Standpunkt
Auf den Spuren der sich verändernden Stadt

Flüchtlinge in Sofia
Flüchtlinge in Sofia | Foto: © Ivan Shishiev

Oft zieht es mich zum Frauenmarkt. Der alte Teil der Stadt reizt mich als Fotograf nicht nur rein visuell, sondern auch wegen der Veränderungen durch die Ereignisse in Europa in den letzten zwei Jahren, die diese Gegend zu einem anderen kulturellen Kosmos umformen. Einem Kosmos, der sich loslöst und auf der Toleranz gegenüber dem Anderen aufbaut.

Etwas Geschichte

In vielen Städten im Westen gibt es Viertel, die Menschen unter dem Schutz ihres humanitären Status in einem gegebenen Staat absondern. Sie geben ihrerseits ihre Weltsicht, ihr kulturelles Bewusstsein und die Vorstellung von einer multikulturellen Stadt, in der sie sich angesiedelt haben, an die Stadt weiter. Ein typisches Beispiel dafür sind die chinesischen Viertel (Chinatown) in New York und San Francisco oder das arabische Viertel in Brüssel. Die Idee dieser Viertel und Straßen beruht weitgehend auf der Erhaltung der nationalen Zugehörigkeit, aber auch auf der Sichtbarmachung der kulturellen Besonderheiten dieser Völker. In Osteuropa jedoch gab es bis zum Fall der Berliner Mauer keine Anzeichen solcher Viertel. Der Grund liegt darin, dass die totalitären Regime der Ostblockländer dies nicht zugelassen haben. Das zieht eine weitere Konsequenz nach sich: es entsteht Angst vor der Loslösung von etwas, was zur Änderung der althergebrachten nationalen Sichtweisen führen könnte. Ende der neunziger Jahre und besonders nach Beginn der massiven Kampfhandlungen im Irak im Jahr 2003 waren tausende Araber gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und Richtung Europa zu ziehen. Zu der Zeit wurde Bulgarien abermals zu einer Pufferzone für die Flüchtlingswellen. Aber die Dramatisierung durch die Medien fehlte, was zu einer ruhigen Ansiedlung vieler hundert Flüchtlinge aus dem Nahen Osten im Stadtgebiet von Sofia und zu einer unproblematischen Eingliederung führte. Mit der Krise in Syrien änderten sich die Dinge jedoch.

Die jetzige Situation 

Arabische Lebensmittel, Stoffe, Teppiche, Wasserpfeifen, Falafel, Nähzubehör, Barbierstuben – all das kann man in der Zar-Simeon-Straße in Sofia sehen. Geht man hier entlang, gerät man nicht in ein anderes Land, sondern kommt in ein transkulturelles Milieu. Das ist eine Straße, die ihre Gestalt nicht verändert, aber die eigene Weltsicht erweitert, indem sie Menschen beherbergt, die sie als ihr Zuhause angenommen haben. Unter den Gewürzen einer wieder zum Leben erwachten Seidenstraße lässt sich noch etwas anderes entdecken: die Flüchtlinge können sich adaptieren und durch das Zeigen ihrer Kultur ein unersetzlicher Teil der Stadt werden.

Wenn die Rede von der Kultur der Flüchtlinge ist, die in unser Land gekommen sind, scheint immer etwas zu fehlen – es wird nicht erwähnt, wie und womit sie die Hauptstadt ergänzen. So unwahrscheinlich es auch für die Vertreter des Postsozialismus und Pseudonationalismus ist, die Kriegsflüchtlinge tragen keine Kalaschnikow unter ihrer Kleidung versteckt, auch keine Bomben. Es sind normale Menschen, die nicht nur sich selbst bringen, sondern auch ihre Kultur. Daran hat die Hauptstadt, seit fast 70 Jahren architektonisch und ideologisch in sich verschlossen, einen echten Bedarf.

Wohin jetzt?

Die Gegend um den Frauenmarkt in der Hauptstadt wird zu Recht bereits jetzt schon „arabisches Viertel“ genannt. Den Flüchtlingen gelingt es, sich schnell an die bulgarische Hauptstadt anzupassen. Sie beginnen die Stadt als ihr Zuhause anzunehmen.
 
Es klingt romantisch, aber Sofia kann sich noch einmal als Stadt der Toleranz beweisen. Noch einmal, weil die Stadt es schon in religiöser Hinsicht gezeigt hat – das Beispiel der Lage der Moschee, der christlichen Kirchen und der Synagoge im Abstand von 250 Metern zueinander ist bezeichnend. Bleibt nur, dass auch ihre Einwohner Gnade gegenüber den Menschen in Not walten lassen.
 
In der George-Washington-Straße gibt es seit einem Jahr einen kleinen Imbiss, der typisch arabisch ist. Ich muss zugeben, dass sie dort fantastische Fladen und Falafel machen. Während ich das Essen geradezu verschlinge, sehe ich, wie eine Gruppe Flüchtlinge kostenlos das alte Haus einer Frau repariert, die ihnen Unterschlupf gewährt hat. Nur einmal habe ich gesehen, dass jemand etwas kostenlos macht in Sofia – das war vor vielen Jahren. Ein Stück weiter fragt mich ein etwa 50-jähriger Mann, ob ich ein Foto von ihm und seinem Kind machen könne, damit er es seinen Freunden in Syrien schickt und sie sehen, dass sie am Leben sind und es ihnen gut geht. Er sagt es mir in gutem Bulgarisch. Das sind Szenen aus dem Leben eines älteren, langsam sich verändernden Viertels, das vor Jahrhunderten ganz anders war und sich auch nach uns weiter verändern wird. Ob wir wollen oder nicht, die Flüchtlinge hinterlassen schon jetzt ihren kulturellen Abdruck. Sie geben der Hauptstadt ebenso wie wir. Sie verändern und unterteilen sie, entwickeln sie durch das Prisma ihrer eigenen Sicht. Ob es zum Guten ist? Ich glaube sehr wohl.
             
Ich gehe zurück zu meiner Wohnung. Zwei Kinder spielen Dame auf der Straße und eine alte, verschleierte Frau beobachtet sie mit einem Lächeln in den Augenwinkeln. Die Kinder sind kleine Syrer, die Frau Bulgarin. Einige Tage später erfahre ich, dass sie ihnen das Spiel beigebracht hat. Die Kultur ist wohl eine zweigleisige Linie zwischen uns und den Flüchtlingen.