Johannes Ebert im Juli/August 2013
Differenz als Chance

In den vergangen Jahren ist viel über die Wechselwirkung von Kultur und Krisen reflektiert worden. Es wäre blauäugig, die Wirksamkeit von Kulturarbeit bei der Lösung akuter kriegerischer Auseinandersetzungen zu überschatzen. Menschen mit Maschinengewehren tauschen diese nicht gegen Bücher. Bei der Bearbeitung tief sitzender und langfristig wirkender gesellschaftlicher Konflikte, die in Gewalt münden können, spielt Kultur jedoch eine wichtige Rolle.

Spannungen innerhalb von Gesellschaften haben oft Ursachen, die mehrere Generationen zurückliegen. Häufig werden Konflikte auf der kulturellen Ebene rezipiert und ausgetragen – selbst wenn ihre Wurzeln woanders liegen. Ihre Akteure bedienen sich der Mechanismen der gegenseitigen Ausgrenzung. Gesellschaftliche Konflikte sind vielschichtig und zu komplex, um durch politische oder wirtschaftliche Interventionen allein gelöst zu werden. Vielmehr müssen multidimensionale Ansätze und ganz unterschiedliche Kommunikationskanäle geöffnet werden, um gesellschaftliche Konflikte bewusst zu machen, zu bearbeiten und damit einem Abgleiten in Zonen der Gewalt vorzubeugen. Genau hier kommen kulturelle Aktivitäten und langfristiger, nachhaltiger Kulturaustausch auf Augenhöhe, wie ihn das Goethe-Institut anstrebt, ins Spiel.

Im deutsch-russischen Comic-Projekt „RESPEKT“ erstellten 26 Künstler aus neun europäischen Ländern Comics gegen Fremdenfeindlichkeit. In mehr als 50 Städten Russlands wurden Ausstellungen organisiert, insgesamt mehr als 200.000 Comics verteilt und über 400 Workshops mit Jugendlichen durchgeführt. Comic-Kunst legt hier einen neuen Kommunikationskanal gerade zu jungen Menschen. Comic-Kunst spricht ihre Sprache und schafft Bewusstsein für ein gesellschaftliches Problem mit hoher politischer Sprengkraft. In der gemeinsamen Produktion „Open for Everything“ von Constanza Macras und dem Goethe-Institut Prag erarbeitete die Berliner Choreographin mit jungen Roma aus Ungarn, Tschechien und der Slowakei und ihrer Compagnie ein Tanztheaterstück, in dem die „Roma“ im Mittelpunkt stehen: Tanz als Möglichkeit, Erfahrungen und auch traumatischen Erlebnissen Ausdruck zu geben und andererseits das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Frage des Umgangs mit „Roma“ jenseits von Bedrohungsszenarien oder Verfolgtenpathos zu stärken. Die internationale Konferenz „ÜBER(W)UNDEN“ der Goethe-Institute in Afrika stellte die Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Konflikt- und Vergangenheitsbearbeitung in den Mittelpunkt und gab Künstlern und Kulturaktivisten das Wort, deren künstlerische Auseinandersetzung von traumatischen Erlebnissen oder tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst wurde.

Das Goethe-Institut hat in seiner über 60-jahrigen Geschichte mit den ihm eigenen künstlerischen und diskursiven Zugängen, für die diese Projekte beispielhaft stehen, auf die Umbrüche in der Welt reagiert. Historische Wendepunkte waren zum Beispiel die Veränderungen in Osteuropa nach dem Fall der Berliner Mauer, als zahlreiche Goethe-Institute in Osteuropa und Zentralasien gegründet wurden, Aktivitäten im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa nach dem Vertrag von Dayton oder die Intensivierung des Dialogs mit der islamischen Welt in der Folge des 11. Septembers.

Im Fokus der letzten Jahre standen unter anderem Länder wie Afghanistan und die arabische Welt, die von tiefgreifenden politischen Änderungen und Umwälzungen betroffen sind. Dort organisiert das Goethe-Institut Kulturprojekte, welche die Transformation voranbringen, den Dialog fördern und die Zivilgesellschaft stärken sollen, auch mit dem Ziel, die Anfälligkeit für gesellschaftliche Konflikte zu verringern. Die „Tahrir-Lounge“ am Goethe-Institut Kairo schafft zum Beispiel ein freies Diskussions- und Bildungsforum für junge Aktivisten des arabischen Frühlings, das „Cultural Innovators Network“ vernetzt progressive Kulturakteure im Süden und Norden des Mittelmeeres, die Zukunftsprojekte für ihre Gesellschaften entwickeln. Von besonderer Bedeutung sind die Fortbildungsprogramme für Kulturmanager, Kulturschaffende, Verleger und andere Mitarbeiter von Kultur- und Bildungseinrichtungen, die dazu beitragen, dass die kulturellen Infrastrukturen in Umbruchsländern ihrer wesentlichen Funktion nachkommen: den Zugang zu Kultur, Wissen und Bildung für die Menschen zu öffnen.

Alle diese Beispiele zeigen, wie die Kulturarbeit der Goethe-Institute, die vor Ort eng mit den Kultur- und Bildungsszenen vernetzt sind, angelegt ist und langfristig wirkt. Die Programme der Goethe-Institute schaffen künstlerische Freiraume, in denen sich Vertreter unterschiedlicher Gruppen miteinander auseinandersetzen können. Sie ermöglichen es, durch Kunstprojekte konfliktbelasteten Erfahrungen Ausdruck zu verleihen und fordern Integration und gegenseitige Akzeptanz in heterogenen Gesellschaften. Die Goethe-Institute sind und schaffen öffentliche Foren und Kommunikationsräume für freie Meinungsäußerung und ermöglichen den Dialog durch Begegnungs- und Austauschprogramme. Darüber hinaus leisten sie Beitrage zum Kompetenzaufbau im Kulturbereich und zum Wiederaufbau kultureller Infrastrukturen.

Kulturelle Prozesse wirken, wenn sie langfristig angelegt, offen gestaltet sind und wenn sie Differenz als Chance zu einer konstruktiven Auseinandersetzung auf Augenhöhe sehen. Kultur wirkt, wenn ihr Freiraum und Unabhängigkeit zugestanden wird. Dann eröffnen sich neue, unerwartete und vielfältige Möglichkeiten, gesellschaftlichen Herausforderungen zu begegnen, die auf anderem Wege unzugänglich scheinen.