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Interview
Gespräch mit Georg Genoux zu 100 Jahre Beuys

Georg Genoux 2022
© Felix Kriegsheim

Von Goethe-Institut Bulgarien

Georg Genoux (geb. 1976 in Hamburg) ist Theater- und Filmregisseur und Kurator. Zwischen 2008 und 2013 war er künstlerischer Leiter des Joseph Beuys Theaters in Moskau. Seit 2017 leitet er das internationale Theater- und Filmprojekt "Agency for Safe Space", das interdisziplinär zu Themen in Osteuropa mit den Schwerpunkten Demokratie und Traumaverarbeitung arbeitet. Er hat über 80 Theater- und Filmprojekte in Russland, der Ukraine, Bulgarien und Deutschland inszeniert und produziert und an vielen internationalen Festivals teilgenommen. Im Jahr 2017 erhielt Genoux den Internationalen Großen Preis der Jury im Wettbewerb ,,Generation 14+" bei den 67. Internationalen Filmfestspielen Berlin (Berlinale) für seinen Film ,,School #3" mit und über Schüler in Kriegsgebieten in der Ostukraine. 


Im März 2022 haben wir anlässlich des 100. Geburtstags von Joseph Beuys ein kurzes Interview mit ihm geführt. Der Grund dafür ist die enge berufliche und persönliche Beziehung von Genoux und seiner Familie zu dem legendären deutschen Künstler. Wie dieser direkte Austausch sein Interesse am Theater als sozialer Skulptur und an der Verarbeitung persönlicher Traumata mit den Mitteln der Theaterkunst beeinflusst hat, erfahren Sie im folgenden Gespräch. 



Sie sind Gründer und waren künstlerischer Leiter des Joseph Beuys Theaters in Moskau. Welche Beweggründe hatten Sie in Bezug auf die Namensgebung?

Meine Eltern sind beide Meisterschüler von Joseph Beuys gewesen und haben 1980 eine eigene Kunstschule gegründet, wobei Joseph Beuys sie unterstützte. Auch viele der Gastlehrer waren ehemalige Schüler von Beuys oder waren seine Weggefährten wie zum Beispiel Rhea Thönges-Stringaris.
Ich bin in diesem Kreis aufgewachsen; habe mich später in meiner Studienzeit damit aber nicht mehr beschäftigt. Dann hatte ich die Möglichkeit, durch mehrere Unterstützer eine eigene Theaterbewegung zu gründen, wo es darum ging, ein Theater zu schaffen, dass eine soziale Skulptur ist und wo Theater und Therapie ganz nah beieinander sind. Zwei Moskauer Künstler - Yasha Kazhdan und Ksenia Peretruchina – sagten, dass, wenn ich über Theater spreche, so viel von Beuys‘ Ideen spreche, warum benenne ich das Theater nicht nach ihm.

Kannten Sie Joseph Beuys persönlich?

Ja, ich war als kleiner Junge sogar in seinen Armen. Leider ist er verstorben, bevor ich mit ihm ein ernsthaftes, erwachsenes Gespräch hätte führen können. Obwohl das Warten vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre, denn er hatte eine sehr humorvolle und tiefe Kommunikationsfähigkeit mit allen Wesen.

Sie vertreten die Beuys`sche Auffassung, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Inwieweit spiegelt sich dieses Motto in Ihrer Arbeit wieder?

Ich möchte zunächst mit dem Missverständnis aufräumen, dass es Beuys darum ging, dass jeder Mensch berufen ist, Van Gogh zu sein. Oder vielleicht doch? Wenn man den erweiterten Kunstbegriff so versteht, dann ist jede menschliche Tätigkeit Kunst. Ich streite immer wieder zwischen den beiden Aussagen „Jeder Mensch ist ein Künstler“ und „Jeder Mensch kann ein Künstler sein“. Ich entscheide mich täglich um, was die richtige Formulierung ist. Ich denke, in seiner Tätigkeit ist jeder Mensch ein Künstler. Wenn wir alle Menschen - vom Busfahrer bis zum Professor - als Künstler in ihrer Arbeit betrachten würden, würde das die ganze Welt revolutionieren und wir würden ganz anders miteinander umgehen. Auch würden die Menschen ihre eigene Arbeit ganz anders sehen und ein anderes Selbstwertgefühl entwickeln.

Das andere ist: Ich kenne keine talentlosen Maler. Ich finde auch die Auswahl anhand der Mappen an den Kunsthochschulen großen Humbug. Denn jeder Mensch kann malen und es gibt so tolle Bilder, die nicht in irgendwelchen Galerien hängen. 

Ähnlich erlebe ich es im Theater. Ich habe eine hohe Achtung vor der Schauspielkunst, auch was die Schauspieler in Bulgarien angeht, mit denen ich zusammenarbeite. Gleichzeitig erlebe ich immer wieder mit „Laien“ bzw. „Künstlern des Alltags“, dass sie tolle Geschichten und Erlebnisse zu erzählen haben und dass man mit diesen so tolle Ausdrucksformen im Theater finden kann.

Insbesondere Menschen, die nicht professionell in Rahmen gezimmert wurden, haben viel Potential. So ist die Bürgerbühnenbewegung - entstanden in Deutschland - ein erfolgreiches Modell. Deren Produktionen werden als gleichwertig angesehen zu Produktionen mit ausgebildeten Schauspielern. Um zurück zu Beuys zu kommen, sind die Bürgerbühnenbewegungen sicher ein Sache, an der Beuys viel Freude gehabt hätte.

Kann man sagen, dass Sie einen sehr weiten Kunstbegriff haben?

Ich würde sagen, dass ich einen sehr normalen Kunstbegriff habe, denn für mich ist es die Normalität. Ich finde es immer etwas belustigend, wenn sich Menschen in der Theater- und Kunstszene sehr stark einbilden, etwas Besonderes auf diesem Planeten zu sein. Andere Menschen meistern doch auch ihr Leben täglich, was nicht weniger wert ist. Ich habe gerade viel Kontakt zu zwei Schuldirektoren im Osten der Ukraine, die nach fast täglichen Bombardierungen versuchen, ihre Schulen wieder aufzubauen und den Schulalltag aufrechtzuerhalten. Das sind beide für mich ganz, ganz große Künstler.

Arbeiten Sie denn außer mit Laiendarsteller*innen auch mit ausgebildeten Schauspieler*innen zusammen?

Beides. In der Ukraine habe ich drei Jahre das Theater „Displaced People“ geleitet und da haben wir ein Projekt, bei dem wir vier kleine Theaterstücke inszeniert haben. Es waren sowohl Profis dabei und auch Binnengeflüchtete, die aus dem Osten der Ukraine geflüchtet waren. Das hat gut geklappt, weil die daran beteiligten Schauspieler*innen unglaublich sensibel waren; fast so wie Tutoren den anderen gegenüber. Das ist ein tolles Modell, was ich sehr, sehr gut finde.

Bei mir ist es oft so, dass ich in einer Produktion dann doch entweder mit Profis oder mit Laien zusammenarbeite, weil es so für mich einfacher ist, ein Stück für die Bühne zu entwickeln. So ein Theaterstück ist ja auch immer sowas wie ein Organismus.

Ich habe immer den Traum, meine ukrainischen Jugendlichen nach Bulgarien zu bringen, sodass die Schauspieler*innen vom Theater Replica als Tutoren im Leben und auf der Bühne mit denen ein Theaterstück entwickeln. Ich habe selten Menschen – wie die Schauspieler*innen vom Theater Replica erlebt -, die so viel Ethik und Mitmenschlichkeit haben. Es ist ein Theater ohne Intrigen. Und ich glaube für Jugendliche, die Krieg erlebt haben, die durch diesen Krieg, der von Erwachsenen geführt wurde, das Vertrauen in die Erwachsenenwelt verloren haben, die sollten auch mal miterleben, dass Erwachsene auch ganz anders sein können. Besonders weil die Schauspieler*innen auch alle Familie und Kinder haben.

Leider ist dieses Vorhaben, Jugendliche aus der Ukraine nach Bulgarien kommen zu lassen, nicht ganz billig.. Bisher habe ich dafür keine finanzielle Unterstützung finden können. Aber ich gebe da nicht auf; denn aus der Erfahrung meines eigenen Bulgarienaufenthaltes weiß ich, wie heilend dieses Land sein kann.

 

Kurz nach diesem Gespräch wurde die Welt Zeuge der aktuellen militärischen Situation in der Ukraine, die uns alle schockierte. Georg Genoux arbeitet seit 2014 in den Kriegsgebieten der Ukraine, gründete dort das Displaced People Theater und leitet seit 2018 mit Unterstützung des Bundesministeriums für auswärtige Angelegenheiten das Projekt Misto to Go in sechs Städten im Donbas. 

Die Initiative, an der auch andere Künstler beteiligt sind, hilft derzeit den Menschen in der Ukraine, sich in den Grenzgebieten in Sicherheit zu bringen, und bietet ihnen koordinierte Unterstützung für ihren Aufenthalt in Deutschland. Wenn Sie möchten, können Sie Misto to Go und ukrainische Flüchtlinge unter dem angegebenen Link selbst unterstützen. Hier finden Sie weitere aktuelle Informationen.

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