Philosophischer Dialog:
imaginäre Grenzen
und politische Realität

Grenze © Alexey Kubasov

Am 19. Juni diskutierten Vachtang Kebuladse und Vladimir Yermolenko in der iZone über die moderne Interpretation des Begriffs „Grenzen“. Dieser Dialog bildet den Auftakt einer Diskussionsreihe im Rahmen des Projekts, das das Goethe-Institut dem Thema „Die Grenze“ gewidmet hat.

Kebuladse und Yermolenko wissen, wovon sie sprechen: sie sind Philosophen und Dozenten der Philosophie und haben zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und übersetzt. Auch ein Buch über die Besonderheiten der Übersetzung von philosophischen Begriffen entstand unter ihrer maßgeblichen Beteiligung; der Dialog über Begriffe und Strukturen menschlichen Denkens ist ihnen somit nicht fremd.

Thema ihrer heutigen Diskussion war – getreu dem Thema des Projekts – der Begriff der „Grenze“ selbst, sowie auch die Begriffe „Trennlinie“, „Begrenzung“, „Limit“ und weitere scheinbare Synonyme, die jedoch tatsächlich andere semantische Nuancen zum Ausdruck bringen. Der Dialog begann mit einem Vergleich der Bedeutung dieser Wörter im Deutschen und im Französischen sowie mit einer Diskussion über die Bereiche, die von diesen Begriffen nicht abgedeckt werden. Danach wandten sie sich aktuellen Themen von heute zu, wird doch das Thema „Grenzen“ in der Ukraine vor dem Hintergrund der Ereignisse der vergangenen drei Jahre ganz anders wahrgenommen als in zuvor.

Kebuladse und Yermolenko erörterten, dass die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt war vom Fall verschiedener Grenzen. Dies war eine Zeit, in der das Überwinden von Grenzen als Zeichen von Emanzipation betrachtet und ausschließlich positiv bewertet wurde. Heute schwingt das Pendel der Geschichte gewissermaßen wieder in die entgegengesetzte Richtung: Emanzipation bedeutet nunmehr (insbesondere in der Ukraine) Grenzen zu sichern und zu erneuern und sich aus postkolonialistischen Besitzansprüchen zu lösen. Für die Ukraine-Frage stellt sich heute auch die Frage der Grenzen Europas: wo verlaufen sie und stimmen sie mit den faktischen politischen Grenzen der Europäischen Union überein oder nicht? Weiter diskutierten Yermolenko und Kebuladse die EU als Zusammenschluss von Staaten, dessen ursprüngliches Ziel es war, innere Grenzen und Fremdenfeindlichkeit zu überwinden – nicht durch Unterdrückung der Individualität, sondern durch Betonung der Gemeinsamkeiten der darin lebenden Bürger.

Ein weiteres Thema des Gesprächs war die Beobachtung, dass sich parallel zu den politischen Prozessen in der realen Welt in der virtuellen Welt rasant eine ganz andere Gesellschaft entwickelt und zunehmend an Einfluss gewinnt. In dieser Welt existieren faktisch keine Grenzen, und allein der Zugang zum Internet eröffnet den Zugriff auf unzählige, vor allem geistige Güter. Dies wiederum führt zu dem heute brandaktuellen Thema der allgemeinen Beschleunigung und Ereignis- bzw. Informationsverdichtung. Als Gegengewicht dazu entsteht das immer populärer werdende Konzept des „Slow Living“ oder „Hygge“, wie es in Skandinavien heißt und in der Ukraine seit Erscheinen des gleichnamigen Buches in aller Munde ist.

Die Diskussion endete mit der Einschätzung, dass in den Industrienationen heute ein Umdenken weg vom konservativen und hin zu einem modernen Gesellschaftsverständnis zu beobachten ist, in welcher Grenzen zwar gewissermaßen flexibel werden, jedoch weiterhin existieren und relevant sind (oder sogar an Relevanz gewinnen).