Sprachpolitik
Welche Sprache(n) spricht Europa?

"Hallo" in verschiedenen Sprachen
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„In Vielfalt geeint“ lautet das Motto der Europäischen Union. Gemeint ist auch die Sprachenvielfalt. Die Mehrsprachigkeit zu bewahren, hat sich Europa auf die Fahne geschrieben. Bei Dutzenden von Sprachen eine politische Herausforderung.

Vom Polnischen ins Portugiesische, vom Deutschen ins Dänische oder Maltesische, und sowieso alles noch mal auf Englisch – ein mehrsprachiger Alltag in Europa würde ohne Sprachmittler nicht funktionieren. Damit die Union nicht täglich ins Sprachchaos stürzt, arbeiten mehr als 4.000 Übersetzer in den Institutionen, alleine 1.500 bei der Europäischen Kommission.

Sie haben gut zu tun, denn es gibt aktuell 24 Sprachen, die als Amtssprachen anerkannt sind. „Amtssprache“ bedeutet konkret, dass die europäischen Gesetzestexte in allen 24 Sprachen zugänglich sind und dass jeder EU-Bürger und jede EU-Bürgerin das Recht hat, sich in einer dieser Sprachen an die Organe der Europäischen Union zu wenden – und in ebendieser Sprache eine Antwort zu erhalten. Soweit die Theorie.

In der Praxis verliert die Sprachenpolitik in der EU hingegen an Bedeutung: Das 2007 eigens geschaffene Ressort für Mehrsprachigkeit wurde schon nach nur drei Jahren wieder abgewickelt. Die Sprachenvielfalt ist vom Top- zum „Querschnittsthema“ geworden, das nun irgendwo zwischen Bildung und Kultur und dem Ressort Arbeit und Soziales angesiedelt ist. Matthias Hüning, Professor für Niederländische Philologie an der Freien Universität Berlin, beobachtet diese Entwicklungen genau. Er hat den Eindruck, dass Mehrsprachigkeit im offiziellen Europa kein Thema mehr ist: „Es gibt zurzeit weder EU-Initiativen für neue Forschungsprojekte dazu noch gibt es politische Äußerungen.“ Seltsam, findet er, da die Sprachenvielfalt doch ein wesentliches Merkmal der europäischen Gemeinschaft sei: „Dass wir uns in Europa gegenseitig verstehen können, ist essenziell!“

Wenig überraschend: Englisch ist die am weitesten verbreitete Sprache Europas

Doch gerade daran hapert es häufig: Beinahe die Hälfte der Europäer – 46 Prozent – kann sich ausschließlich in ihrer Muttersprache verständigen. Nur etwas mehr als die Hälfte – 54 Prozent – der europäischen Bevölkerung beherrscht eine Fremdsprache so gut, dass sie sich darin unterhalten kann. Zwei Fremdsprachen spricht gerade mal ein Viertel der EU-Bürger. Zu diesem Ergebnis kam das Spezial-Barometer zum Thema „Die europäischen Bürger und ihre Sprachen“, das 2012 von der Europäischen Kommission als Vergleich zur Befragung aus dem Jahr 2005 in Auftrag gegeben wurde.

Dabei stellte sich auch heraus, dass erwartungsgemäß Englisch die mit Abstand am weitesten verbreitete Sprache ist: Mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung spricht Englisch; in 19 von 25 Mitgliedsstaaten – Irland und Großbritannien sind hiervon ausgenommen – ist das Englische die meistgesprochene Fremdsprache. Etwa ein Viertel der Europäer fühlt sich der Sprache ausreichend mächtig, um Medien wie Radio, Fernsehen, Zeitschriften und das Internet einschließlich sozialer Medien auf Englisch nutzen zu können. Auf den Zwiespalt, den diese Ergebnisse aufzeigen, weist Sprachwissenschaftler Matthias Hüning hin: „Das Englische ist faktisch schon die lingua franca Europas, doch in der Politik möchte sich das niemand eingestehen. Es wird weiter so getan, als seien alle Sprachen gleich. Natürlich sind sie alle gleichwertig, doch das Englische hat mittlerweile einen besonderen Status.“

Seine Forderung an die EU-Politiker lautet deshalb: Stellung beziehen. Die undifferenzierte Haltung den Sprachen gegenüber hält Hüning für Augenwischerei: „Die EU könnte und sollte sich selber zum Ziel setzen, die Englischkenntnisse der Europäer zu fördern und auf ein einheitliches Level zu bringen.“ Denn die Ergebnisse des Barometers zeigen auch, dass die Mehrzahl der Menschen in Europa gar kein oder nur sehr rudimentäres Englisch spricht.

Daneben gilt es, die europäische Mehrsprachigkeit zu fördern und zu schützen. „Wenn man die sprachlichen Entwicklungen dem freien Markt überlässt, dann wird auch das dazu führen, dass sich das Englische als Verständigungssprache durchsetzt – allerdings auf Kosten der anderen Sprachen“, sagt der Wissenschaftler. „Hier einen realistischen Mittelweg zu finden, sollte das Ziel einer EU-Sprachpolitik sein.“

Problematisch sei die Entwicklung etwa in der Wissenschaft. Zwar brauche man die länderübergreifende Sprache zum wissenschaftlichen Austausch, „aber wenn wissenschaftliche Themen nur noch auf Englisch behandelt werden, wird das Denken stromlinienförmig“, warnt der Sprachwissenschaftler. In den Philologien sei die Entwicklung zulasten der Mehrsprachigkeit schon jetzt sichtbar, sagt er: „Die fremdsprachlichen Fächer an Universitäten werden immer kleiner oder ganz eingestampft.“ In Deutschland seien diese Disziplinen zwar noch nicht bedroht – „aber in den Niederlanden gibt es zum Beispiel demnächst wohl keine Skandinavistik und kein Portugiesisch mehr, in England ist der ganze Fremdsprachenbereich eine große Ruine und auch in den skandinavischen Ländern nimmt die Vielfalt des Angebots deutlich ab“.

Hüning fordert deshalb den Erhalt von Infrastruktur und Knowhow an den Universitäten – notwendige Voraussetzungen, um die Sprache und Kultur jedes Landes überall in der EU studieren zu können. Dabei könne Mehrsprachigkeit kreative Prozesse begünstigen: „Nicht nur in der Wissenschaft, auch in Firmen birgt der Einsatz verschiedener Sprachen ein bislang unterschätztes Potenzial“, sagt Hüning. „Zum Beispiel bei Formen der asymmetrischen Kommunikation: Du sprichst Französisch und verstehst etwas Deutsch, ich spreche Deutsch und verstehe genug Französisch. Wir können uns also verständigen, ohne die jeweils andere Sprache aktiv beherrschen zu müssen.“ Das sollte man weiter ausbauen, findet der Sprachforscher. Stattdessen sei gerade in internationalen Konzernen und zunehmend auch in Masterstudiengängen ausschließlich Englisch die beherrschende Sprache.

Gilt es, die Vielsprachigkeit in Europa zu erhalten und zu fördern, betrifft dies aber nicht nur die 24 Amtssprachen. Gesprochen werden in Europa um die hundert Sprachen – die Zahlen variieren je nachdem, ob Dialekte hinzugezählt werden. Wie die einzelnen Länder in Europa mit ihrer jeweils eigenen Sprachtradition umgehen, ist jedoch sichtlich verschieden. In Frankreich besteht etwa eine recht einseitige Sprachpolitik zugunsten des Französischen, wie es in Paris gesprochen wird. Mitte des 17. Jahrhunderts eingerichtet, kümmert sich auch heute noch die Académie Française um die „Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache“.

Mit der Französischen Revolution wurde Französisch als Standardsprache festgelegt und auch in abgelegenen Teilen des Landes durchgesetzt – damit sollte jeder französische Bürger in der Lage sein, die neue demokratische Gesetzgebung zu verstehen. Der Sprachzwang führte jedoch dazu, dass Dialekte und Sprachvarietäten, die besonders in ländlichen Gegenden gesprochen wurden, verschwanden. „Vor allem im Süden Frankreichs sprachen die Menschen eigentlich kein Französisch“, sagt Judith Meinschaefer, Professorin für Galloromanische Sprachwissenschaft am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. Dort sei das Okzitanische stark verbreitet gewesen, eine galloromanische Sprache, die sich vom Französischen deutlich unterscheidet.

Einige der Dialekte in Frankreich sind durch diese Sprachpolitik verloren gegangen. Andere – wie das Okzitanische – werden heute wieder kultiviert und gesprochen. Allerdings nicht auf Initiative der französischen Regierung, sondern der Bevölkerung: Heimat- und Kulturvereine bieten Sprachkurse an, und enge Gemeinschaften tragen die Sprache weiter.

Sprachen als Ausdruck der eigenen Identität

In Spanien gibt es seit Jahrzehnten Debatten um das Katalonische und das Baskische: „Beide Sprachgemeinschaften grenzen sich bewusst von Spanien ab“, sagt Judith Meinschaefer. „Das führt zu enormen gesellschaftspolitischen Spannungen, aber die Sprach- und Kulturgemeinschaften als solche funktionieren sehr gut.“ Die Sprache sei besonders hier ein wichtiges Mittel, um die eigene Identität auszudrücken. „Es gibt Familien, in denen nur Baskisch gesprochen wird, und baskische Kindergärten“, erläutert die Wissenschaftlerin. Ähnlich sei es in Katalonien. Das Spanische habe in diesen Regionen mal mehr und mal weniger Einfluss auf die Sprache und das Leben. „Das Baskenland und Katalonien sind die wirtschaftlich stärksten Gebiete Spaniens“, sagt Meinschaefer, „während Andalusien – die ‚genuin spanischsprachige Region‘ – deutlich schwächer ist. Dies mag auch ein Grund sein für die strikte Abgrenzung und den Wunsch nach sprachlicher, politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit.“

Auch heute noch sehr lebendig sind die Dialekte etwa in Italien. Ein Grund dafür, dass viele Dialekte bis heute überdauert haben, sei der noch bis in die 1950er Jahre verbreitete Analphabetismus in Süditalien gewesen, sagt Judith Meinschaefer. So konnten sich regionale Färbungen ungehindert entwickeln. Im Norden Italiens war etwa das Venezianische eine traditionsreiche Literatursprache und wird so auch heute noch gesprochen. Die italienische Regierung unterstützt die Pflege der Dialekte, etwa durch Grammatiken und Wörterbücher. Gerade bei der Jugend sind regionale Sprachvarianten beliebt: Auch wenn die jüngeren Generationen selbst kaum noch Dialekt sprechen, lassen sie die Sprachtradition ihrer Familie etwa in die Popmusik mit einfließen.

Popmusik gemischt mit regionalem Dialekt

Auch im deutschen Sprachraum finden sich Dialekte in der Populärkultur wieder, weiß Horst Simon, Professor für Historische Sprachwissenschaft am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. „In Bayern und Österreich gibt es eine langjährige Tradition von spaßiger Popmusik mit regionalem Dialekt. Die Musik von Rainhard Fendrich oder Wolfgang Ambros etwa lief in den 1970er und 80er Jahren im Radio hoch und runter“, sagt er. Heute knüpft die Band LaBrassBanda sehr erfolgreich an diese Tradition an. Besonders im süddeutschen Raum und im Rheinland sei der authentische Ausdruck eng mit dem Dialekt verbunden. „Dort, wo der Dialekt in der Popkultur stark vertreten ist, spielt er in der Regel auch im Alltag eine größere Rolle“, hat der Wissenschaftler beobachtet.

In Deutschland seien verhältnismäßig viele Dialekte lebendig. Das liege an der relativ späten Nationenbildung Deutschlands: „Es gab nie eine strikte Standardisierung der Sprache wie etwa in Frankreich“, sagt Simon. So blieben deutsche Mundarten bis heute erhalten und werden als Teil der Kultur gepflegt. „Durch die zunehmende Mobilität und die ständige Präsenz von Medien aus aller Welt gibt es aber heute kaum noch ‚Dorfdialekte‘, also Sprachvarietäten, die auf einen engen Raum begrenzt sind“, sagt der Wissenschaftler. Regionale Färbungen gebe es dagegen noch immer, wobei die Varietäten im Norden und Osten Deutschlands großräumiger verbreitet seien.

Die Mär vom Aussterben der Dialekte glaubt Simon nicht, „davon sind wir noch weit entfernt“. „Kiezdeutsch“, vor allem geprägt durch Migranten, ist bislang kaum erforscht Je nachdem, wie man „Dialekte“ definiert, entstehen heutzutage sogar neue Mundarten. Migranten aus den arabischen Ländern, aus der Türkei und dem Nahen Osten bringen neue Sprachen mit nach Deutschland, die sich auf eigene Weise mit dem Deutschen mischen. „Kiezdeutsch“ heißt diese neue Sprachvarietät hierzulande, erforscht ist sie bislang relativ wenig. So weiß man zum Beispiel nur ansatzweise, dass Kiezdeutsch- Formen in Berlin, Mannheim oder Stuttgart Gemeinsamkeiten haben, sich aber auch voneinander unterscheiden, denn lokal gefärbt sind sie alle. „Der Einfluss von nicht-europäischen Sprachen beschränkt sich aber nicht auf Deutschland“, sagt Horst Simon. „In fast allen multilingualen Zentren Europas gibt es dieses Phänomen: Immer dort, wo verschiedene ethnische Gruppen aufeinandertreffen, entstehen neue Formen der lokalen Mehrheitssprache.“

Ob sich tatsächlich neue Dialekte in Europa etablieren oder ob es eher ein vorübergehendes Phänomen ist, also ein „Sprachstil“, kann nur die Zeit zeigen. Wie sich die Standardsprachen in Europa entwickeln werden, sollte man hingegen nicht bloß abwarten, findet Matthias Hüning. „Sprache bedeutet immer auch: Kulturaustausch, Verständnis und gegenseitiges Kennenlernen.“ Das könne die Politik weiter fördern – mit Austauschprogrammen, Kulturinstituten und einem allgemeinen Bewusstsein für die Wichtigkeit von Sprachen und Sprachpolitik.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen im Wissenschaftsmagazin "fundiert" 01/2015.
 
Die Experten

Prof. Dr. Judith Meinschaefer

Judith Meinschaefer ist Professorin für Galloromanische Sprachwissenschaft am Institut für Romanische Philologie. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der Morphologie, Semantik und Phonologie verschiedener romanischer Sprachen, insbesondere des Französischen und Spanischen. Darüber hinaus interessiert sie sich für romanische Sprachen allgemein und deren Variation und Entwicklung im Besonderen.
 
Prof. Dr. Matthias Hüning

Matthias Hüning ist Professor für Niederländische Sprachwissenschaft am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit vergleichend-kontrastiver Sprachwissenschaft, wobei es in erster Linie um Struktur und Stellung des Niederländischen innerhalb der (west-)germanischen Sprachen geht. Daneben gilt sein Interesse der historischen Sprachwissenschaft und der Erforschung von Sprachwandelphänomenen. Mit sprachpolitischen und soziolinguistischen Aspekten der europäischen Sprachlandschaft beschäftigt er sich neuerdings verstärkt. Von 2006 bis 2011 war er an einem großen EU-Projekt zur europäischen Mehrsprachigkeit beteiligt.
 
Prof. Dr. Horst Simon
 
Horst Simon ist Professor für Historische Sprachwissenschaft am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Historische Grammatik und Pragmatik des Deutschen und seiner Dialekte sowie die Theorie von Sprachwandel und -variation; ein besonderer Schwerpunkt liegt im Bereich des Zusammenhangs von Höflichkeit und Grammatik. Aktuell befasst er sich in seiner Forschung unter anderem auch mit der Verwendung von Dialekten in Comics und in YouTube-Videos.