Übersetzungen
Die Rezeption der deutschsprachigen Belletristik nach 2010 in Tschechien

Deutsche Bücher in tschechischer Übersetzung
Deutsche Bücher in tschechischer Übersetzung | © Tomáš Moravec / Goethe-Institut

Nicht erst seit der tschechischen Lesung von Herta Müller und Josef Winkler. Die Bohemistin, Übersetzerin und Literaturpublizistin Jitka Nešporová zieht Bilanz zur deutschen Literatur in tschechischen Übersetzungen.

Von Jitka Nešporová

Würde sich ein Zahlenliebhaber daran machen, die neuesten tschechischen Übersetzungen aus dem Deutschen zu betrachten, müsste er feststellen, dass in den letzten zehn Jahren alljährlich etwa eintausend Titel deutschsprachiger Herkunft auf den tschechischen Markt kommen. Paperbackausgaben neben Lehrbüchern, Touristenführer neben esoterischen und theologischen Schriften, Bildpublikationen für Kinder und Serien für Teenager neben Ratgebern, wie man mit fast allem zurechtkommt… Ein Wunder, wenn sich der Leser nicht diesem Bücherdschungel verirrt! Schlagen wir uns nun aber einen Weg zu einem spannenden Roman, gut pointierten Erzählungen, fesselnden Sagas oder melancholischen Novellen. 

Bestseller ziehen

Das Leserinteresse manifestiert das Etikett Bestseller, manchmal wird dies jedoch achtlos mit Sensationslüsternheit und Gefälligkeit in Verbindung gebracht. Wie falsch dieses kurzsichtige Denken sein kann, belegen beispielsweise Namen wie Günter Grass, Bernhard Schlink oder Daniel Kehlmann. Plechový bubínek (Die Blechtrommel) haben wir bereits gelesen, doch wer greift nach Příběhy z tmavé komory (Dunkelkammergeschichten, 2011), Lokální umrtvení (örtlich betäubt, 2012), Platejz (Der Butt, 2015) oder nach dem bilanzierenden, posthum herausgegebenen Band von Kurzprosa, Gedichten und Grafiken des Autors mit dem Titel O konečnosti (Vonne Endlichkait, 2017)? Der Werke von Günter Grass nahm sich der Brünner Verlag Atlantis an und legte die Übersetzungen in die Hände des überaus berufenen Germanisten Jiří Stromšík.
 
Bernhard Schlink ist in die gedankliche Literaturkarte der Welt durch seinen Roman Předčítač (Der Vorleser) eingegangen, der auch erfolgreich verfilmt wurde (2008). Der Aufmerksamkeit der tschechischen Leser entgeht auch nicht Schlinks Schaffen, das sich um die neue deutsche Geschichte herumbewegt, was ein Verdienst des Verlags Prostor ist, wo vor kurzem der Roman Víkend (Das Wochenende, 2011) und Erzählungen mit Liebesthematik unter dem Titel Letní lži (Sommerlügen, 2017) erschienen. Außerdem erwähnt werden soll der Verlag Odeon, der (auch als sechsstündiges Audiobuch) den Roman Olga (2019) in der Übersetzung von Jana Zoubková herausgab (ein weiterer Titel ist für das Frühjahr 2021 geplant).
 
Der Autor des beliebten Werkes Vyměřování světa (Die Vermessung der Welt) Daniel Kehlmann erlebte im Jahr 2020 die Herausgabe seines grotesken historischen Romans Tyll beim Verlag Argo in einer Übersetzung von Michael Půček. Dieser spielt in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges und beschreibt unter anderem die Belagerung Brünns durch die Schweden. Das Buch wurde begeistert als bester Roman des Autors gefeiert – möchten Sie sich davon überzeugen? 

Diktatur und Migration als Thema 

Bis zum Jahre 2009, als Herta Müller den Nobelpreis für Literatur erhielt, war das Schaffen dieser Autorin, die 1953 in Rumänien zur Welt kam, in Tschechien fast unbekannt. Das Echo war mustergültig, die ersten ins Tschechische übersetzten kleinen Novellen wurden in einer Stückzahl von mehr als 4000 Exemplaren verkauft. Der Prosawerke „der Chronistin des Alltagslebens in einer Diktatur“ nahm sich in entschlossener Manie Radka Denemarková an und hat bisher fünf Titel übersetzt, die bei Mladá fronta erschienen: Cestovní pas (Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, 2010), Rozhoupaný dech (Atemschaukel, 2010), Srdce bestie (Herztier, 2011), Nížiny (Niederungen, 2014) und Liška lovec (Der Fuchs war damals schon der Jäger, 2019). Für die Übersetzung des wahrscheinlich bekanntesten Romans von Herta Müller Rozhoupaný dech (Atemschaukel, 2010), der von den Lebensschicksalen des deutschen Dichters Oskar Pastior inspiriert ist, erhielt Denemarková den Preis Magnesia Litera 2011.
 
Ergreift eine solch außergewöhnliche Autorenstimme, wie sie Denemarková zweifelsohne ist, das Übersetzerhandwerk und ist die andere Variable in dieser Gleichung ein außergewöhnliches Original, ist ein bemerkenswertes Ergebnis zu erwarten – zwei weitere Beispiele für alle: der von einer katastrophischen, surrealen Atmosphäre durchzogene Text Dny ohňů, dny spálenišť, dny popela des österreichischen Autors mit tschechischen Wurzeln Michael Stavarič (Terminifera, Archa, 2016) und der Roman Moc a vzdor von Ilija Trojanow (Macht und Widerstand, Akropolis, 2018), der die bulgarische Nachkriegsgeschichte thematisiert, die nicht nur einmal an Leichen auch in unseren Kellern erinnert.
Außerdem verbindet die drei deutsch schreibenden Autoren das Thema Migration, das (nicht nur) in der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik in vielen Variationen starken Widerhall findet, wie auch an den zahlreichen Übersetzungen zu sehen ist 2011: Melinda Nadj Abonji Holubi vzlétají (Tauben fliegen auf, Jota, Übers. Lucy Topolská); Saša Stanišić Jak voják opravuje gramofon (Wie der Soldat das Grammofon repariert, Labyrint, Übers. Tomáš Dimter), 2012: Angelika Overath Ten den (Nahe Tage, NLN, Übers. Jitka Nešporová), 2013: Catalin Dorian Florescu Jakob se odhodlá milovat (Jacob beschließt zu lieben, Labyrint, Übers. Jitka Nešporová), 2016: Olga Grjasnowa Rus je ten, kdo miluje břízy (Der Russe ist einer, der Birken liebt, Větrné mlýny, Übers. Tereza Semotamová), Dörte Hansen Starý kraj (Altes Land, Host, Übers. Viktorie Hanišová), 2017: Bodo Kirchhof Příhoda (Widerfahrnis, Akropolis, Übers. Ivana Führmann Vízdalová), 2019: Norbert Gstrein Anglické roky (Die englischen Jahre, Prostor, Übers. Radovan Charvát). 

Preise und Messen in der Zeit der Pandemie 

Vielleicht haben auch die alljährlichen Buchpreise die internationale Aufmerksamkeit bezüglich einiger der genannten Titel auf sich gezogen, also der Deutsche, der Österreichische und der Schweizer Buchpreis, die in den Herbstmonaten anlässlich der Buchmessen verliehen werden. In den vergangenen zehn Jahren gelangte so etwa ein Drittel der ausgezeichneten „besten deutschen Romane“ auf den tschechischen Ladentisch, u. a. auch der „europäische Roman“ bzw. „Unionsroman“ über Brüssel aus der Feder eines schlagkräftigen Essayisten und provokativen Prosadichters, des Österreichers Robert Menasse unter dem Titel Hlavní město (Die Hauptstadt, 2019), der für Kniha Zlín von Petr Dvořáček übersetzt wurde.
 
Während die in epische Breite ausgewalzte Hauptstadt satirisch und mit Übertreibung dem Gedanken der europäischen Integration zustimmt, bleibt der Schweizer Peter Stamm in seinem neusten schmalen, traditionell sprachlich sparsamen Prosawerk zur Doppelgängerschaft Jemná lhostejnost světa (Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt, 2019) weiterhin apolitisch und melancholisch. Übersetzt wurde das Werk für den Verlag Plus von Marta Eich. Diese zwei Autoren hat eine zufällige Erinnerung an den letzten Jahrgang der Buchmesse, die gerade im Jahre 2019 stattfand, als beide tschechische Übersetzungen erschienen und die Autoren anreisten, um diese dem tschechischen Publikum persönlich vorzustellen, in einem Satz zusammengeführt.
 
Im Jahre 2020 wurden die Gäste von den gegen die Pandemie gerichteten Maßnahmen zu Hause gehalten, die Herausgabe der in Vorbereitung befindlichen Übersetzungen verzögerte sich jedoch höchstens, und so mussten wir wenigstens nicht auf Leseerlebnisse verzichten. Ein unmittelbares Leserecho verzeichnete die umfangreiche Familiensaga Osmý život (pro Brilku)Das achte Leben (für Brilka) der deutsch-georgischen Autorin Nino Haratischwili, für den Verlag Host übersetzt von Michaela Škultéty.
 
Die abgesagte Messe machte auch die geplante Reise von Josef Winkler aus Kärnten nach Prag zunichte, der seit 2010 der wahrscheinlich meistübersetzte deutschsprachige Autor in Tschechien ist. In der nicht zu übersehenden Edition mit dem schwarzen Cover hat der Verlag Archa aus Zlín zehn seiner Bücher herausgebracht, ein großes Stück Arbeit leistete die Übersetzerin Magdalena Štulcová, deren Name im Impressum folgender sechs Prosawerke zu finden ist: Až nastane čas (Wenn es soweit ist, 2010), Roppongi: rekviem za otce (Roppongi: Requiem für einen Vater, 2011), Mrtvola slídící ve vlastní rodině (Leichnam, seine Familie belauernd, 2012), Sdělovat skutečnost, jako by nebyla, aneb Zuřivé výbuchy andělů (Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrüche der Engel, 2013), Matka a tužka (Mutter und der Bleistift, 2017), Táhni k čertu, otče, aneb A tak s tebou ve spojení ať vytrvám do skonání (Lass dich heimgeigen, Vater oder Den Tod ins Herz mir schreibe, 2020).       

Große Namen aus Kärnten 

Das literarische Kärnten zu verlassen ist nicht möglich ohne eine Erinnerung an Ingeborg Bachmann, und zwar nicht nur, weil sich im Jahre 2013 ihr Todestag zum vierzigsten Male jährte. Ihr Werk stellt auch eine Faszination für die Übersetzerin Michaela Jacobsenová dar, die ihre Essays, Korrespondenz, Rundfunkstücke, aber auch eine Lyrikauswahl unter dem Titel Čára života (Strich des Lebens, Opus, 2016) herausgegeben, die Übersetzung des einzigen beendeten Romans von Ingeborg Bachmann Malina (Opus, 2017) redigiert und das Romanfragment Případ Franza (Der Fall Franza, Opus, 2019) neu übersetzt hat.
 
Aus Kärnten stammt auch der neueste deutsch schreibende Nobelpreisträger Peter Handke. Im Unterschied beispielsweise zur erwähnten Herta Müller wird in tschechischen Gefilden sein Dramen- und Prosaschaffen bereits seit den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts systematisch rezipiert, im letzten Jahrzehnt erschienen im Verlag Rubato u. a. die Prosawerke Úzkost brankáře při penaltě (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 2013, Übers. Petr Janus) und Velký pád (Der Große Fall, 2013, Übers. Věra Koubová). Erleben wir bald auch die Übersetzung der jüngsten Erzählung des Autors Das zweite Schwert (2020)?

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