nur Politik, sie hat auch andere Dimensionen.

Heute – schreibt Christine Macel – mit einer Welt vor Augen, die voller Konflikte und Schocks ist, zeugt die Kunst von dem wertvollsten Teil dessen, was uns Menschen ausmacht, in  einer Zeit, da gerade die Menschlichkeit gefährdet ist. Die Kunst ist der letzte Raum zum Nachdenken, für eine individuelle Ausdrucksweise, für die Freiheit und für fundamentale Fragen. Die Kunst ist das Lieblingskönigreich der Träume und Utopien, Katalysator menschlicher Beziehungen, sie verbindet uns gleichzeitig mit der Natur und dem Weltall, erhebt uns zur geistigen Dimension. Daher ist die Kunst die letzte Bastion, der Garten, der über und außerhalb der Tendenzen und persönlichen Interessen kultiviert wird. Sie bietet eine eindeutige Alternative zum Individualismus und zur Gleichgültigkeit. Sie entwickelt uns weiter und belehrt uns. In Zeiten globaler Unordnung umarmt die Kunst das Leben, auch wenn sie unvermeidliche Zweifel hat.

Der Maler steht hier im Mittelpunkt. Das ist eine Ausstellung, gemacht mit Künstlern, von Künstlern und für Künstler, für die Formen, die sie bieten, für die Fragen, die sie stellen, für die Praktiken, die sie entwickeln und für die Lebensweisen, die sie wählen. Weil die Stimme des Malers, seine Intuition und seine Verantwortung gegenüber der Welt wichtiger ist denn je.

Die zentrale Ausstellung Viva Arte Viva bietet kein zusammenfassendes Thema an, sondern ist konstruktiv nach dem Grundsatz separierter thematischer Räume (Pavillons) aufgebaut. Zwei davon (die einführenden) befinden sich im zentralen Pavillon in den Giardini, weitere sieben – im Arsenale im so genannten Giardino delle Vergini. Jeder dieser Pavillons – oder Trans-Pavillons (weil sie transnational sind) – trägt einen eigenen Titel und ist eher als Kapitel eines Buches zu betrachten, das einer gemeinsamen Erzählung folgt und das eine Reihenfolge und innere Zusammenhänge aufweist. Das sind die Pavillons der Maler und der Bücher; der Freuden und der Ängste; des Gemeinschaftsraums; der Erde; der Traditionen; der Schamanen; schließlich gibt es den Dionysius Pavillon; den der Farben und den Pavillon der Zeit und Unendlichkeit. Hier sind die Werke von Künstlern verschiedener Generationen und Nationalitäten ausgestellt mit dem Ziel, weniger bekannte Autoren vorzustellen – junge Maler, solche, die zu früh verstorben sind, sowie auch einige, die immer noch weitgehend unbekannt sind. In diesem Sinne bietet uns die Ausstellung die Möglichkeit, Entdeckungen zu machen und Vergleiche zu ziehen und in Themen einzutauchen, die immer existent waren, doch seit langem nicht mehr auf der Tagesordnung standen.

Olafur Eliasson, Green Light – An Artistic Workshop, 2017. Foto: Svetla Petkova. Olafur Eliasson, Green Light – An Artistic Workshop, 2017. Foto: Svetla Petkova. Einer der bemerkenswertesten Teilnehmer hier ist Ólafur Elíasson mit seinem sozial engagierten Projekt „Green light. An artistic workshop“. In seiner prozessualen Arbeit gibt er den Flüchtlingen und Zuflucht Suchenden im metaphorischen Sinne „grünes Licht“. 90 von ihnen, vor kurzem aus Nigeria, Gambia, dem Irak, Syrien, Somalia, Afghanistan und China in Italien angekommen, wurden eingeladen, zusammen mit Menschen aus dem Publikum und Studenten-Freiwilligen zu arbeiten und gemeinsam Lampen mit grünem Licht aus Modulen nach Eliassons Design zu schaffen. Die fertigen Lampen stehen zum Verkauf, und die gesammelten Mittel werden den Flüchtlingen selbst zur Verfügung gestellt. Die Werkstatt entwickelt sich vor dem Hintergrund einer Tapetenwand, auf der Bilder des Ex-Kultusministers und Bürgermeister von Tirana – Edi Rama, der vor seiner politischen Karriere Maler war – gedruckt sind. Die Zeichnungen wurden seinen Notizbüchern, die er während Ministerratssitzungen verwendet, entnommen.

Olafur Eliasson, Green Light – An Artistic Workshop, 2017. Foto: Svetla Petkova. Olafur Eliasson, Green Light – An Artistic Workshop, 2017. Foto: Svetla Petkova. In der Hauptausstellung können wir viele stoffliche Arbeiten bewundern – Gobelins, Bücher aus Stoff und Laken mit darauf gesticktem Text, Fäden und Kleidungsstücke, Seilinstallationen und einen riesigen Haufen Garn in verschiedenen Farben. Wir gehen weiter – vorbei an einer Installation aus Schuhen, die bepflanzt sind, einem Laptop-Deckel, der in ein modernes Werkzeug verwandelt wurde, Büchern mit gebackenem Einband, Skulpturen aus Salz, und werden sogar in die Rituale der Amazonas-Indianer einbezogen. Eine seltsame Kombination mit einer Ausstrahlung, die sich an der Grenze zwischen ethnografischem Museum, Voodoo-Tempel und technologischem Labor bewegt.

Der goldene Löwe für den besten Künstler der zentralen Ausstellung wurde dem deutschen Künstler Franz Erhard Walther verliehen. Er war mit Arbeiten aus Stoff vertreten, die mit Hilfe des Publikums bewegt werden können, Teile der Serien „Wallformation“ von1983-1986, und „Schreitsockel“ aus dem Jahr 1975. Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entdeckte der Künstler das Nähen als innovatives Ausdrucksmittel, das anders als das traditionelle artistische Medium ist, dem er zu entkommen sucht. In der Ausstellung sehen wir seine Werke in hell rot und orange an den Wänden, sie erinnern an Interieur-Objekte, sind Skulpturen und Malerei zugleich, dabei sind sie auch ein Performance-Accessoire. Der Zuschauer ist eingeladen, das Werk zu begehen, um es zu vollenden, verliert dabei allerdings den Überblick. Der Autor gibt keine Bedienungsanleitung, er überlässt alles der Einbildungskraft der Teilnehmer. Tatsächlich handelt es sich bei der Ausstellung von Walthers Werken um Muster, die man nicht anfassen darf. Die Arbeit wird periodisch während der Biennale aufgenommen und die Video-Performance kann auf der Webseite www.labiennale.org eingesehen werden.

Der Silberne Löwe in der zentralen Ausstellung wurde Hassan Khan, einem vielversprechenden jungen Künstler, der in London geboren wurde und derzeit in Ägypten lebt, in der zentralen Ausstellung hat Hassan Khan, der in London geboren wurde und derzeit in Ägypten lebt, verliehen. Seine Multikanal-Audioinstallation „Komposition für einen öffentlichen Park“, 2013-2017, ist auf dem offenen Gelände am Arsenale-Ausgang, Giardino delle Vergini genannt, aufgebaut. Von einer Vielzahl in drei Zonen angeordneten Lautsprechern sind musikalische Laute – gemischt mit gedämpften Stimmen – zu hören. Die drei Musikwellen können als Reflektion persönlicher Emotionen aufgefasst werden, gleichzeitig haben sie aber auch einen öffentlichen/politischen Klang.

Der goldene Löwe ging an die Amerikanerin Carolee Schneemann für ihr Gesamtwerk , sie ist eine der Pionierinnen im Bereich der Performance. In ihrer Arbeit befasst sie sich mit dem Feminismus und erweitert die Grenzen zwischen Tanz und den visuellen Künsten, indem sie die Möglichkeiten des menschlichen Körpers untersucht.

Großbritannien. Foto:  Francesco Galli. Courtesy: La Biennale di Venezia Großbritannien. Foto: Francesco Galli. Courtesy: La Biennale di Venezia
Die nationalen Pavillons zeigen wie immer eine Mehrstimmigkeit, die schwer, wenn nichtunmöglich zu erfassen ist. Es werden lediglich einzelne Stimmen und Gesten genannt, die sich vor dem Hintergrund des Ganzen durch eine klare und gut zum Ausdruck gebrachte Position hervorzuheben. Einige unter ihnen betreffen politische Fragen (Mark Bradford, USA), andere untersuchen rein künstlerische Probleme (Geta Bratesku, Rumänien; Phyllida Barlow, Großbritannien), dritte beschäftigen sich mit dem Gedächtnis und der Nostalgie (Vajiko Chachkhiani, Georgien), und einige bleiben im Bereich des Handlungsraums (Erwin Wurm, Österreich).

Einer der am meisten besuchten und kommentierten Pavillons in den Giardini, der deutsche, erhiert den Goldenen Löwen für die Performance von Anne Imhof und ihr Werk „Faust“ (Kuratorin Susanne Pfeffer). Hier ist alles so transformiert, dass es die Sinne der Besucher verwirrt, ihnen ein Gefühl der Unsicherheit, der Zerbrechlichkeit vermittelt. Ums Gebäude, hinter einem Metallzaun streichen zwei Dobermann-Hunde. Am Zaun ist zu lesen: „Dieser Raum wird von geschulten Wachhunden bewacht. Nicht nähern! Nicht eintreten!“ Der Eingang des Pavillons, in strengem neoklassischem Stil gebaut, ist gesperrt und unzugänglich. Man betritt den Pavillon von der Seite, um zu einer durchsichtigen Plattform zu gelangen, die über der Bodenoberfläche so eingezogen ist, dass unter ihr noch Platz ist. Der Gang durch die Säle gibt einem das Gefühl, dass man einbrechen kann, zu sehen sind verschiedene Gegenstände, die auf dem Boden,auf dem unteren Niveau verstreut liegen, sie strahlen eine Kühle aus, die nicht einmal ein Leichenschauhaus auszustrahlen vermag. Doch das Schlüsselelement hier ist die mehrere Stunden dauernde Performance. Junge Männer und Frauen, lässig in schwarz gekleidet, die unten – unter und auf dem Glasboden – verschiedene Handlungen (Rituale) inmitten des Publikums vollziehen, wobei sie in den persönlichen Raum der Zuschauer dringen, jedoch ohne dass ein direktes Zusammenwirken stattfindet. Einige der Performer kann man auf dem Dach des Pavillons beobachten, und auch auf dem Zaun. Es wird nicht ganz klar, was sie tun, doch sie wirken entfremdet. Manchmal sind ihre Stimmen zu hören, ihr Gesang, ihre Schreie, man kann sie in einem Gefecht oder beim Tanzen beobachten. Im Text von Susanne Pfeffer lesen wir:

Kapitalismus führt zur Macht des Geldes auf höchsten Niveau. Wie in Goethes Werk „Faust“ handeln wir mit etwas, das nicht existiert. Die Seele existiert nicht, die Produkte des Finanzsektors existieren nicht und doch, oder gerade deshalb, funktioniert das System. Allein durch das Schaffen einer Verbindung zwischen Körpern, nur durch die Okkupation des Raums kann sich der Widerstand halten. Auf den Balustraden und Zäunen, im Untergrund und auf dem Dach, erobern und besetzen die Performer den Raum, das Haus, den Pavillon, die Institution, den Staat. 

Einen Verweis auf „Faust“ gibt es jedoch nicht. Imhof wählt den Titel hauptsächlich wegen der Bedeutung des Wortes in der deutschen Sprache. Und das ist vielsagend.

Deutschland. Anne Imhof. Foto: Francesco Galli. Courtesy: La Biennale di Venezia Deutschland. Anne Imhof. Foto: Francesco Galli. Courtesy: La Biennale di Venezia
Wieder einmal hat Bulgarien an der Biennale nicht teilgenommen. Wir sind es müde, ständig feststellen zu müssen, dass ein wichtiges Anliegen der künstlerischen Szene nicht zu einer nationalen gemacht wird; wie alle übrigen Staaten der Balkanhalbinsel teilnehmen; dass in Venedig auch solche Länder wie Kiribati, Tuvalu und sogar Syrien und der Irak, die in tiefster Krise stecken, vertreten sind. In der neuesten Geschichte Bulgariens gibt es nur drei nationale Teilnahmen, wobei in allen drei Fällen das Auftreten unseren Landes in Venedig nicht Ergebnis des Engagements des Staates, sondern als private Initiative erfolgte – im Jahre 1999 mit dem (selbst)ironischen Werk von Nedko Solakov „Wichtige Mitteilung“ (Kuratorin Yara Bubnova), 2007 – mit dem Kurator-Projekt von Vesela Nozharova – „Ein Ort, an dem du nie gewesen bist“ und den Teilnehmern Pravdolyub Ivanov, Ivan Mudov und Stefan Nikolaev, und 2011 – mit der Kompromiss-Teilnahme von Pavel Koychev, Gredi Assa und Huben Cherkelov (Kurator George Lux). Nedko Solakov ist übrigens der einzige Bulgare, der mehrmals an diesem Prestige-Weltforum (1993, 1995, 2001 und 2007) teilgenommen hat. Besonders wichtig sind seine Teilnahmen an der zentralen Ausstellung mit „Leben (Schwarz und Weiß)“, 2001, auf Einladung von Harald Szeemann hin, und mit „Diskussion (Eigentum)“, 2007, kuriert von Robert Storr, für die er einen Sonderpreisbekam.


*** Die Publikation wurde vom Goethe-Institut Bulgarien im Rahmen der Partnerschaft mit der Webseite für Kunst und Kritik Artnewscafe Bulletin (www.artnewscafe.com/bulletin) gefördert.