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Shooting Ghosts
Ein subjektiver Blick auf die aktuelle bulgarische Videokunst

Still aus "Ear Cleaning"  (2018), Veneta Androva
© Veneta Androva

Das Programm „Shooting Ghosts“ ist eine äußerst subjektive und fragmentarische Sicht auf die aktuellen Praktiken im Bereich der bewegten Bilder in der bulgarischen Kunstszene. Der Fokus liegt auf Praktiken, die eine Affinität zur spekulativen Erzählung haben – einer Erzählung, die nicht nur vermittelt, was sich vor dem Auge der Kamera ereignet, sondern auch all jene Geister einfängt, die unsichtbar sind.

Von Kalin Serapionov und Krassimir Terziev

Künstler*innen: Veneta Androva, Neno Belchev, Mitch Brezounek, Marina Genova, Nadezhda Oleg-Lyahova, Kalin Serapionov, Kamen Stoyanov, Samuil Stoyanov, Krassimir Terziev, Dimitar Shopov
 
Kuratoren: Kalin Serapionov, Krassimir Terziev
 
Ich habe irgendwo gelesen, dass laut dem Galeristen Georgi Kolev, das erste bulgarische Videokunstwerk vom Regisseur Evgeni Mihaylov stammt. Er hat eine der großen Demonstrationen vor dem Parlament am 14. Dezember 1989 aufgezeichnet, bei der der damalige Premierminister Petar Mladenov von der Kommunistischen Partei Bulgariens die Worte aussprach: „Am besten ist es, wenn die Panzer kämen“ [1].
 
Ich weiß nicht warum, aber diese Hypothese ist mir lange im Kopf hängen geblieben. Es ist klar, dass diese Aufzeichnung kein Kunstwerk sein kann und nie als solches betrachtet wurde. Aber stellen wir uns vor, ich habe kein kritisches Denken und stimme Georgi Kolev zu. Es ist nie bewiesen worden, dass Petar Mladenov diese Worte tatsächlich ausgesprochen hat. Der Ton des Bandes wird durch Umgebungsgeräusche stark verzerrt, und keine Expertenanalyse konnte die schlechte Qualität ausgleichen. Trotz ihres fragwürdigen Charakters sind die Worte geblieben, um im Laufe der Jahre immer wieder wiederholt zu werden, oft aus dem Kontext gerissen. Das Band ist zu einem Mythos geworden, der die Fantasie anregt, nicht mit dem Wahrscheinlichen, sondern mit dem Möglichen zu arbeiten. Und dies ist vielleicht der notwendige Mythos, der den Beginn der Videokunst in Bulgarien markiert.
 
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Nach Jahrzehnten eines vollständigen Staatsmonopols im Bereich Radio und Fernsehen (zwei Fernsehkanäle und drei Radioprogramme) wurden wir in den 1990er-Jahren von Kabelnetzbetreibern überflutet, die jeglichen Spam mit oder ohne Lizenz ausstrahlten: Pornos zu jeder Tageszeit, Kampfkunstfilme aus den 70ern und Latino-Seifen aus derselben Zeit. Diese chaotische Mischung erreichte unerwartete Höhen mit dem Aufkommen der Telemagie und dem Geistheiler Kashpirovsky [2], der die gesamte Nation live in der Sendung heilte. In dieser Umgebung fand das bewegte Bild einen populären Kontext, aus dem es sich als künstlerisches Medium entwickeln konnte.
 
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Das aktuelle Programm ist eine äußerst subjektive und fragmentarische Sicht auf die aktuellen Praktiken im Bereich des bewegten Bildes in der bulgarischen Kunstszene. Der Fokus liegt auf Praktiken, die eine Affinität zu der spekulativen Erzählung haben – einer Erzählung, die nicht nur vermittelt, was sich vor dem Auge der Kamera ereignet, sondern auch all jene Geister einfängt, die für den Apparat unsichtbar sind [3]. Auf diese Weise versucht sie, die Welt nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu verändern.
 
Kein einziges Werk im Programm beginnt auf einer leeren Seite. Die Werke beruhen auf direkt erlebten Erfahrungen, die ein spezifisches Problem darstellen. Sie bleiben also nah an der Realität, die durch das persönliche Prisma des Künstlers gesehen wird. Die Autoren geben sich aber nicht damit zufrieden, die Elemente, die bereits Teil der Realität der erlebten Situation sind, nur zu kombinieren oder sie nur auf eine Kette berechenbarer Wahrscheinlichkeiten zu reduzieren. Im Gegenteil – ihre Strategie besteht darin, die Situation mit all den unvorhersehbaren Möglichkeiten zu komplizieren, und zwar mit all den Geistern und Monstern, die aus einem bestimmten Blickwinkel Teil des Bildes wären, aber aus einem anderen Blickwinkel unsichtbar wären. Um alle Möglichkeiten zu verwirklichen, die die Realität prägen, greifen die Künstler auf die ungezügelte Vorstellungskraft, auf groteske Übertreibung oder Unberechenbarkeit zurück.
 
Es geht aber nicht um künstlerische Tricks oder um ein Spiel mit Konzepten. Die Werke des Programms basieren auf spezifischen ethischen und politischen Positionen, die die Idee der Welt als Produkt vorgegebener, berechenbarer Wahrscheinlichkeiten ablehnen – eine Idee, die sich als Apotheose des gegenwärtigen Kapitalozäns etabliert hat.
 
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Alle Werke sind reich an Kontexten, die für ein bewusstes Erlebnis und Verständnis unerlässlich sind.
 
In „Reinigung der Ohren“ (2018) verführt Veneta Androva den Zuschauer mithilfe der sogenannten ASMR (Autonomous Sensory Meridian Response)-Technik. Dadurch entstehen Stereoaufnahmen von taktilen Geräuschen wie menschlichem Flüstern oder Berühren, die immer mit einem entspannenden, erotischen Effekt geladen sind. Auch hier wird dieser Effekt erreicht, bis man feststellt, dass die Stimme im Video die aggressivsten, paranoidesten, rassistischsten und homophobsten Aussagen, die im bulgarischen Internet kursieren, flüstert. 
 
In „Mein Herz ist ein Oktopus...“ (2016) verwandelt Neno Belchev das postsozialistische, neoliberale Bulgarien – mit seiner fehlenden künstlerischen Avantgarde aus dem frühen 20. Jahrhundert und den schizophrenen Beziehungen zwischen den verschiedenen Generationen – in eine Szene der eigenen autobiografischen Fiktion.
In „Fiktive Geschichte“ (2014–2015) malt Nadezhda Oleg-Lyahova vernachlässigte Details der postsozialistischen Landschaft Bulgariens – verlassene Dörfer mit ihren verlassenen Häusern voller verlassener Biografien, zusammengestellt in gefundenen Fotoalben – das Ergebnis der Massenemigration in den letzten 30 Jahren.
 
Samuil Stoyanov re-animiert die ausgestopften Tiere aus der Sammlung des Naturkundemuseums mit der Substanz, die die Materie antreibt – dem Licht (Nationales Naturkundemuseum, 2014).
 
Die Vergangenheit trifft auf die Zukunft des Niemandslandes. Kamen Stoyanov hält in „Neuer Istanbuler Traum“ (2017) die Baustelle des neuen Riesenflughafens von Istanbul am Rande der Metropole mit der Kamera fest.
 
In „Die neue Komfortzone“ (2019) stellt Marina Genova ein Modell des Hauses der nahen Zukunft vor und visualisiert es sorgfältig in 3D. Der Fokus liegt auf der künstlichen Intelligenz, wobei die Vision des Architekten Le Corbusier vom Haus als Maschine buchstäblich verwirklicht wird.
 
Aus dieser nahen Zukunft teleportiert uns die spekulative Fantasie mit der Filmprognose von Dimitar Shopov „Plovdiv – Rettungsweste“ (2017) in das ferne 2120. In dieser Dystopie haben die letzten Menschen Zuflucht in der „ewigen“ Stadt Plovdiv gefunden, in der die Maschinen der Vergangenheit angehören. Es gibt jedoch eine, von der sich der Mensch nicht trennen kann, weil sie die Wirtschaft buchstäblich unterstützt – die Kaffeemaschine.
 
Alle diese Zukunftsszenarien sind in „[...] Suspendiert“ (2020) von Krassimir Terzievausgesetzt – einem Horrorfilm, in dem es außer der Kamera und dem Zuschauer keine anderen Akteure gibt. Gedreht während der von Covid-19 auferlegten Isolation, dokumentiert er eine ewige Gegenwart, belastet mit Erwartungen – sowohl gute als auch schlechte. 
 
Apropos Filmgenres – im Film noir gibt es immer eine Femme fatale, die die Welt aus dem Gleichgewicht bringt. Kalin Serapionov verspottet diesen sexistischen Stereotyp in „Eine blonde Frau in rotem Kleid und mit hellem Lippenstift telefoniert und raucht eine Zigarette“ (2016). Die Kamera folgt den Bewegungen und Gesten der Schauspielerin, doch der Zuschauer sieht nicht das für das Publikum bestimmte Bild, sondern die Softwaregrafiken, die dem Kameramann die Abweichung zwischen den realen und der aufgenommenen Farben zeigen. Eine wichtige Erinnerung daran, dass sowohl in den spekulativen Projektionen der Vorstellungskraft als auch in den Zeugnissen der Wahrheit eine Analyse des Apparats erforderlich ist, der das Bild erzeugt hat. In der heutigen Kunstwelt wird das Bild immer seltener vom Künstler allein produziert; viel häufiger ist es ein Ergebnis des Apparats der Kulturindustrie. 
 
Es gibt unzählige Handbücher – verfügbar online oder offline, gratis oder zu einem teuren Preis – die uns lehren, wie wir die immer mehr undurchsichtig werdende Oberfläche dieser komplexen Kunstindustrie durchbrechen können. Mitch Brezouneks „Wie wird man der beste Künstler der Welt“ (2020) ist ein solches Handbuch, das sich auf die Ästhetik der sogenannten B-Movies stützt, in denen Farce und Groteske einen zentralen Platz haben.
 
[1] Am 14. Dezember 1989 fand eine der ersten großen Demonstrationen der Opposition vor dem Parlament zur Abschaffung des politischen Einparteiensystems statt. Laut einem von der Opposition veröffentlichten Video hat der damalige Vorsitzende des Staatsrates der Volksrepublik Bulgarien, Petar Mladenov, bei der Kundgebung den Satz „Am besten ist es, wenn die Panzer kämen“ ausgesprochen. Dies führte zum Sturz der Regierung und markierte den Beginn des Übergangs in Bulgarien. Siehe: Wikipedia https://www.goethe.de/ins/bg/bg/kul/mag/22029749.html
[2] Anatoliy Kashpirovsky ist ein in der UdSSR erfolgreicher Para-Psychotherapeut, der Anfang der neunziger Jahre Bulgarien besuchte und in der Sendung „Vsyaka nedelya“ („Jeden Sonntag“) im bulgarischen Nationalfernsehen die sogenannten „Telebrücken“ für entfernte Massenheilung durchführte.
[3] Mit „Apparat“ ist hier das Konzept gemeint, das alle an der Herstellung des Bildes beteiligten Zusammenhänge umfasst. Siehe: Willem Fluser, Über eine Philosophie der Fotografie, Plovdiv: Horizonte, 2002
 
 

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