Martin Schäuble
Bücherbalance

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© Martin Schäuble

„Was denken die Deutschen über Merkel?“ – „Ist es in Russland nicht viel sicherer als in Deutschland?“ – „Was denken die Deutschen über die vielen Flüchtlinge?“… Auf unseren Veranstaltungen wird im sibirischen Omsk engagiert über deutsche Literatur, über russische Literaten und meine Bücher gesprochen. Doch es sind die politischen Fragen, die überwiegen, wenn Journalisten mich befragen. Wenn der offizielle Teil einer Veranstaltung vorbei ist und ich als Deutscher befragt werde, der nun zu Gast ist. Das lernte ich auch schon an anderen Leseorten.

Meine Antworten sind immer persönlich, ich kann nicht für 80 Millionen Menschen sprechen. Und ich denke: Klar, wir schaffen das. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Ich bin seit Kindergartenzeiten mit anderen Nationalitäten aufgewachsen. Und bekam dadurch ein schönes Gefühl dafür, wie vielseitig diese Welt ist.

Nicht ganz so politisch ist die Frage des neuen Wettbewerbs – oder vielleicht doch? Warum lesen Sie Romane? Ist es die Flucht in andere Welten oder die Hoffnung, die eigene Welt besser zu verstehen? Vielleicht auch der Reiz des Abenteuers, einer Reise, die man nun auf hunderten Seiten antritt? Unter allen Einsendern aus Russland verlosen das Goethe-Institut und der KompasGid Verlag zehn Preise – von Büchern bis zu Artikeln aus dem Goethe-Shop. Antworten bitte bis zum 25. April an natalia.dirkonos@goethe.de

Kurz und knapp lautete die Frage des letzten Wettbewerbs: Wo lesen Sie Ihr Lieblingsbuch in Russland? Und wie heißt das Werk? Die Antworten waren – was mich sehr freute – umso länger. Andrej schrieb: „Für mich ist selbst der Begriff Lieblingsbuch ziemlich komisch. Ich habe bestimmte Vorlieben, was die Genren betrifft, aber auch diese Schwerpunkte sind nicht ein für allemal gesetzt.“ Er versucht, „an allen Orten zu lesen“, doch eine besonders schöne Idee finde ich „zu Hause am Fensterbrett, wenn es draußen regnet und die Tropfen auf die Fensterscheiben fallen.“

Eine andere Teilnehmerin, Marina, liebt die Bücher von Janusz Leon Wiśniewski. „Nachdem ich im Herbst den Roman S@motność w Sieci (Eins@mkeit im Netz) gelesen habe, fiel mir vor einigen Tagen sein Buch 188 dni i nocy (188 Tage und Nächte) in die Hände – und wieder las ich, was er geschrieben hat, ganz selbstvergessen, obwohl ich damals die Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez noch nicht zu Ende gelesen hatte. Vor kurzem hatte ich so eine deutsche Periode meiner Lesebiographie. Erst las ich die Drei Kameraden von Erich Maria Remarque, dann den Brief einer Unbekannten von Stefan Zweig.“

Und der Lieblings-Leseort für die Vielleserin? Züge und S-Bahnen – weil es dann sehr lange Reisen sind. „Ich brauche mich nicht zu beeilen, kann eine bestimmte Episode noch einmal durchlesen, um ihren Sinn besser zu begreifen. Kann mal den Blick vom Buch heben und ihn schweifen lassen. Die Lektüre ist ja zugleich auch eine Reise. Und die rasenden Räder sowie die sich immer verändernde Landschaft machen diese Reise noch spannender.“

Tatiana hinterließ einen Kommentar im russischen Blog und teilte mit, sie lese Bücher nur, wenn sie Urlaub habe. Dann aber in einer recht großen Bandbreite: „Es kann ein Fantasy-Märchen von Terry Pratchett sein oder auch ein Management-Kurs von Philipp Kotler.“

Den Geheimtipp für einen Leseort von Pawel aus Smoljensk traut man sich gar nicht zu veröffentlichen, weil es einfach zu idyllisch klingt, nicht, dass zu viele diesen Ort für sich entdecken und dann keine freie Bank mehr zu finden ist. Der Naturpark des Landguts Kuskowo, dort verbrachte der Leser früher viel Zeit. „Sobald man einen Schritt weg von dem Kiesboden der Alleen machte und auf einen Waldweg trat, um sich immer weiter in den Park zu vertiefen, blieben als Erinnerung an die Menschheit nur die Bänke mit künstlich verzierten Rückenlehnen. Die Tage wurden länger, wurden wärmer – und am Wochenende oder nach der morgendlichen Prüfung fand ich mich auf dem Weg nach Kuskowo mit Büchern hinter meinem Rücken“.

Und die Auswahl der mitgebrachten Werke: „Kurzgeschichten von Pelham Grenville Wodehouse, Romane von James Fenimore Cooper... Vielleicht könnte man einen Teil der Bücher eher zu der Abenteuerliteratur zählen, die man als kleiner Junge gerne verschlingt. Aber möglich ist, dass am Ende des zweiten Semesters tief in der Seele noch ein großer Teil des Kindseins und der kindlichen Abenteuerlust steckt“.

Seit diesen Zeiten hat sich für den Teilnehmer vieles verändert: „Jetzt, fast zehn Jahre später, merke ich, dass das Streben zu Natur und Einsamkeit nie ganz nachgelassen hat. Nur dass bei mir im Rucksack keine gedruckten Bücher mehr zu finden sind, sondern ein E-Book. Im vorigen Sommer, als ich mich auf dem Gelände vor meinem Sommerhaus befand, ein Stück von der Stadt entfernt, kletterte ich auf das Dach der alten Scheune, breitete dort eine Decke aus und machte mein E-Book an. Statt Entdecker und listiger Bürger fand ich in den Büchern, die ich las – überwiegend Sachbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert (…).“

Ein grüner Leseort wird auch von Elisabeth empfohlen: „Mein Lieblingsplatz zum Lesen ist der Botanische Garten der Staatlichen Universität Moskau – der Apothekerschrebergarten. Dieser Park ist einer der schönsten und magischsten Orte der Stadt!“ Ihr Lieblingsbuch: „Das Bildnis des Dorian Gray. Dieses Buch hatte großen Einfluss auf meine Aussichten, deswegen las ich dieses Buch auf Russisch, Englisch und vor kurzem auf Deutsch.“ Die Bibliothek wird als Leseort fast nie genannt. Auch Nadezhda schreibt: „Ich lese lieber zu Hause, als in der Bibliothek, deshalb kaufe ich mir auch so viele Bücher: setze mich in den Sessel, breite die Beine auf einem Hocker aus – und eine Schüssel mit grünen Äpfeln darf auch nicht vergessen werden. Herrlich!“ Ein Lieblingsleseort, der oft genannt wird – aus rein pragmatischen Gründen: die Metro. Meine Übersetzerin Tatiana (sie übersetzte „Die Scanner“ und auch diesen Blog) sagte mir: „Ich wünschte mir, es wäre ein bequemerer Ort, zum Beispiel die von mir heiß geliebte Badewanne, aber an einem bequemeren Ort schlafe ich ein. Im Freien ist es entweder zu heiß oder zu kalt, und vor allem zu laut. Zu Hause bin ich nur zum Schlafen da. In einem Café wäre es auf täglicher Basis zu teuer.“ Und die Buchhandlung? Auch dort machte sie keine guten Erfahrungen, sie wird „oft für eine sich langweilende Hilfskraft gehalten“. Ihr Lieblingsbuch (Zitat: „kenne ich inzwischen schon auswendig“) heißt Der Glöckner von Notre-Dame. An Lektüre fehlt es ihr aus beruflichen Gründen nie, und sie erklärt: „Ich lese für Geld. Ist aber weitaus nicht das schlimmste, was man für Geld machen kann!“ Für mich ist in Moskau auch die Metro der Leseort Nummer eins, die Zeit vergeht schneller mit einem Buch in der Hand. Beim Thema Lieblingsbuch ist es auch für mich nicht so leicht. Gerade bewege ich mich in der freien Lesezeit parallel zwischen T.C. Boyles Grün und Michail Bulgakows Meister und Margarita. Wohl auch ein Balanceakt.