Ferdinand Schmatz im Gespräch
Funktionsträger, Berufliche? Oder gar Berufene?

Internationales Literaturfestival Sofia 2018: Ferdinand Schmatz
Foto: © Dobrin Kashavelov

Ferdinand Schmatz ist österreichischer Dichter, Schriftsteller und Essayist. Seine Dichtung, literarischen Aktionen und Essays schreiben die Schlüsselkonzeptionen der Wiener Avantgarde fort. Ferdinand Schmatz war einer der Gastautoren des 6. Internationalen Literaturfestivals Sofia, das vom 11. bis zum 16. Dezember, im Rahmen der Sofioter Buchmesse, im Nationalen Kulturpalast (NDK) stattfand. 

Erst einmal herzlich willkommen in der Heimat des Orpheus, Herr Schmatz. Seit Heiner Müller hat diese touristische Floskel wohl volles und authentisches Heimatrecht in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur bekommen. Ihr letztes Buch, das gehörte feuer. orphische skizzen (2016), auf das wir später zurückkommen wollen, beschwört den mythischen Ahnvater der abendländischen Poesie vielgestaltig und mehrstimmig. Sind Sie zum ersten Mal in Bulgarien? Dürfen wir auf bulgarische Nachträge zu Ihren orphischen Skizzen gespannt sein?
 
Ja, ich freue mich, hier zum ersten Mal in Bulgarien zu sein. Mein erster Eindruck von Sofia stimmt mich gut. Ich habe meistens ein erstes, spontanes Gefühl bei einer Ankunft, ob ich mich wo wohl fühlen kann oder nicht. Da war hier so (und hat sich bei meinen kleinen Spaziergängen und Lokalbesuche bestätigt). Die kleinverteilten Geschäfte und Stände vermitteln etwas von Subjektivität, gegen Gleichschaltung, obwohl ich natürlich auch hier die künstlich-ökonomische Präsenz der Großkonzerne und der Austauschbarkeit von Zeitgeist erahne. Und Orpheus? Und Bulgarien Und ich? Bei Yvan Goll ist Orpheus ein Bankbeamter mit Krawatte, bei mir sind es verschiedene Stimmen von historischen Personen, die tatsächlich gelebt haben, „Medien“ gleichsam, deren Stimmen sich ineinander fügen und auseinander streben. Ein Teil des mythischen Orpheus, und es gefällt mir, dass er hier ganz in der Nähe war und noch sein könnte, es ist mehr eine Spiegelfigur oder Projektionsfläche, auf die sich diese Stimmen immer wieder beziehen. Freiwillig und nicht. Ihr Schicksal ist selbstbestimmt, aber unausweichlich vorgegeben auch. Möglich, dass ich Moment von hier für mein nächstes Schreiben aufgreife, als ja, bulgarische Nachträge, möglicherweise.
 
Dichter haben es im Prinzip schwer, im Mediengewitter „bloß“ als Dichter wahrgenommen zu werden. Ihr Werk insistiert dazu auf einen emphatischen Begriff der Dichtung als Lebensform, als gelebte Haltung. Die Kluft, die sich dadurch zwischen bestehenden Wahrnehmungsbedingungen und Ihrem Poesie- und Selbstverständnis unübersehbar auftut, wird gewöhnlich  mit den Attributen „experimenteller Lyriker“ bzw. „Avantgardist“ überbrückt. Was halten Sie von solchen Bezeichnungen?
 
Ja, ein Dichter ist eine Dichterin ist eine Dichterin ist ein Dichter usw. Aber dieser Begriff ist mit Respekt und Vorsicht zu verwenden. Was sind wir schon? Funktionsträger, Berufliche? Oder gar Berufene? Jedenfalls ist es eine Verantwortung, die ich mit diesem Begriff, vor allem mit dem Dichten, verbinde und wenn dieses Dichten Dimensionen berührt, die von der herkömmlichen Erwartung und Festlegung der Dichtung, wie sie oft öffentlich suggerieret wird – quasi der Musenkuss, oder der politisch Engagierte - abweicht, dann ist mehr als Ignorieren angesagt. Ich habe manchmal das Gefühl, diese Dichtung oder diese Art von poetischer Äußerung gibt es gar nicht. Nur im allerengsten Kreis, und auch der wird immer kleiner. Das ist aber kein Jammern meinerseits, dass heute alles schlechter wird, es war auch historisch gesehen immer schwierig für ausgewiesene Dichtung, und die Begriffe des Experimentellen oder des Avantgardistischen sind mehr für die Literaturgeschichte brauchbar als für die jeweils gegenwärtig Schreibenden. Ich kann mich doch nicht selbst als Avantgarde bezeichnen, das hab ich anderes zu tun, als zu schauen, dass ich das sein soll, was der Begriff vorgibt. Diese Aussage könnten wir auch für eine der Richtungen nehmen, in der ich mein Schreiben lenke oder besser: in die mich mein Schreiben (auch) lenkt: zu untersuchen, höchst lustvoll und skeptisch zugleich, was Begriffe vorgeben und was sie mit uns tun, bzw. was wir mit ihnen tun, anrichten - oder eben nicht.
 
Ihr Essay aus den frühen 90er über den Wiener Aktionismus beginnt mit einer Beschreibung der kulturpolitischen Situation in postnazistischem Österreich, die man auch auf die aktuelle Lage in postkommunistischem Bulgarien beziehen könnte. Braucht die (Neo-)Avantgarde zur Initialzündung jeweils eine Durchbrechung der Dialektik von Kahlschlag und „Wiederaufbau“, des immer gleichen Zyklus von Destruktion und Restauration?
 
Der Wiener Aktionismus war für mich mit Personen und nicht mit dem Sammelbegriff verbunden, also mit Nitsch, Brus; Mühl, der später Verbrechen aus seiner Kunst heraus beging, habe ich nie kennengelernt. Und vor allem verbunden mit den künstlerischen Handlungen und Haltungen, mehr aber noch mit jenen der Wiener Gruppe, die doch mehr am Dichterischen zu orten ist. Die waren in dieser Zeit, Ende der Siebzigerjahre, Anfang der Achtzigerjahre, für mich eine Art Insel, auf der nicht nur künstlerisch, sondern lebens-umfassend anders gedacht und getan wurde. Das hat mich fasziniert in dieser konservativen, wohl postnazistischen Zeit nach den fünfziger und sechziger Jahren, in denen der Aktionismus entstanden ist. Der postnazistische Charakter wurde später von der Sozialdemokratie unter Bruno Kreisky in vielen Bereichen überwunden, schlummerte und schlummert aber weiterhin tief in der „österreichischen Seele“. Für mich wäre es besser, es gäbe diesen heute wieder „kulturpolitisch“ besonders nutzbaren Hintergrund nicht und wir könnten uns anderen Fragestellungen in der Dichtung und Kunst zuwenden. Aber zum Beispiel Lew Rubinstein, der russische konzeptuelle Dichter, hat mir erzählt, dass er und seine Dichterfreunde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich kein Feindbild und gleichsam kein Arbeitsgebiet hatten, der Untergrund wurde ihnen sozusagen unter den Füssen weggezogen. Aber künstlerischer Widerstand gegen herrschende Verhältnisse kann auch auf anderen Gebieten aufgefunden und generiert werden.
 
Es ist bereits ein Vierteljahrhundert her, dass Sie die Gruppierungen und emblematischen Figuren der Wiener Avantgarde der frühen 60er als „Wegbereiter“ bestimmt haben. Wohin hat der Weg inzwischen geführt? Ist das „große Erbe der österreichischen Avantgarde“ mittlerweile etwas Erledigtes, also tatsächlich: Aus?
 
Tja, Wegbereiter – ich weiß nicht, ob dieser Begriff ganz ernst zu nehmen ist. Solche Ideale und Heroen als Vorbilder habe ich nicht, aber die Genannten haben in und mit ihren Arbeiten in der Kunst und Gesellschaft Bereiche eröffnet, die wirklich wichtig waren. Ob diese weiter zu begehen wären, glaube ich nicht, aber die Überzeugung und die Energie für das künstlerische Handeln konnten übernommen werden und die unnachgiebige Auffassung, sich nicht mit dem Gegebenen allein zufrieden zu geben. Diese Unzufriedenheit hat sich denn doch in verschiedenen Weisen der Umsetzung bewegt, aber der Kern: etwas stimmt nicht und das zeige auf!, oder: zeige mit Euphorie und Empathie, was stimmt oder noch besser stimmen könnte, auf – das ist geblieben. Ein Bild aus dem Fußball: Es ist Halbzeit. Die Spieler und Spielerinnen (!) sind in der Kabine und werden massiert. Bei Anpfiff geht es weiter. Aber wie sie rauskommen in die zweite Hälfte und wie sie aufgestellt sind, das weiß…
 
Im Geiste der Wiener Avantgarde haben Sie Mitte der 80er Jahre zusammen mit Franz Josef Czernin eine Aktion veranstaltet, die den Leerlauf der Institution Literatur bloßstellte: Zu zweit verfassten Sie absichtsvoll schlechte Gedichte („flache Hunde“), die dem Residenzverlag als Manuskript unter der Autorschaft von Czernin zur Publikation angeboten und „erstaunlich reibungslos“ angenommen wurden. Dreißig Jahre später, im Zeitalter der sozialmedialen Reproduzierbarkeit von Autorschaft und Dichtung, wie wäre die Frage, die Sie damals wirkungsvoll gestellt haben, zu stellen bzw. zu beantworten: Was unterscheidet das gute Gedicht vom schlechten?
 
Das gute Gedicht reflektiert seine eigenen, ästhetische wie sozialen, historischen wie gegenwärtigen Bedingungen. Vor allem, jene sprachlicher Art und Codierungen. Es ist, ja ich traue mich das Wort zu sagen: wahrhaftig, indem es die Wahrheiten der Systeme, die in ihm singen wollen oder die es auf seine Art singen lässt, unterläuft oder zumindest hinterfragt. Indem es deren Bausteine aufnimmt, verwandelt und neu zusammensetzt oder überhaupt andere Wege der Konstruktion versucht. Das muss nicht experimentell oder sprachspielerisch sein, sondern von einer Grundhaltung getragen, die das Materiale, die Form und den Inhalt gleichberechtigt neben-, unter-, über- und miteinander behandelt und dann damit handeln lässt. Das ist aber nicht die einzige Weisheit, die zu dem guten Gedicht führt. Überhaupt ist gut und schlecht für mich nicht mehr so frech und jugendlich selbstbewusst bestimmbar wie möglicherweise damals. Aber es war eine wichtige Aktion, vor allem auch für das eigene Schreiben, für die Bewusstmachung des Vorhandenseins von qualitativen Ebenen des Gedichts an sich. Wobei wir eben geglaubt hatten, bei einer gewissen durchschnittlichen Ebene anzuhalten, wo es noch höhere oder tiefere hätte geben müssen. Ich bin aber wirklich nicht sicher, ob dieses Experiment „Schule“ im positiven Sinn gemacht hat. Was jetzt in den gegenwärtigen „sozialen“ Medien simuliert wird, dient Machtinteressen und der Gleichschaltung der Rezipienten, und nicht zu deren Aufklärung, was wir innerhalb der Dichtung zumindest erhofft hatten, in Form einer Analyse und nicht der Manipulation.
 
Zurück zu Ihrem letzten Buch. Benjamins Diagnose aus dem Kunstwerk-Aufsatz, der zufolge der Star und der Diktator aus der Auslese vor der Medienapparatur als Sieger hervorgehen, scheint sich aufs Neue – diesmal als Farce – zu bewahrheiten. das gehörte feuer stellt drei tragische Stars – den Filmemacher und Dichter Pier Paolo Pasolini, den Opernsänger Joseph Schmidt und Hollywood-Mythos Marilyn Monroe – als Orpheus-Figuren des Scheiterns dar. Wie hört sich das orphische Feuer in der schönen neuen Welt der Gesellschaft des Spektakels? Kann sich in ihr das unhintergehbare Scheitern als Geburtsmal und -stunde der Dichtung tragisch sinnvoll (wieder)ereignen?
 
Das „orphische“ Feuer lodert, da bin ich überzeugt. Ich bin gar nicht sicher, dass es zu einem Flächenbrand auswachsen sollte, denn dann würde ja das „tragisch sinnvolle Scheitern“ des Wiederaufstehens von den eigenen Flammen verhindert werden. Das ist doch selbstzerstörerisch, und wenn schon, dann gibt es lustvollere Wege…