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Goethes Naturphilosophie
Was kann uns Goethe über die Natur sagen?

Goethes Denkmal in Villa Borghese in Rom
Goethes Denkmal in Villa Borghese in Rom | Foto: © Colourbox

Goethes anhaltendes Interesse an der Natur ist wenig bekannt. Generationen von Lesern haben geträumt, sind zusammen mit dem jungen Werther durch die Wälder gewandert. Der Blick auf die Natur des großen Autors beschränkt sich aber nicht nur auf eine poetische Beschreibung, sondern er befasst sich auch mit tiefgreifenden, wissenschaftlichen Forschungen.

Von Ognian Kassabov

Bei einer der letzten Veranstaltungen, die vor der durch COVID-19 ausgelösten Quarantäne im Goethe-Institut in Sofia stattfanden, haben wir mit Olga Nikolova, der Chefredakteurin der Zeitschrift Peat nekogash, über dieses unbekannte Gesicht von Goethe gesprochen. Der Anlass zu diesem Gespräch war das erste, umfassendere Erscheinen von Goethe als Wissenschaftler in bulgarischer Sprache durch einige Übersetzungen, die kürzlich auf den Seiten der Zeitschrift veröffentlicht wurden. Zusammen mit dem vielfältigen Publikum haben wir nicht nur über die naturwissenschaftlichen Schriften des Dichters nachgedacht, sondern auch darüber, was diese Studien uns heute über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Lyrik sagen können.

Ist die bekannte Trennung zwischen den „beiden Kulturen“ – die naturwissenschaftliche und die geisteswissenschaftliche – noch gültig? Es scheint, dass sich in den zwei Jahrhunderten, die uns von Goethes Zeiten trennen, diese Trennung sogar vertieft hat. Heute erwarten wir nicht, dass Künste uns etwas Objektives über die Natur beibringen. Selbst die einzelnen Naturwissenschaften sind so spezialisiert, dass es manchmal den verschiedenen Zweigen und Schulen der gleichen Wissenschaft schwer fällt, miteinander zu kommunizieren. Goethe ist wahrscheinlich die letzte Renaissance-Person der Moderne, der letzte universale Geist, wie Leibniz und Leonardo zuvor.

Was können uns Goethes naturwissenschaftliche Forschungen heute mitteilen? Um dies zu verstehen, müssen wir den Denkkontext skizzieren, in dem sie gestaltet wurden.

Die Natur als ein dynamisches, lebendiges Ganzes

Erstens gehört Goethes Naturanschauung zum damaligen vitalistischen Paradigma, das die Natur als eine allmähliche Entfaltung der Lebenskräfte betrachtet. Die Natur ist keine Gesamtheit von Materie, sondern ein sich selbst gestaltender Prozess. Als nächstes muss man  betonen, dass Goethes Blick auf die Natur holistisch ist. Er strebt an, jedes Phänomen in einem einzigen Ganzen zu erfassen – ohne die Besonderheiten seiner einzelnen Teile zu verdrängen, sondern vielmehr die interne Verbindung zwischen ihnen zu betonen.

Diese beiden Denkrichtungen leiten Goethe in seinen botanischen Forschungen, in denen er eine seiner wichtigsten Theorien formuliert - die der Metamorphose der Pflanzen. Sie ist entscheidend wegen des Durchbruchs in Goethes wissenschaftlichen Vorstellungen, als er während seiner berühmten Italienreisen von der seltsamen Idee der Urpflanze erleuchtet wurde, die sich später zum allgemeineren Konzept des Urphänomens entwickelte.

Ja, die Idee mag uns spekulativ erscheinen, aber sie richtet Goethes Forschungen auf die Morphologie der Organismen und sein Konzept für den Körper als Ganzes, das seine Organe selbst voneinander unabhängig erschafft. Alle Organe der Pflanze wachsen allmählich aus der Metamorphose des Samens, ein Teil davon geht als  Wurzel in den Boden herunter und die anderen wachsen als allmählich expandierender und erblühender Stamm nach oben zum Licht. Die Natur ist ein dynamischer Prozess: dieses Verständnis macht Goethe (zusammen mit Herder) zu einem der Vorläufer der Evolutionstheorie, so zumindest erkannte ihn der vielleicht wichtigste Evolutionsbiologe aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, Ernst Haeckel, der die Grundlagen der Ökologie als Wissenschaft entwickelte.

Die Urpflanze kann als das Urbild aller Pflanzen gedeutet werden, aber auch als Ergebnis des Versuchs, verschiedene Arten durch das Gemeinsame  zwischen ihnen zu verbinden, um über die mögliche Gestalt ihres Vorgängers nachzudenken. Dieser Gedanke leitet Goethe, wenn er – immer noch in Widerspruch zu den wissenschaftlichen Vorurteilen der Epoche – die menschliche Anatomie mit dieser der anderen Säugetiere vergleicht. Genau auf diese Weise macht der Dichter eine wichtige anatomische Entdeckung – die Existenz des Zwischenkieferknochens beim Menschen.

Das Licht und die Dunkelheit der Wissenschaft

Der holistische Blick leitet auch Goethes vielleicht bekannteste naturwissenschaftliche Theorie – die Farbenlehre. Darin konfrontiert er Newtons Verständnis vom Licht, es bestehe aus den verschiedenen Farben des Spektrums. Nach Goethe fehlt hier die innere Einheit,  weshalb er zu erklären versucht, wie die unterschiedlichen Farben aus den unterschiedlichen Verhältnissen von Hell und Dunkel entstehen. Goethe widerspricht auch Newtons Methode: das echte Experiment wird nicht unter künstlichen Bedingungen, sondern draußen bei lebendiger Erfahrung, durchgeführt.

In solchen Aspekten kann Goethes Naturwissenschaft „poetisch“ und dementsprechend nicht ganz so ernst als Wissenschaft erscheinen. Im Gegensatz dazu stehen die Aussagen vieler Wissenschaftler, nicht an letzter Stelle die von Werner Heisenberg, dem Physiker, dem wir das Prinzip der Unbestimmtheit verdanken.

Zu Ehren des 250. Jahrestages von Goethe hält Heisenberg eine Rede, in der er behauptet, dass Goethes Methode viel notwendiger als je zuvor als Korrektiv des immer abstrakteren Weltbildes ist, das die moderne Wissenschaft malt und das sie immer weiter von „der lebendigen Natur“ entfernt. Dies ist bis heute der Fall: es scheint, dass die Wissenschaften begonnen haben, eine Welt zu erklären, die nicht unsere ist. Dies gilt nicht nur für die Quantenmechanik, sondern auch für Bereiche der Medizin und Physiologie bis hin zu Wirtschafts- und Politikwissenschaften.

Es ist beeindruckend, dass Heisenberg von der Wissenschaft nicht nur als eine theoretische Beschäftigung spricht, sondern auch als Beschäftigung, die eine technologische Macht ausübt. Dieses Problem ist im Laufe der Jahrzehnte, die uns von seiner Rede über Goethe trennen,  noch dringlicher geworden. Wenn diese Macht undurchsichtig und unkontrollierbar wird, wird sie auch drohend.

Goethe heute

Nicht an letzter Stelle ist Goethes wissenschaftlicher Blick untrennbar mit einer wichtigen ethischen Dimension verbunden. Wissenschaft ist auch Verantwortung – gegenüber der Natur und gegenüber dem Menschen. Heute arbeitet die Bioethik in diese Richtung, sie ist aber noch weit davon entfernt, in die biotechnologische Forschung und die medizinischen Praktiken, die ihr Gegenstand sind, integriert zu werden. Goethes holistisches Denken ist auch im Kontext der ökologischen Sorgen unserer Zeit relevant. Die Entwicklung der Technologien, mit denen wir die Natur ausnutzen und verändern, kommt häufig der Entwicklung des öffentlichen Bewusstseins zuvor, und dieses Ungleichgewicht kann sich heute vertiefen.

In seinen Gesprächen mit Eckermann betont Goethe, dass es für ihn ohne das Verständnis der Natur nicht möglich gewesen wäre, sein Verständnis des menschlichen Charakters zu erreichen. Ich denke, dass wir einen solchen sorgfältigen, präzisen und einheitlichen Blick mehr brauchen als je zuvor. Das Interesse an Goethe als Wissenschaftler ist daher nicht nur Ausdruck des Respekts vor der Vergangenheit, sondern – und wichtiger – ein Teil unserer Garantie für die Zukunft, die wir aufbauen werden.

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