Dirk Cieslak im Gespräch
Vierte Welt – Theater jenseits des Projekts
Dirk Cieslak ist eine der einflussreichsten Figuren in der Theaterszene in Berlin, Regisseur und Theateraktivist. Er ist Begründer und eine der leitenden Figuren des paradigmatischen Berliner Raums für künstlerische und kritische Praktiker Vierte Welt. Er ist eine der wichtigsten kritischen Stimmen in den deutschen und europäischen Debatten über die unabhängige Szene für darstellende Künste und über die staatlichen Theater und Strukturen. Anlässlich des 10. Jubiläums der Theatergruppe „Metheor“ und im Rahmen seiner langjährigen Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Philosophen Boyan Manchev war Dirk Cieslak am 15. und 16. Februar 2018 in Sofia. Am 15. Februar führte er eine öffentliche Diskussion mit Boyan Manchev und Ani Vasseva im Goethe-Institut, am 16. Februar stand er mit den beiden im Dom Na Kinoto auf der Bühne.
Zu Beginn eine Frage, die Ihnen sicher häufig gestellt wird: Woher stammt der Name „Vierte Welt“?
Das ist eine oft geäußerte Frage. Der Begriff stand plötzlich nach einem Brainstorming im Raum. Wir haben instinktiv gesagt, dass sich das gut anhört. Wir wussten, dass dieser Begriff „Vierte Welt“ mit einem entwicklungssoziologischen Begriff aus den 1970er Jahren zusammenhängt, ein Begriff, unter den man all die Staaten subsumiert hat, die sozusagen „keine Zukunft hatten“. Wie zum Beispiel ein Staat wie Niger, das ist sozusagen nochmal unterhalb der Dritten Welt, unterhalb der Entwicklungsländer, weil man gar keine Entwicklung absehen konnte, weil sie so verarmt waren, dass sie nicht in dieses Schema passten. Und wir dachten eben, dass es gut ist, sich denen verpflichtet zu fühlen, die keine Stimme, keine Zukunft haben in dieser Welt. Das fanden wir einen ganz guten Start für dieses Theater. Eine andere Assoziation ist der „vierte Stand“. In feudalen Zeiten war der vierte Stand auch der Stand, der kein Stimmrecht hatte.
Sie beschreiben sich oft als Theateraktivist beziehungsweise werden oft als solcher beschrieben. Was ist Ihre Rolle, was genau macht Sie zum Theateraktivisten?
In erster Linie mache ich Theater. Ich bin vor fast dreißig Jahren als Autodidakt zum Theater gekommen. Eher zufällig. Ich bin dort aus einer etwas gebrochenen Biografie heraus gelandet. Ich habe auch nie eine Ausbildung gemacht beim Theater. Für mich bot das Theater, jenseits der Universität, jenseits irgendeines Berufes, jenseits eines politischen Aktivismus, einen Raum, wo man denken kann, wo man experimentieren kann, wo man etwas entwerfen und etwa untersuchen kann. Ohne bereits in einem bestimmten Korpus eingeschlossen zu sein. Diese Offenheit, die dieser Raum mir erstmal geboten hat, fand ich attraktiv. Ich hatte immer eine Liebe zum Theater. In den 1970er Jahren gab es eine Zeit, da bin ich sehr gerne ins Theater gegangen. Ich kenn noch die alte Schaubühne am Halleschen Ufer, dort habe ich Inszenierungen gesehen. Irgendwie hatte das Theater latent eine Anziehung, ohne dass ich je wusste, warum. Der Moment in meinem Leben war noch nicht gekommen, der war erst sehr viel später. Ich mag den Begriff Aktivismus eigentlich nicht. Ich bin immer ein politischer Mensch gewesen. Ich habe mich nie gefühlt als jemand, der politisch agiert in dem Sinne, dass ich mich einer politischen Partei oder Organisation anschließe, diesen Teil meines Lebens habe ich bereits abgeschlossen.
Zum Theateraktivisten macht mich die Tatsache, dass das Theater einmal ein Freiheitsversprechen hatte, und ich auf dieses Freiheitsversprechen poche. Meine Erfahrung, auch die Fehler, die ich gemacht habe, die Illusionen, denen ich mich in hingegeben habe – ich musste an einer Stelle deutlich feststellen, dass ich in einer Umgebung bin, auch im freien Theater, die Marktgesetzen gehorcht. Dass ich in einer Umgebung bin, die von Kuratoren, einer bestimmten Form der floriden Macht, dominiert wird, die mich dazu zwingt, Produkte abzuliefern und die mich auf eine bestimmte Ästhetik festnageln will. An erster Stelle hat mich ein Inhalt interessiert, ein Material, ein Text, eine Situation. Das hat mich immer irgendwo hingeführt, auch zu einer Ästhetik. Ästhetik halte ich für sekundär, nicht für unwichtig, aber für sekundär. Ich würde nie isoliert die Ästhetik beurteilen – das hat ja immer etwas mit dem Setting zutun, mit der Idee, mit dem Gegenstand. Das kann ich nicht trennen. Denn durch diese Trennung wird Theater zu einem Produkt am Markt. Dieser unterscheidet letztlich zwischen dem, was neu ist, und dem, was nicht neu ist. Das sind nur noch die Kategorien, die am Ende überbleiben. Und dieses „neu“ bedeutet nichts außer einem Oberflächenreiz. So wird das freie Theater ein Konsumartikel; in so einer Stadt wie Berlin bedient er Peer-Groups. Matthias Lilienthal, Intendant bei den Münchner Kammerspielen, hat das mal ganz offen gesagt: „Ich kann bestenfalls vier Szenen zusammen bedienen.“. Das rasende Programm in Berlin am HAU, was er gemacht hat, war dazu da, Szenen zu bedienen. Die Leute haben Konsumptionswünsche. Und das habe ich nicht mehr ertragen. Das hat keinen Ethos, keine politische Haltung, es apemiert nur die Zustände, wie sie heute in einer Gesellschaft, in der alles ökonomisiert wird, sind. Das Theater wird ja nicht nur in Geld umgewertet, das geht weiter und tiefer. Wir alle sind nur noch Unternehmer unser Selbst, bis in den tiefsten Punkt unserer Subjektivität. Wir können nicht mal mehr „normale“ soziale Beziehungen zueinander haben, denn mir steht immer nur ein Unternehmer seiner Selbst gegenüber. Der Moment, der das Soziale ausmacht, Respekt, Spiel, ein erotisches Spiel, eine bestimmte Erotik im öffentlichen Raum, der ist einfach ausgelöscht, in einer Stadt wie Berlin sowieso. Da laufen Markenartikel rum, Hipster-Markenartikel. Aus diesem Grund haben wir die Vierte Welt gegründet. Weil wir gesagt haben „Nein, das machen wir alles nicht mehr mit“.
Die Performance-Reihe „Im Toten Winkel“ entstand in Zusammenarbeit mit verschiedenen Philosophen und startete 2013. Daraus sind in den vergangenen Jahren mehrere Theaterabende hervorgegangen. Was hatte es mit dieser Reihe auf sich, was war das Ergebnis?
Die Voraussetzung für „Im Toten Winkel“ war folgendes: Wir müssen den Projektgedanken durchbrechen, und das schaffen wir nur, wenn wir eine Ordnung der Dauerhaftigkeit installieren. Etwas in einer Reihe oder Serien unter einem großen Obertitel zu produzieren ist so ein Versuch. Zentraler Ausgangspunkt ist die Frage, wie wir öffentliches Denken entwickeln können. Öffentliches Denken ist die Notwendigkeit, uns gemeinsam über Wirklichkeit zu verständigen, über mögliche Wirklichkeiten. Das ist extrem notwendig in einer Welt, in der die kritischen Werkzeuge des linken Liberalismus nicht mehr funktional sind - ich bin in den 1970er Jahren damit sozialisiert worden, aber das hat sich dann ja fortgesetzt. Auch unsere politischen Praxen sind nicht mehr funktional in dieser sich polarisierenden Welt.
Wir müssen es anders denken. Wie kommen wir zu neuen Tools? Wir laden einen Philosophen ein. Der soll für uns einen Text schreiben. Innerhalb eines Jahres produzieren wir in einem kleinen Ensemble drei verschiedene Theaterabende, die sich auf diesen Text beziehen. Sie können zu jedem dieser Theaterabende unabhängig voneinander gehen.
Als Zuschauer gehen sie erstmal nur in einen Theaterabend. Das hat nicht mit dem zu tun, was der Zuschauer sieht, sondern damit, wie wir über eine andere Programmatik und Produktionsweise des Theaters nachdenken. So ist die Vierte Welt ihr eigenes Zentrum, das mit dieser Reihe „Im Toten Winkel“ ein kleines politisches Archiv angelegt hat.
Das hat auch eine Wirkung auf die Gruppe. Wir haben selbst etwas gelernt und uns neue Werkzeuge erschaffen. Es gibt in dieser Gesellschaft kaum noch Räume der Muße, in denen so ein Prozess noch denkbar ist. Sie sind ja so mit sich selbst beschäftigt, sich selbst zu vermarkten. Das geht bis in die kleinste Pore der Gesellschaft und ist eine neue Form von Produktionssetting. Da kann man Theater drüber schreiben, aber es bedeutet ein zukünftiges Theater. Wir sind das Theater der Zukunft. Jenseits vom freien Theater und jenseits vom Stadttheater. Das ist unser Anspruch, dafür treten wir ein. Wir leben in einer Zeit, in der wir eine so ausgefeilte und intelligente und kompetente Kritik über Wirklichkeit haben, auf der Ebene der politischen Philosophie, der Soziologie, der Umweltwissenschaften. Aber es bleibt bestenfalls im Aktivismus hängen und es formt sich kein Bewusstsein darüber, dass wir das radikal ändern müssen. Das radikal zu formulieren, dranzubleiben, zu insistieren auf einer Kritik - so möchten wir in der Vierten Welt eine Zukunft entwerfen. Vielleicht wird es hundert „Vierte Welten“ geben, und jede hätte ihren eigenen Atem. Wir müssen einfach anders produzieren.
Sie sind auch Theaterregisseur. Was interessiert Sie an der Praxis dieser Arbeit?
Mich interessiert daran eigentlich, mich selbst innerhalb eines Produktionsprozesses zum Verschwinden zu bringen. Eine Situation zu schaffen, in der es eine Form von Austausch und Kommunikation gibt, aus dem heraus so ein Theaterabend entsteht. Das hat nichts damit zu tun, keine Verantwortung zu nehmen. Mir ist völlig klar, dass es Momente gibt, in denen man Entscheidungen treffen muss. Aber das Ideale ist, das zum Verschwinden bringen, sodass das, was man am Ende sieht, nicht aus einer Vision eines Regisseurs entstanden ist, sondern aus einer gemeinsamen Arbeit heraus. Das ist das Ideal. Ich glaube, ein anderes Theater kann ich auch gar nicht machen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die eine Vision haben und das Ganze wie mit Schachfiguren arrangieren. Obwohl auch das häufig nur Täuschung ist. Aber es gibt natürlich Leute, die viel mehr aus einer eigenen Gesamtvorstellung arbeiten. Wenn ich anfange zu arbeiten, weiß ich wirklich noch nicht, was am Ende dabei rauskommt. Das hat sehr viel damit zu tun, dass ich erst dann anfange, über einen solchen Theaterabend nachzudenken.
Ich halte nichts davon, work-in-progress oder Zwischenstände zu präsentieren. Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, am Ende ein Theaterabend zu haben. Es geht darum, wie man ihn schafft. Ich bin fest davon überzeugt, dass man dem Abend dann auch ansieht, wie er entstanden ist. Oder vielleicht kann man das am Ende spüren.
Boyan Manchev (links) und Dirk Cieslak (rechts), 15.02.2018
| © Goethe-Institut Bulgarien
Sie sind anlässlich des 10. Jubiläums der Theatergruppe „Metheor“ sowie als Fortsetzung Ihrer Zusammenarbeit mit dem Philosophen Boyan Manchev hier in Bulgarien. Was ist Ihr Eindruck von der Theaterpraxis der Gruppe, sehen Sie Unterschiede?
Das kann ich nur bis zu einem gewissen Punkt sagen. Ich hab die Künstler ja selbst gerade erst kennengelernt. Die Verbindung kommt zustande über Boyan Manchev, der in Berlin unterrichtet hat. Wir sind an ihn herangetreten und haben ihn gefragt, ob er für die Reihe „Im Toten Winkel“ einen Text schreiben kann. Für mich hat sich jetzt erst gezeigt, dass er mit so einer Theatergruppe wie Metheor verbunden ist. Es gibt ein bestimmtes Interesse, eine Haltung, die wir teilen. Die Frage ist, wie wir damit weiterarbeiten können. Wir haben die Idee, dass wir gemeinsam mit Metheor mit dem vierten Teil der Reihe „Im Toten Winkel“, „Pandoras Töchter“, mit dem Text und einem Teil des Materials, einen gemeinsamen Abend produzieren. Auch um zu gucken, was es da für eine andere Theaterpraxis gibt und was dabei rauskommt. Das hat erstmal was damit zu tun, dass wir mit Boyan Manchev als Theoretiker und Philosophen weiterarbeiten möchten. Wir arbeiten gerade an etwas, das sich über 2 Jahre erstreckt, das einen sehr starken theatralen Anteil hat, aber auch einen theoretischen. Die Frage ist, wie wir Räume der Verständigung entwickeln können, ein Setting für eine neue Form, symbolische Werte zu produzieren. Wir arbeiten zurzeit daran, eine neue Produktionsstätte des Denkens zu entwerfen.
Dieses Interview wurde am 16. Februar 2018 von Tomma Hohnhorst im Goethe-Institut in Sofia durchgeführt.