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Worlds of Homelessness
Wohngerechtigkeit in Städten mit ungleichen Lebensbedingungen

A cardboard protest sign stating "NOT FOR SALE Our Community Our Story Our Legacy" with an added handwritten line "No Gentrifiers allowed"
© Ananya Roy

Wohnungsnot ist kein neues Phänomen. In einer Reihe von Artikeln, die 1872 als Schrift mit dem Titel „Zur Wohnungsfrage“ veröffentlicht wurden, stellte Friedrich Engels fest, dass Strukturen der Wohnungsnot und Verdrängungsprozesse in den Städten unumgängliche Begleiterscheinungen des Kapitalismus seien. 

Engels frappierende Analyse, die heute ebenso relevant ist, wie sie für die Industriestadt Ende des 19. Jahrhunderts war, fußt auf seinen eigenen Erfahrungen mit sozialen Unterschieden. Engels war der Sohn eines wohlhabenden deutschen Fabrikanten und wurde nach Manchester entsandt, um die dortige Baumwollindustrie zu studieren. Seine Begegnung mit Ungleichheit und Ausbeutung an diesem Knotenpunkt des Kolonialkapitalismus resultierte in einer überragenden Betrachtung des Wohnungswesens einschließlich der verschiedenen bürgerlichen Reformen, die der Armut und den Elendsvierteln Abhilfe schaffen sollten.
  
Wohnungsnot ist kein neues Phänomen. In einer Reihe von Artikeln, die 1872 als Schrift mit dem Titel „Zur Wohnungsfrage“ veröffentlicht wurden, stellte Friedrich Engels fest, dass Strukturen der Wohnungsnot und Verdrängungsprozesse in den Städten unumgängliche Begleiterscheinungen des Kapitalismus seien. Engels frappierende Analyse, die heute ebenso relevant ist, wie sie für die Industriestadt Ende des 19. Jahrhunderts war, fußt auf seinen eigenen Erfahrungen mit sozialen Unterschieden. Engels war der Sohn eines wohlhabenden deutschen Fabrikanten und wurde nach Manchester entsandt, um die dortige Baumwollindustrie zu studieren. Seine Begegnung mit Ungleichheit und Ausbeutung an diesem Knotenpunkt des Kolonialkapitalismus resultierte in einer überragenden Betrachtung des Wohnungswesens einschließlich der verschiedenen bürgerlichen Reformen, die der Armut und den Elendsvierteln Abhilfe schaffen sollten.

Wie gestaltet sich die Wohnungsfrage für den Anfang des 21. Jahrhunderts?

Engels Artikel führen uns zu der Frage, wie sich die Wohnungsfrage für den Anfang des 21. Jahrhunderts gestaltet. Auf Grundlage meiner jahrzehntelangen Forschung in Städten des Globalen Südens und Nordens möchte ich zwei Prozesse hervorheben, die von zentraler Bedeutung für die heutige Wohnungsfrage sind. Der erste ist die als Finanzialisierung bezeichnete Umwandlung von Land und Wohnraum in Kapitalanlagen. Wohnraum galt lange Zeit als Gebrauchsgut. Doch die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts sind von einem Strukturwandel gekennzeichnet, innerhalb dessen große Finanzinvestoren, von denen Blackstone wahrscheinlich der bekannteste ist, Wohnraum zu Spekulationsobjekten für den Finanzmarkt machen wollten. Die Große Rezension in den USA zwischen 2007 und 2009 zeigte die verheerenden Auswirkungen der maßlosen Überschuldung von Wohneigentum auf, die ganze Viertel und Städte in die Zwangsvollstreckung trieb. Doch diese von der oligopolistischen Macht der globalen Finanzwirtschaft und den deregulierenden Impulsen der Regierungen getriebene Finanzialisierung greift weiter um sich.
 
Der zweite Prozess ist die Kriminalisierung der Armut. In Städten weltweit erfährt die einkommensschwache Stadtbevölkerung Stigmatisierung und Exklusion, oft mithilfe von Rechtsgrundlagen und Rechtsbefugnissen, die von den Kommunalverwaltungen angewendet werden. Als Eindringlinge verunglimpft, wirft man Menschen ohne Obdach und in informellen Siedlungen vor, die räumliche und soziale Ordnung zu verletzen. Diese Formen der Kriminalisierung sind derzeit besonders stark in den US-amerikanischen Städten ausgeprägt. Dabei kommt Los Angeles die zweifelhafte Ehre zu, einer herzlosen und harten Politik der Vertreibung den Weg zu bereiten, die Menschen am Rand des Besitzbürgertums ihrer Rechte beraubt. Tatsächlich haben in Los Angeles eine Reihe von städtischen Verordnungen die Obdachlosigkeit quasi mit dem sozialen Tod gleichgesetzt und den Betroffenen den verfassungsrechtlichen Schutz und die Bürgerrechte verwehrt, in deren Genuss Menschen mit festem Wohnsitz kommen. 
 
Beide Prozesse – die Finanzialisierung von Land und Wohnraum und die Kriminalisierung der Armut – müssen in der gegenwärtigen Geschichte des Racial Capitalism (rassistischer Kapitalismus) verortet werden. Engels Analyse der Wohnungsfrage verschweigt trotz all ihres Scharfsinns einen Aspekt völlig: nämlich, dass Manchester nicht nur Schauplatz kapitalistischer Ausbeutung, sondern auch ein Knotenpunkt des Kolonialkapitalismus war, der die englische Industriestadt mit dem ausgeplünderten Hinterland des Britischen Weltreiches verband. Die eine Form der Ausbeutung war untrennbar verbunden mit einer weiteren Form der Enteignung. In vielen Städten weltweit und besonders in den USA zieht sich heute ein roter Faden von den Konturen der finanziellen Ausbeutung zu Rassen- und Ethnientrennung. In vielen Städten weltweit und besonders in den USA ist die Strafjustiz heute von rassistischen Ressentiments geprägt und kann als Erbe der Sklaverei und der Kolonialherrschaft verstanden werden.
 
Wenn diese Prozesse die aktuelle Wohnungsfrage begründen, was ist dann Wohngerechtigkeit in Städten mit ungleichen Lebensbedingungen? Genau diese Frage bewegt ein neues globales Forschungsnetzwerk, das seinen Sitz am Institute on Inequality and Democracy an der University of California, Los Angeles hat, dessen Leiterin ich bin. Wir betrachten die derzeitige historische Sachlage nicht nur als einen Moment substantieller Wohnungsnot, sondern auch als Moment, in dem sich Bewegungen zur Schaffung von Wohngerechtigkeit außergewöhnlich stark verbreiten. Diese oft über Ländergrenzen hinweg verbundenen Bewegungen stehen an vorderster Front bei der Bekämpfung der Probleme im städtischen Raum. Sie setzen sich für Mietpreisbindung und sozialen Wohnungsbau ein. Sie hinterfragen die Rechtlosigkeit der Obdachlosen. Und vor allem entwickeln sie neue Bedeutungen von Eigentum und Miete, Persönlichkeit und Mietverhältnis. Mit ebenso verblüffendem analytischem Können, wie Engels es einst bewies, decken sie die Strukturen der Vermögensbildung auf, deren unvermeidliche Begleiterscheinung die Wohnungsnot ist. Diese Bewegungen von Los Angeles bis Berlin, von Barcelona bis Durban und von Rio de Janeiro bis New York lehnen bürgerliche Reformen ab und mobilisieren Instrumente der Enteignung, um die soziale Funktion von Eigentum und die Dekommodifizierung der Wohnraumversorgung durchzusetzen. Damit sind sie unweigerlich Verbündete all jener, die sich für Rassengleichheit und Klimagerechtigkeit einsetzen. Zusammen könnten sie sehr wohl in der Lage sein, die Wohnungsfrage unserer Zeit neu zu definieren.
 
 

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