Street Art Museum St. Petersburg
„Noch handelt es sich bei Street-Art um Kunst junger und höchst lebendiger Menschen“

"God at work" / © Kreemos
© Kreemos

Vor einem halben Jahr hat das Institut zur Erforschung von Street-Art in Sankt Petersburg seine Arbeit aufgenommen. Seine Begründer Michail Astachow, Polina Josh und Albina Motor erzählen von den Zukunftsplänen, der russischen Street-Art und ihrer Kommerzialisierung.
 

Wie würden Sie die Ziele und Aufgaben Ihrer Arbeit formulieren?
 
АМ: Wir arbeiten in mehreren Richtungen. Zum einen ist das die wissenschaftliche Tätigkeit, zu der auch Bildung und Aufklärung gehört. Wir forschen und theoretisieren, unterstützen aber auch Künstler in ihrem Bestreben, sich zu äußern. Angefangen haben wir damit, dass wir offene Bildungsprogramme, also Diskussionen und runde Tische, organisieren. Die zweite Richtung ist die Unterstützung von Künstlern bei der Organisation von Ausstellungen. Dabei liegt unser Fokus nicht auf Ausstellungen in geschlossenen Räumen, sondern wir sind vielmehr darum bemüht, verschiedene Künstler in Outdoor-Formaten zusammenzubringen. Es handelt sich hier um experimentelle Ausstellungen, Ausstellungen mit Forschungscharakter, zu deren Gestaltung wir Kuratoren heranziehen und bei denen wir selbst meist als Produzenten auftreten. Die dritte Richtung ist die Projektarbeit, die dem Institut das finanzielle Überleben sichert. Hierbei geht es um das Kuratieren und Produzieren von Kunstprogrammen im öffentlichen städtischen Raum.
 
Warum „Institut“?
 
АМ: Wir sind davon ausgegangen, dass wir sowohl Forschungen betreiben als auch praktisch arbeiten wollen. Es gibt ja so etwas wie ein „Projektinstitut“, ein Institut also, das etwas projektiert, aber auch das Institut als Forschungsplattform. Hier ist alles zusammengekommen.
 
Gibt es analoge Einrichtungen zu Ihrem Institut, an denen Sie sich bei der Gründung orientieren konnten?
 
АМ: Nein, das haben wir nicht geprüft. Seriöse Institutionen, die sich mit Street Art beschäftigen, gibt es nur wenige. Beim Google Cultural Institute gibt es beispielswiese Versuche, die Straßenkunst zu archivieren. Vielleicht machen wir irgendwann einmal etwas zusammen.
 
Treffen Sie für sich eine bestimmte Auswahl an Arbeiten und Künstlern, mit den Sie zusammenarbeiten? Wie weiß man, wer ein Künstler ist und wer nicht?
 
АМ: Wichtig ist der Ansatz desjenigen, der da etwas auf der Straße geschaffen hat. Und wenn es eine sinnvolle Aussage gibt, ein Bestreben, die umgebende Realität oder die eigene innere Welt zu reflektieren und dabei das Interesse der Menschen daran zu wecken und auf irgendein Detail des Stadtlebens aufmerksam zu machen, und sei es auch nur der Versuch, dies zu tun, dann kann man das aus meiner Sicht zur Straßenkunst zählen.
 
Street Art reagiert ja immer auf politische und soziale Ereignisse. In Griechenland zum Beispiel ist es mit der Wirtschaftskrise zu einer Explosion der Aktivität von Street-Art-Künstlern gekommen, worüber auch viel in der Presse berichtet wurde. Ist ein solcher Zusammenhang auch in der russischen Street-Art-Kultur zu beobachten? Inwieweit ist die Straßenkunst hier politisch und sozial aktiv?
 
АМ: In Russland wird deutlich unterschieden zwischen Graffiti-Writern, also Vertretern einer Subkultur, die sich mit dem Taggen befassen, und Straßenkünstlern. Graffiti-Writer sind zu 100 Prozent apolitisch. Sie sagen: „Wir sind gegen das System, wollen mit Politik aber nichts zu tun haben.“
МА: Die verputzte Wand eines Hauses mit einem Tag zu versehen, ist eine Ansage an das System, und sie werden das immer machen, unabhängig vom Land, der Zeit oder den Umständen.
АМ: Was die russischen Street-Art-Künstler betrifft, so reflektieren diese meiner Meinung nach wenig das Außen bzw. aufrüttelnde soziale Ereignisse. Es gibt solche Künstler, aber die kann man an den Fingern abzählen. Die Feministin Soja, Tima Radja und Slawa PTRK nutzen Street Art als Instrument, um soziale Aussagen zu treffen. Künstler wie Witja Frukty, tet91 und einige andere arbeiten mit dem, was ihnen im Alltag auf der Straße an Problematischem begegnet und machen die Sozialdienste darauf aufmerksam. Das sind die Künstler, die einem vordergründig auffallen. Die Tradition der russischen Selbstreflexion hat allerdings noch einen größeren Einfluss auf das Erscheinungsbild der russischen Street Art. Die Künstler denken über sich selbst und ihre innere Welt nach und stellen diesen Prozess und das Ergebnis ihrer Überlegungen in den städtischen Raum. Dabei spiegelt das, wovon sie sprechen, sehr häufig auch das wieder, was in den Menschen vorgeht, die sich das ansehen. Anschaulichstes Beispiel ist hier der Moskau Künstler Kirill Kto. Er arbeitet in erster Linie mit Text. Oder Maxim Ima, ein Petersburger Street-Art-Künstler, der bewusst die Zusammenarbeit mit jeglichen Kunstinstitutionen vermeidet. Und bei Pascha 183, vermutlich einem der bekanntesten russischen Street-Art-Künstler, drehte sich das gesamte künstlerische Schaffen ausschließlich um ihn selbst, was aber viele Menschen berührt hat. Die Straßenkünstler wissen einfach, welches Instrument sie benutzen müssen, damit ihr persönliche Erleben in jedem Einzelnen nachhallt.
 
An welchen Projekten arbeiten Sie im Moment?
 
АМ: Eines der großen aktuellen Projekte ist „Balanceakt“ in Zusammenarbeit mit dem Upsala-Zirkus; es wird im Mai gestartet. Wir werden in Höfen des Stadtbezirks Kalininski arbeiten, einem Schlafbezirk in unmittelbarer Nachbarschaft zum Uspala-Zirkus. Die Straßenkünstler aus verschiedenen Ländern werden gemeinsam mit den Bewohnern Kunstinterventionen machen. Junge Leute aus Frankreich, Argentinien, von der Krim sowie jede Menge einheimischer Künstler aus Moskau und Sankt Petersburg werden daran teilnehmen.
 
Das ist doch kein kommerzielles Projekt oder bringen solche Maßnahmen auch was ein?
 
АМ: Für „Balanceact“ bekommen wir die Mittel über Fundraising. Die Künstler herzubringen, dabei sind uns internationale Kulturinstitute behilflich, aber auch kommerzielle Strukturen, wie beispielsweise Farbenhersteller, die uns Materialien zur Verfügung stellen.
 

  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin
  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin
  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin
  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin
  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin
  • Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin Balanceact; © Foto: Wassily Wostrukhin

Einen Generalsponsor gibt es bei Ihnen also nicht?
 
АМ: Nein.
PJ: Wir haben das ja auch gerade deshalb angefangen, um zu sehen, ob eine gesellschaftliche Organisation mit humanitären Zielen rentabel sein kann. Wir alle sind Teilnehmer an diesem Experiment und wie es weitergeht, das wissen wir nicht. Das Projekt ist ja noch nicht einmal ein Jahr alt.
 
Und wie läuft die Zusammenarbeit mit der Präfektur dieses Bezirks?
 
АМ: Wir haben uns gerade gestern mit einigen Amtsleitern von einem dieser Bezirke zur Beratung getroffen. Alle Beamten waren sehr interessiert, hatten andererseits aber natürlich Angst vor möglichen scharfen politischen oder sozialen Aussagen. Wir wollen uns selbstverständlich rückversichern und laden jene Künstler ein, die mit den lokalen Gemeinden zusammenarbeiten, sich dabei aber nicht in die hohe Politik einmischen. Meiner Meinung nach ist die Theorie der kleinen Dinge, also die Arbeit mit den Bewohnern eines Wohnbezirks, wesentlich wichtiger als die Politik.
 
Wie werden heutzutage solche künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum reguliert? Wenn ein Künstler beispielsweise etwas an eine Hauswand aufbringt, inwieweit ist das dann legal?
 
МА: Das fällt unter das 830. Gesetz zu Schutzgebieten: Fassadenwände zu bemalen, ist verboten. Brandmauern werden hier nicht erwähnt, aber diese werden nichtsdestotrotz auch bemalt.
АМ: Wunderbar anschaulich zeigt das die Geschichte mit dem Porträt von Daniil Harms auf der Brandmauer eines der Häuser an der Metrostation „Majakowskaja“ im historischen Zentrum von Petersburg. Der Künstler hatte sich mit der Wohnungsverwaltung geeinigt. Er hatte die Skizzen vorgelegt, alles gemacht und dann gezeichnet. Dann aber hat sich irgendjemand beschwert und gemeint: „Mir gefällt das nicht, ich bin damit nicht einverstanden.“
МА: Und da ist der Staatsapparat angesprungen.
АМ: Da es sich um eine interessante Arbeit handelte, hat sich die Presse eingeschaltet und den Fall öffentlich gemacht. Daraufhin hat der Chefarchitekt von Petersburg gemeint: „Die Arbeit ist möglicherweise gut, aber nicht mit uns abgestimmt worden. Sie wurde nur auf einer unteren Ebene abgestimmt. Ich schlage folgendes Verfahren vor: Das Werk wird überstrichen, dann mit uns die entsprechende Vereinbarung getroffen und erneut aufgetragen.
МА: Und das ist nicht nur ein Problem von Sankt Petersburg oder Russland, sondern der ganzen Welt. In einigen Städten gab es Versuche, die Tätigkeit solcher Künstler irgendwie zu legalisieren. In Rom beispielsweise, das ja noch ein größeres Freilichtmuseum als Sankt Petersburg ist, gibt es ein Gesetz, das „graffiti regolamento“ heißt und die Grenzen des Zulässigen absteckt. Es gibt Länder, in denen praktisch alles, bis auf sehr wenige Ausnahmen, erlaubt ist; dazu gehören die Länder Lateinamerikas. Dort wird alles direkt mit dem Hausbesitzer vereinbart.
 
Wie gehen Sie mit dem bevorstehenden Projekt „Balanceakt“ um, in dessen Verlauf Sie mit Straßenkünstlern in den Schlafbezirken arbeiten wollen?
 
АМ: Wir haben nicht vor, etwas an den Häusern zu machen, sondern schaffen zeitweilige Art-Stories in den Höfen. Aber bis zu einem gewissen Grad wird das auch Partisanenarbeit sein. Das Bezirksamt unterstützt uns, weil es versteht, dass der Schlafbezirk ein langweiliger und trauriger Ort ist, in dem etwas geschehen muss. Was mich wirklich erbost, ist die mangelnde Transparenz der bestehenden Regeln. Wenn alles verboten ist, dann ist das eben so. Aber irgendwelche Arbeiten werden sowieso auftauchen. Es gibt da das Programm „Hundert legale Wände“, aber wo diese Wände sind und welche Regeln dort herrschen, weiß niemand und konkrete Informationen sind nicht zu bekommen.
PJ: Deswegen sprechen wir immer wieder das Thema der Kulturpolitik an.
АМ: Gemeinsam mit verschiedenen Experten erarbeiten wir gegenwärtig einen Vorschlag an die Behörden der Stadt, wie eine zeitgemäße städtische Kulturpolitik aussehen kann. Unser Teil ist die Public Art. Wir studieren die Regeln, nach denen das in verschiedenen Ländern und Städten funktioniert, wie Public Art in Erscheinung treten kann und in welchen Fällen eine vorherige Abstimmung notwendig ist und in welchen nicht. Wir möchten, dass nicht nur von einem System der Begrenzungen die Rede ist, sondern auch davon, wie diese in bestimmten Situationen wegfallen können. Den Beamten fällt das Verbieten leichter, deshalb ist es in diesem Fall so wichtig, dass die Initiative von den Menschen ausgeht, die die Subjekte des kulturellen Lebens einer Stadt sind.
 
Wie ist es um die Straßenkunst in den Regionen bestellt?
 
PJ: In Moskau und Sankt Petersburg ist die Straßenkunst weit weniger vertreten als in den Regionen. Als Hauptzentren der Straßenkunst wären Jekaterinburg und Nishni Nowgorod zu nennen.
МА: Nishni Nowgorod ist in dieser Hinsicht eine sehr besondere Stadt. Dort kann man von einer Schule mit eigenem Stil reden, die weit mehr von der russischen Kunst inspiriert ist als das, was wir in den beiden Hauptstädten sehen. Bei den Künstlern handelt es sich durchweg um recht junge Menschen: das Team „Toy“, Andrej Olenjew, Andrej Drushajew, Nikita Nomerz. Die Arbeiten von Nikita sind übrigens vor einigen Jahren auch international sehr populär geworden und in den Top-100-Ranglisten der besten Straßenkunstarbeiten gelandet.
 
In Weiterführung des Themas Ranglisten möchte ich die Frage stellen, inwieweit die Straßenkunst auf dem Kunstmarkt gehandelt wird. Wie gern lassen sich die Straßenkünstler auf eine Zusammenarbeit mit den Institutionen ein oder bevorzugen es doch im Untergrund zu bleiben?

МА: Auf viele zeitgenössische russische Künstler sind schon Galerien, wie die RuArts usw. aufmerksam geworden. Und der Wert von Arbeiten russischer Straßenkünstler wächst von Jahr zu Jahr um ein Vielfaches. Dabei sind natürlich Leinwände gemeint, da man eine Wand nicht kaufen kann.
АМ: Viele Straßenkünstler haben irgendeine andere Arbeit, mit der sie ihr Geld verdienen. Einen Teil ihres Einkommens und ihrer Zeit verwenden sie für Farbe und dafür, um sich irgendwo in der Stadt zu künstlerisch zu verwirklichen. Es gibt sehr viele solcher Leute. Und wenn ein Künstler dann irgendwann mehr als die Straße braucht und seine Tätigkeit zum Beruf wird, geht er von selbst in Richtung „Kommerzialisierung“, da er darin eine Möglichkeit beruflichen Wachstums sieht. Hier gibt es zwei Hauptwege: Arbeiten im öffentlichen Raum anzufertigen, also Auftragsarbeiten auszuführen, oder aber er bzw. sie erweitert seine bzw. ihre Bandbreite und beginnt Galeriearbeiten zu schaffen. Deshalb wechselt eine große Zahl von Künstlern auf diese Ebene über.
МА: Wenn man vom Kunstmarkt spricht, dann muss man auch auf die kleine Gruppe von Sammlern verweisen, die sich bewusst für Arbeiten von Straßenkünstlern oder russische Straßenkunst zu interessieren beginnen. Bislang sind das nicht viele; man kann sie an einer Hand abzählen, aber die kommerzielle Dynamik zeigt, dass dieser Kreis größer werden wird. Natürlich wird er einige Künstler verderben. Aber dieser Prozess ist ziemlich objektiv. Noch handelt es sich bei der Street Art um Kunst junger und höchst lebendiger Menschen, deshalb liegt die totale Kommerzialisierung noch in der Zukunft.