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Alexander Hadjiev
Kunst oder Produkt? Das ist hier die Frage.

Ein Junge, um den verschiedene Musikinstrumente und ein Laptop fliegen - im Hintergrund eine Pflanze
© Alexander Hadjiev

In der Rubrik "Kultur in Krisenzeiten" wird Raum geschaffen für die kritische Auseinandersetzung bulgarischer und deutscher Intellektueller und Künstler*innen mit Methoden zur Unterstützung der freien Szene. In diesem Beitrag untersucht Fagottist Alexander Hadjiev, der künstlerische Leiter des Festivals „180 Grad“ die Herausforderungen, vor die die freie Szene in Bulgarien und in Deutschland während der Pandemie gestellt wird, und vergleicht die Geschwüre in der Kulturpolitik beider Länder, die das Coronavirus ans Licht gebracht hat.

Von Alexander Hadjiev

In den letzten 15 Jahren teile ich mein Leben zwischen Deutschland und Bulgarien, und seit 10 Jahren beschäftige ich mich professionell mit Musik, bin auch als Künstler und Kurator für den unabhängigen Kultursektor tätig. Das vergangene Pandemiejahr war eine große Herausforderung für mich und meine Kolleg*innen, weil es plötzlich unmöglich wurde, langfristige Pläne zu machen; man stand unter künstlich erzeugtem Stress, da man von zu Hause aus unbedingt produktiv sein wollte; und es mangelte an sozialem und kulturellem Leben, was wiederum zu einem Mangel an Inspiration führte. Es war ein äußerst schwieriges Jahr für alle, aber es scheint, dass die Aktivisten des unabhängigen Kultursektors zu der am stärksten betroffenen Berufsgruppe gehören, deren zukünftige Existenz bedroht ist.
 
Die Finanzierung von Kunst und Kultur ist ein komplexer Prozess, der für einen Großteil der Gesellschaft nicht nachvollziehbar ist. In den meisten Ländern fällt Kunst in die Kategorie „Freizeitaktivitäten“ und wird daher von einem großen Teil der Bevölkerung als unbedeutend empfunden.

Die nationalen Einschränkungen und die sogenannten Lockdowns haben deutlich gemacht, wie die nationalen Prioritäten ihrer Bedeutung nach rangiert werden, wobei die Kultur in fast allen Ländern auf dem letzten Platz rangiert wurde.

Die Geschichte hat bewiesen, dass Kunst eines der wichtigsten Elemente für die Entwicklung einer Gesellschaft ist, und obwohl sie heute ein Bereich ist, dem wir uns in unserer Freizeit widmen, umgibt uns die Kunst unbewusst überall und ist in jedem Beruf und Fachgebiet zu finden. Leider kam es in den letzten Jahren zunehmend zu Budgetkürzungen im Kultursektor, und es ist die Tendenz zu beobachten, dass die Veranstaltungen weniger abwechslungsreich sind.
Schwarz-weißes Bild. Zwei Frauen und zwei Männer sitzen am Fensterbrett. © Alexander Hadjiev Die Kunst wird als ein Produkt wahrgenommen, das finanzielle Erträge generieren muss, und es werden immer mehr Formate für den Profit entwickelt, die allmählich die Szene erobern. Nicht, dass sie unwichtig wären, sogar im Gegenteil – aber sie haben eine vagere Beziehung zu der primären Funktion der Kunst. Aus diesem Konflikt hat sich in den letzten hundert Jahren die Frage „Schaffen wir Kunst oder ein Produkt?“ immer schärfer herauskristallisiert. Diese Prozesse sind jedoch zu komplex und miteinander verbunden, um diese Frage eindeutig beantworten zu können.
 
Der unabhängige Kultursektor ist derjenige, von dem die Entwicklung der Kunst am meisten abhängt. Dadurch haben die Künstler*innen die Möglichkeit, ihre Ideen „frei“ zu entwickeln, ohne sich an allgemein anerkannte Kriterien, Regeln, Konzepte und Formate zu halten. Die freien Künstler*innen gehen Risiken ein, indem sie ihre Komfortzone verlassen, um herauszufinden, wohin ihr künstlerischer Weg sie führen wird. Natürlich hat die unabhängige Szene ein spezifisches und nicht so großes Publikum, aber sie nimmt einen obligatorischen Platz in unserer Gesellschaft ein als wichtiger Faktor für die Entwicklung der Kunst.
Performance mit Frau und Mann, der im Hintergrund Fagott spielt © Alexander Hadjiev Die Hauptinstrumente zur Finanzierung des unabhängigen Kultursektors in Deutschland und Bulgarien sind öffentliche Zuschüsse und Stiftungen im Bereich der Kunst. Eine Finanzierung durch private Unternehmen, Konzerne und Sponsoren ist praktisch unmöglich, da sie im Gegenzug normalerweise versuchen, den Verkauf und die Werbung für ihre Produkt-, Massen- und Marketingstrategien zu erweitern, was nicht in den unabhängigen Kultursektor passt. In Deutschland gibt es öffentliche Zuschüsse, die relativ gut strukturiert sind. Trotzdem ist das Bewerbungsverfahren zu kompliziert, und die meisten Künstler*innen verfügen nicht über die erforderlichen Kenntnisse und Erfahrungen, um sich für diese Art von Programm zu bewerben. Diese Programme sollten einem strengen Wettbewerb und einer strengen Kommission unterliegen, da die Mittel in der Regel von den Steuerzahlern kommen. Oft werden aber Anforderungen zur Erfüllung der Kriterien gestellt, die einen entfernten Bezug zur Kunst haben. Es wird auch erwartet, dass der gesamte künstlerische Prozess zum Zeitpunkt der Bewerbung beschrieben wird, bevor er überhaupt stattfindet, was häufig dazu führt, dass Kulturschaffende spekulieren und bereits bewährte Arbeitsformate anbieten.

Zu den Anforderungen gehört auch, den Ort für die geplante Veranstaltung im Voraus zu reservieren, was die Investition von Eigenkapital impliziert. Der Künstler und Initiator ist gezwungen, die Funktion des Projektmanagers, der PR und des Fundraisers zu übernehmen – das sind drei separate Berufe. In fast allen Fällen ist eine Eigenfinanzierung erforderlich, die häufig 50% des Gesamtbudgets ausmacht – eine unmögliche Aufgabe für Künstler*innen, die auf der Suche nach Subventionen für Subventionen in einen endlosen Irrkreis geraten. Der Senat von Berlin bietet zum Beispiel einen Zuschuss an, der eine Kofinanzierung für solche Situationen gewährleistet, aber im Moment ist dies der einzige mir bekannte Fall.
 
In Bulgarien ist die Situation noch komplizierter, freiberufliche Künstler*innen haben praktisch keinen Status und ich kenne niemanden, der parallel keinen Nebenjob ausübt, um sich über Wasser halten zu können. Die Zuschüsse haben eine äußerst unpraktische für die Kunst Struktur, die darauf abzielt, vielleicht die Institutionen und den internen Prozess zu erleichtern, aber nicht die Künstler*innen selbst.

In 90% der Fälle kann nur eine Organisation, Stiftung oder ein Unternehmen einen Zuschuss beantragen, und die Zuschüsse für eigenständige Künstler*innen sind äußerst wenig. Die Kategorisierung der Zuschüsse selbst ist ebenfalls nicht funktional – die Zuschüsse für Musik (klassische, zeitgenössische, Volks- und Popmusik) und Tanz (klassischer, Volkstanz, zeitgenössischer) fallen unter eine Kategorie, indem sie um die Genehmigung von rund 17 Projekten kämpfen – Studio-Pop-Album, Geigenwettbewerb, Konzert eines Volksensembles, Ballettaufführung, Stück eines zeitgenössischen Choreografen usw., und die Jury muss das wertvollste Projekt auswählen. Diese verschiedenen Arten von Kunst können nicht miteinander verglichen werden, daher muss eine klarere Trennung zwischen den Kategorien erfolgen, wie dies in den meisten europäischen Ländern der Fall ist. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass viel häufiger Veranstaltungen finanziert werden, die eher einen Produkt- oder Pop-Charakter haben oder konventionell sind. Die innovativen und modernen Projekte werden hauptsächlich oder ausschließlich nur von ausländischen Institutionen finanziert.
Ein Mann spielt Fagott © Alexander Hadjiev Momentan ist ein Trend zur Unterstützung von komplett digitalen Projekten zu beobachten. Einerseits kann man sich dadurch Kopfschmerzen ersparen für den Fall, dass soziale Einschränkungen bestehen, andererseits wird die Gesellschaft durch Live-Ereignisse zumindest für das nächste ein Jahr eingeschränkt, und die Situation kann in einigen Monaten ganz anders sein.

Ich hoffe, dass immer mehr öffentliche und kulturelle Institutionen das Risiko eingehen und Projekte in allen Formen unterstützen.

Ich bin der Meinung, dass in Bulgarien die Zuschüsse so bald wie möglich in klar definierten Kategorien nach Genre und Spezifikation umstrukturiert werden sollten. Es besteht die Notwendigkeit, dass innovative, experimentelle und zeitgenössische Projekte gefördert werden – in den letzten Jahren ist dies eines der Hauptfinanzierungskriterien in den größeren europäischen Ländern. Im Sommer 2020 gelang es Aktivist*innen des unabhängigen Kultursektors, die Struktur der Programme des Kulturministeriums zu ändern. Dies sind jedoch nur die ersten Schritte für eine äußerst wichtige für die Kultur Reform. Es ist notwendig, dass der Staat die Initiatoren von Kunst und Kultur, die man sowieso an den Fingern abzählen kann, stärker unterstützt und sie nicht in einen endlosen Wettbewerb und Kampf um das „letzte Stück Fleisch“ einbezieht. Es wäre auch gut, eine Organisation ähnlich der deutschen „Künstlersozialkasse – KSK“ zu gründen, die freiberuflichen Künstler*innen einen Status verleiht, der dem der Vollzeitbeschäftigten entspricht und welche die Hälfte der Kranken-, Sozial- und Rentenversicherung übernimmt. Außerdem sollte das Steuersystem reformiert werden, es muss vereinfacht und digitalisiert werden sowie das Abrechnungsprozess vereinfacht werden.

COVID-19 und die globale Pandemie haben all diese Probleme in den Vordergrund gerückt und gezeigt, dass es freiberuflichen Künstler*innen schwerfällt, ihren Weg zu finden und einen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Deutschland als eines der EU-Länder mit dem größten Budget für Kultur und Kunst hat auch Schwächen in seiner Struktur aufgedeckt.

Es wurden Beihilfen gewährt, die die freiberuflichen Künstler*innen letztendlich nicht erhalten konnten, weil sie nicht Teil einer Unternehmensstruktur waren. So entstanden eine Desinformation und mangelndes Verständnis der Institutionen und der Regierung gegenüber der freien Szene. Im letzten Jahr habe ich sowohl in Deutschland als auch in Bulgarien oft Bemerkungen gehört wie: „Warum protestieren diese Leute, es ist ihr Problem, dass sie sich nicht mit einem richtigen Job beschäftigen. Die Beihilfen müssen wertvolleren gesellschaftlichen Bereichen gewährt werden“. Ich habe Verständnis für diesen urtümlichen Gedanken, aber vielleicht verstehen sie nicht, dass unsere Entwicklung viel rückständiger wäre, wenn es in der Geschichte keine freiberuflichen Künstler*innen gäbe.

Ein Junge, um den verschiedene Musikinstrumente und ein Laptop fliegen - im Hintergrund eine Pflanze © Alexander Hadjiev Alexander Hadjiev wurde in Sofia geboren. Er studierte Fagott am Musikgymnasium L. Pipkov. 2006 ging er nach Deutschland, wo er Fagott an der Folkwang Universität in Essen studierte und anschließend einen Magisterabschluss in zeitgenössischer und experimenteller Musik an der Akademie des weltweit renommierten Ensemble Modern erzielte. Als Fagottist ist Alexander Mitglied des Ensembles „M.A.M. Manufaktur für aktuelle Musik “und spielt regelmäßig mit dem Ensemble Modern und beteiligt sich an dessen Projekten. 2014 gründete er zusammen mit seinen Kollegen das Festival „180 ° - Labor für innovative Kunst“ in Sofia, das heute eine der innovativsten und beliebtesten Veranstaltungen in Europa ist und sich auf Experimente in der Kunst konzentriert. Alexander arbeitet auch im Bereich der interdisziplinären Performance als Komponist, Performer und Regisseur. 2016 war er Artist in Residence am Bauhaus Dessau. 2021 wird er zusammen mit der Regisseurin Ksenia Ravvina eine Autorenproduktion im Theater Münster präsentieren. In den letzten acht Jahren hat Alexander aktiv im Bereich der kulturellen Bildung gearbeitet und verschiedene Projekte initiiert und daran teilgenommen, die zum Ziel haben, die Kreativität junger Menschen zu fördern und zu entwickeln.

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