Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Rainer Werner Fassbinder
Blut am Hals der Katze

Rainer Werner Fassbinder und die Schauspielerin Hanna Schygulla
Rainer Werner Fassbinder und die Schauspielerin Hanna Schygulla | © ČTK /DPA/A1917 Istvan Bajzat

Es hat über 50 Jahre gedauert, bis ein wildes Stück von Rainer Werner Fassbinder, dem umstrittenen Enfant terrible der deutschen Neuen Welle, zum ersten Mal auf einer tschechischen Bühne aufgeführt wird. Schauen Sie mit uns in die bunte Welt von Fassbinder.
 

Von Tomáš Moravec

Ihr Name ist Phoebe und sie hat viele Freunde – nein, wir befinden uns nicht in jener beliebten amerikanischen Serie, die im tschechischen und deutschen Fernsehen seit den 1990er Jahren ständig wiederholt wird. Wir sind woanders: In Westdeutschland im Jahr 1971, genauer gesagt auf der Bühne des Nürnberger Theaters, wo der damals sechsundzwanzigjährige Rainer Werner Fassbinder (1945—1982) sein neues Stück mit dem eher unorthodoxen Titel Blut am Hals der Katze aufführt. Und wie die zeitgenössische Kritik in der Zeitung Die Zeit feststellt, ist auch das ganze Stück eher unorthodox.

Sehnsucht nach ein wenig Liebe

In dem mittlerweile zum Klassiker gewordenen Fassbinder-Stück kommt Phoebe, der personifizierte Zeitgeist, von einem fremden Stern zu den Menschen. Ihre Aufgabe? Sie wurde auf die Erde geschickt, um eine Reportage über die Demokratie in der menschlichen Gesellschaft zu schreiben. Phoebe ist sehr schön (zumindest sagen das alle über sie), aber sie hat ein Problem: Obwohl sie die menschliche Sprache gelernt hat (Deutsch, wie wir annehmen), versteht sie sie nicht: Sie weiß, was die Leute sagen, aber sie versteht nicht, warum. Inhaltlich ergeben menschliches Gerede, Geplauder und Geschwätz für sie einfach keinen Sinn.

Und das ist kein Wunder. Im ersten Teil des Stücks trifft Phoebe nämlich auf eine ganze bunte Reihe von Menschen, eine Art personifizierte Archetypen, die sich ihr ohne Skrupel offenbaren. Während sie schweigt, erzählen sie ihr bruchstückhaft und scheinbar zusammenhanglos aus ihrem Leben: „Ich bin ein Metzgermeister und ich habe einen Lehrling, der verdient manchmal Schläge, die kann er dann haben. Ich sehne mich so sehr nach ein bisschen Liebe“, sagt z. B. der Metzger. „Ich suche ein Mädchen, das soll mir sein, was meine Mutter mir war. Ich kann das Mädchen nicht finden“, erzählt der Soldat verzweifelt. „Mein Vater hat mich geschlagen. Sehr oft und immer auf den nackten Hintern. Der hatte so Spaß dran“, fügt das Mädchen hinzu. „Ich komme natürlich mit vielen Männern zusammen in meinem Beruf, ich schlaf auch mit vielen, das fällt mir nicht schwer. Warum auch? Aber keiner hat mich bisher so zu streicheln gekonnt, dass es wirklich richtig wär für mich“, gesteht das Model.

Nachdem Phoebe die neun unterschiedlichen Charaktere kennengelernt hat, treten diese in Dialog miteinander: In verschiedenen Konstellationen und aus verschiedenen Blickwinkeln reagieren sie aufeinander, erzählen sich Geschichten. Sie beschweren sich, weinen, fluchen, lieben und hassen sich.

Was schön ist, hört immer am Schnellsten auf

Fassbinder zeigt uns ganz unverblümt, dass Menschen sich in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verhalten, in verschiedenen Lebenssituationen unterschiedliche Ansichten vertreten, und obwohl wir alle unsere ständigen Träume, Sehnsüchte, Wünsche und Ängste haben, sind es im Wesentlichen die Situationen, in die wir hineingeworfen werden, die unser Verhalten prägen. So kann sich zum Beispiel der Liebhaber von einem liebenswürdigen Romeo in einen Gigolo für eine homosexuelle Klientel verwandeln. Das Model kann zur Prostituierten werden. Der Polizist und der Soldat, die in einer Situation beste Freunde sein können, können sich in einer anderen Situation nicht ausstehen. Aus allen Dialogen sammelt die schweigend lauschende Phoebe für ihre „Reportage“ fragmentierte Sätze, Ausrufe und Rufe wie Man gewöhnt sich an alles. Es ist schon richtig, dass es Unterschiede auf der Welt gibt. Deine Mutter ist eine Sau. Alle Leut tun sich weh. Und auch Was schön ist, hört immer am Schnellsten auf, was übrigens ein Lieblingsspruch Fassbinders ist, der auch in seinem berühmteren Stück Die bitteren Tränen der Petra von Kant vorkommt.

Am Ende des Stücks treffen sich alle Figuren auf einer Party. Einer Party, wie man sie sich in den 1970er Jahren auch bei Fassbinder zu Hause vorstellen kann: Menschen, die in Aussehen und Meinung recht bunt sind, halten ihre Whiskeygläser fest umklammert, rauchen und führen Gespräche, die so unausgeglichen sind wie sie selbst. Unter ihnen ist Phoebe, von der niemand weiß, von wem sie eingeladen wurde, die zum ersten Mal ihr Schweigen bricht und inmitten der Debatten ihrer „Freunde“ beginnt, die Sätze und Meinungen, die sie aus den Gesprächen der Anderen gelernt hat, ohne Zusammenhang herauszuschreien: Du darfst mir die Füße lecken. Lieber fett als arm. Ich möchte mit dir schlafen! Phoebes verrückte, hysterische Schreie werden gehört. Oder doch nicht? Auf jeden Fall wird auf sie reagiert: Hier mit Erstaunen, anderswo mit Verständnis, oft aber auch mit Verärgerung und Irritierung.

In Prag wird das Blut zum ersten Mal fließen

Nach der Uraufführung des Stücks 1971 kam die Theaterkritik in Der Zeit zu der Zusammenfassung, dass Fassbinder darauf aus sein mag, die Verkrüppelung von Leuten, das von einer unnachsichtigen Gesellschaft zugefügte Leid, in der Sprache der alltäglichen Opfer sich selbst darstellen zu lassen und eine Welt, die falsches Bewusstsein mit Bedacht produziert und genießt, dafür haftbar zu machen. Es sollte hinzugefügt werden, dass diese Reflexionen nicht gealtert sind, auch mehr als 50 Jahre nach der Nürnberger Premiere von Blut am Hals der Katze.

Sie können sich selbst ein Bild machen: Die jüngste Inszenierung des Stücks wird unter der Regie von Klára Vosecká am Theater DISK in Prag aufgeführt. Der frühe soziale Protest von Rainer Werner Fassbinder, dem umstrittenen Enfant terrible der deutschen Neuen Welle, wird am 16. September 2022, anlässlich des 40. Todestages Fassbinders, zum ersten Mal auf die tschechische Bühne gebracht, wofür dem Theater DISK ein großer Dank gebührt. Doch damit nicht genug: Das Fassbinder-Jubiläum bleibt auch am Goethe-Institut nicht unbemerkt, denn im Rahmen des deutschsprachigen Filmfestivals Das Filmfest widmen wir Fassbinder eine eigene Sektion. Mehr demnächst unter www.dasfilmfest.cz.

Was? Rainer Werner Fassbinder: Blut am Hals der Katze
Wo? Theater Disk, Prag
Wann? Premiere 16. September 2022

Siehe www.divadlodisk.cz/repertoar/krev-na-krku-kocky-124 
Blut am Hals der Katze im Prager Theater DISK Blut am Hals der Katze im Prager Theater DISK | © Divadlo DISK

Mehr zum Thema:

Sie interessieren sich für Rainer Werner Fassbinder und sein Werk? Dann lesen Sie doch auch das tolle Interview mit dem Filmpublizisten Vladimir Hendrich Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.

Top