Tim Rieniets im Gespräch
Umbaukultur - Die Kultur der Erhaltung

Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum
Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum © Brigida González

Am 3. und 4. Februar 2018 fanden im Dom na Kinoto in Sofia die „Tage des Architekturerbes“ statt. Der deutsche Architekt Tim Rieniets wurde als offizieller Gast eigeladen - er war Teil der Jury des Wettbewerbs für studentische Abschlussarbeiten im Bereich des Schutzes des Architekturerbes und hielt einen Vortrag über das Thema „Umbaukultur – The Culture of Conservation“.
 
Warum sollten wir das Erbe der Vergangenheit schützen und wie könnten wir es in das „Gebäude“ der Gegenwart integrieren? Welche Umbauprojekte motivieren den Architekten, im Bereich der Umbaukultur zu arbeiten? Und was hat ihn besonders stark in Sofia und während des Festivals beeindruckt?
 
Auf diese und weitere Fragen antwortet Tim Rieniets im Gespräch mit dem Goethe-Institut Bulgarien.


Herr Rieniets, als freiberuflicher Kurator, Publizist, Herausgeber und Dozent haben Sie im Laufe der Jahre sehr viel über die Bedeutung der Geschichte für die Gestaltung der Zukunft gesprochen und geschrieben. Welche sind für Sie die wichtigsten Lehren, die wir aus der Vergangenheit ziehen sollten?
 
Ich bin kein konservativer Mensch. Im Gegenteil: Mich fasziniert das Neue. Aber das Neue ist nur dann wirklich sinnstiftend, wenn es mit dem Alten korrespondiert.
 
Im vergangenen Jahrhundert war das nicht immer so. Viele Vertreter der Moderne haben die Vision gehabt, die Modernisierung der Gesellschaft vorantreiben zu können, indem sie Architektur und Städtebau radikal erneuerten. Denken Sie an Le Corbusier, der allen Ernstes vorgeschlagen hat, ein ganzes Stadtquartier in Paris abzureißen, um an dessen Stelle einen völlig modernen Entwurf, den „Plan Voisin“, zu realisieren. Le Corbusier konnte diesen Plan nicht umsetzen, aber sein bedingungsloser und bisweilen rücksichtsloser Glaube an das Neue zog sich durch das gesamte 20. Jahrhundert. Und dieser Glaube hat schließlich dazu geführt, dass sich in unserem architektonischen Wertekanon zwei extreme Positionen gefestigt haben: Da ist zum einen die neue Architektur, also die Architektur von Le Corbusier und allen anderen Modernen. Diese Architektur war dem Fortschritt verpflichtet und brachte dies durch ihre radikale Abkehr von allen historischen Bauformen zum Ausdruck – und manchmal auch durch dessen Zerstörung. Überall auf der Welt sind bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Unmengen an historischer Architektur im Namen der modernen Architektur zerstört worden. Auf der anderen Seite steht das Baudenkmal, also die alte Architektur, die Geschichte und Tradition verkörpert und die vor Veränderung und Zerstörung geschützt werden muss. Zwischen diesen beiden Positionen – der neuen Architektur und dem Baudenkmal – gibt es eigentlich nichts, was in unserem architektonischen Wertekanon Platz findet. Da ist eine Kluft entstanden, eine Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft.
 
Diese Kluft ist das geistige Erbe des 20. Jahrhunderts und sie wird mehr und mehr in Frage gestellt. Zum Beispiel durch jene Architekten, die sich wieder an historischen Bauformen orientieren, oder sogar zerstörte Gebäude wieder originalgetreu aufbauen – wie derzeit das historische Stadtschloss in Berlin (für das man übrigens ein anderes historisches Gebäude, den Palast der Republik, abgerissen hat). Aber diese Architektur ist meiner Ansicht nach nicht in der Lage, die Kluft zu überwinden. Sie hat weder einen wahrheitsgemäßen Bezug zur Geschichte, noch kann sie irgendeinen glaubhaften Bezug zur Gegenwart, geschweige denn zur Zukunft herstellen. Ich glaube, dass wir andere Wege finden müssen.
 
Tim Rieniets - "Umbaukultur - The Culture of Conservation" Tim Rieniets - "Umbaukultur - The Culture of Conservation" | © Elitza Milanova Ein solcher Weg könnte die „Umbaukultur“ sein, mit der Sie sich in Ihrer Arbeit intensiv befassen. Wie fördert die Umbaukultur die Weitergabe der ästhetischen und kulturellen Werte unserer Vergangenheit über die Generationen hinweg? Ist der moderne Mensch ein Kind der Kultur der Zerstörung und des Wegwerfens? Warum ist es vernünftiger, umzubauen, anstatt mit geringen Kosten etwas Neues aufzubauen?
 
In vorindustrieller Zeit war es Teil unserer Baukultur, alte Bauwerke, alte Bauteile und alte Baumaterialien wieder zu verwenden. Das hatte einen ganz einfachen Grund: Baumaterialien waren wertvoll, und menschliche Arbeit auch (denn Maschinen gab es ja noch nicht). Darum war es ökonomisch sinnvoll, das Alte zu verwenden, anstatt Neues zu produzieren. Darum hat man gebrauchte Mauersteine, Dachbalken oder Eisenteile genutzt. Und man hat auch alte Bauwerke wiederverwendet und angepasst.
 
Heute faszinieren uns solche Bauwerke, an denen man die Spuren der Geschichte ablesen kann. Aber wir bauen sie nicht mehr. Wir bauen lieber neu, weil es heute viel einfacher und billiger ist als früher. Oft ist es sogar billiger neu zu bauen, weil die heutige Bauindustrie nicht darauf ausgelegt ist, alte Gebäude zu verwerten. Und das geltende Baurecht erschwert sogar die Wiederverwendung von Bauwerken oder Baumaterialien. 
 
Aber ich bin davon überzeugt, dass sich das ändern wird. Denn die Bauindustrie verbraucht mehr nichterneuerbare Ressourcen, als irgendein anderer Industriezweig. Das kann nicht so bleiben! Darum habe ich die „Umbaukultur“ zu meinem Thema gemacht. Weil ich glaube, dass es ökologisch sinnvoll ist, aber auch, weil ich glaube, dass im Umbauen und Umnutzen alter Bauwerke ein riesiges architektonisches Potenzial schlummert.
 

StadtBauKultur NRW ist nicht nur eine Organisation, die hochwertige Bauprojekte unterstützt, sondern auch ein Laboratorium für neue und innovative architektonische Ideen. Deswegen ist die Förderung des baukulturellen Diskurses einer der Schwerpunkte Ihres Programmes. Wie verändert die Landesinitiative das gegenwärtige Bild vom Städtebau? Was ist aus Ihrer Perspektive die wichtigste Leistung der Organisation in diesem Bereich?
 
Unter Baukultur verstehe ich die Eigenschaft einer Gesellschaft, gebaute und gestaltete Umwelt hervorzubringen. Jede Gesellschaft hat eine andere Baukultur, weil sie andere Voraussetzungen hat: andere Traditionen, andere klimatische Bedingungen, andere Baustoffe oder andere qualitative Ansprüche. An den meisten dieser Voraussetzungen kann man nichts ändern, an manchen aber schon, insbesondere an den Ansprüchen. In manchen Regionen sind diese Ansprüche hoch, dort gibt es gute Architekten, gute Handwerker und anspruchsvolle Bauherrn. In anderen Regionen sind diese Standards weniger hoch.
 
StadtBauKultur NRW wurde ins Leben gerufen, um in unserer Region, dem Land Nordrhein-Westfalen, für die Baukultur zu sensibilisieren und die Ansprüche zu heben. Das tun wir mit sehr unterschiedlichen Projekten: Wir organisieren öffentliche Veranstaltungen, publizieren Literatur, führen Kampagnen durch oder initiieren Pilotprojekte. Es ist schwer zu sagen, wie erfolgreich diese Arbeit ist und was man tatsächlich bewirken konnte. Ich bin aber sicher, dass wir mit unserer Arbeit einiges in Bewegung setzen konnten. Zum Beispiel ist es uns gelungen, das Thema „Umbaukultur“ im Diskurs zu verankern.

Tim Rieniets im Gespräch Tim Rieniets im Gespräch mit Lyubo Georgiev, Ina Valkanova und Hristina Kamenova | © Dimo Kolev Haben Sie ein Lieblingsumbauprojekt, das von Ihnen oder von Ihren Kollegen realisiert wurde? Können Sie uns erzählen, warum dieses Projekt Sie beeindruckt hat?
 
Es gibt nicht das eine Umbauprojekt, das ich mehr schätze als alle anderen. Aber es gibt ein solches Projekt, mit dem ich eine Schlüsselerfahrung verbinde: Es handelt sich um das ehemalige Museum am Ostwall in Dortmund. Dieses Haus stammt im Kern aus dem Jahr 1875 und wurde als Königliches Oberbergamt errichtet, das heißt als Hauptsitz des Steinkohlebergbaus im Ruhrgebiet. Als das Haus 1911 für seine ursprüngliche Nutzung zu klein wurde, hat man es zu einem Kunst- und Gewerbemuseum umgebaut. Im Zweiten Weltkrieg wurde es dann schwer beschädigt und hätte nach dem Krieg abgerissen werden sollen – so wie alle Profanbauten in der Dortmunder Innenstadt. Aber die damalige Kuratorin des Museums hatte ehrgeizige Pläne und wollte ein Museum für zeitgenössische Kunst aufbauen. Um diese Vision umsetzen zu können, überzeugte sie die Stadtverwaltung davon, die obersten zwei Etagen rückzubauen und aus den bleibenden beiden Etagen einen – für damalige Verhältnisse – modernen Museumsbau zu machen. So kam es, dass dieses Haus nach seinem Umbau 1956 das älteste Profanbauwerk in der Dortmunder Innenstadt war und zugleich das modernste.
 
Als ich diese Geschichte hörte war mir klar: Dieses Haus ist für mich das beste Beispiel für nachhaltige Architektur. Denn was ist nachhaltiger, als aus einem alten Bauwerk ein modernes zu machen?
 
2014 stand das Museum wieder kurz vor dem Abriss. Die Stadt wollte das Haus an einen Investor verkaufen, der es abgerissen hätte. Daraufhin hat sich eine Bürgerbewegung für den Erhalt des Gebäudes stark gemacht. Und auch meine Institution, die Landesinitiative StadtBauKultur NRW, hat sich eingesetzt und eine Ausstellung in dem Haus organisiert, um der Öffentlichkeit die in Vergessenheit geratene Geschichte des Gebäudes zu erzählen. Wenige Tage später hat sich der Stadtrat für den Erhalt ausgesprochen. Nun wird das Gebäude abermals umgebaut und soll bald das Baukunstarchiv NRW beheimaten.
 

Sie sind zum ersten Mal in Bulgarien und hatten schon die Gelegenheit, unsere Hauptstadt zu besichtigen. Während eines Spazierganges in Sofia kann man viele verlassene Gebäude, bzw. Wohnhäuser, Fabriken und Sporthallen, sehen. Welche Eindrücke hat Ihnen unsere Hauptstadt vermittelt?
 
Was mich an Sofia fasziniert hat, ist die große Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es gibt nicht viele Städte, deren Geschichte so weit in die Vergangenheit reicht und wo so viele bauliche Zeugnisse und archäologische Funde förmlich auf der Straße liegen, oder besser: unter der Straße. Wenn man nach unten guckt, stößt man auf die Vergangenheit und wenn man hoch schaut, kann man die Zukunft sehen. Damit meine ich die vielen alten und teilweise leerstehenden Gebäude, aus denen so viel hervorgehen könnte. Es ist ein bisschen wie im Berlin der 1990er Jahre, wo ebenfalls alte Wohnhäuser und sozialistische Prachtbauten leer standen und aus denen schließlich ein riesiger, kreativer Überschuss hervorgegangen ist.
 
Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, dass auch in den  innerstädtischen Quartieren eine große soziale Mischung vorhanden ist. Da schien ein breites Spektrum zu koexistieren, von den politischen Eliten bis zu den „einfachen Leuten“. Es ist der Stadt zu wünschen, dass sie ihre großen Potenziale nutzen kann, ohne diese Mischung zu verlieren.
 
Tage des Architekturerbes © Dimo Kolev
Sie waren als Teil der Jury des Wettbewerbs für studentische Abschlussarbeiten im Bereich des Schutzes des Architekturerbes eingeladen. Am Anfang Ihrer Präsentation haben Sie Ihre Begeisterung über die Leidenschaft, mit der das Thema „Architekturerbe“ ausarbeitet ist, geäußert. Was hat Sie in der Arbeit der künftigen jungen bulgarischen Architekt_innen beeindruckt?
 
Zunächst hat mich gefreut, dass es diesen Studiengang gibt. Und dass es die „Architectural Heritage Days“ gibt. An denen hat mich fasziniert, wie frisch man hier mit dem Thema „bauliches Erbe“ umgeht. In Deutschland gibt es einen sehr gut funktionierenden staatlichen Denkmalschutz. Aber der hat das Problem, dass er seine wertvolle Arbeit nicht gut kommuniziert. Das kommt alles etwas spröde daher, aber nicht so, dass man junge Leute dafür begeistern würde. Da könnte der deutsche Denkmalschutz etwas von den Bulgarischen „Architectural Heritage Days“ lernen.
 
Am Wettbewerb hat mich die Vielfalt der Ideen und Herangehensweisen fasziniert. Bei manchen Arbeiten musste ich feststellen, dass den Autoren die eigene architektonische Setzung offenbar so wichtig ist, dass das bauliche Erbe, um das es eigentlich ging, zu sehr in den Hintergrund getreten ist. Es hat aber auch Arbeiten gegeben, die mit größter Sorgfalt und Sensibilität an das bauliche Erbe herangetreten sind und sehr intelligente Vorschläge für dessen Erhalt erarbeitet haben!