7. Februar 2018
60 Jahre Goethe-Institut Mailand

Begrüßung durch Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts

Anrede,

60 Jahre Goethe-Institut Mailand sind eine wechselvolle und vielfältige Geschichte, mit engen Beziehungen zu allen wichtigen Kulturinstitutionen, Kulturakteuren und Künstlern. Diese intensiven Beziehungen zu den Partnern zeichnet das Institut besonders aus! Für mich ist das Goethe-Institut eine Konstante in den Beziehungen. Das ist etwas Besonderes im Verhältnis zu den Partnerinstitutionen, denn der häufige politische Wechsel in Mailand und den zugeordneten Regionen Lombardei, Venetien, Südtirol/Alto Adige, Trentino und der Emilia Romagna zog in der Regel auch einen Wechsel bei den jeweiligen kulturellen Ansprechpartnern nach sich. Die Unabhängigkeit des Goethe-Instituts verbürgte eine sichtbare Glaubwürdigkeit. An sie konnte immer wieder angeknüpft werden. Diese Kontinuität erlaubte einen Kulturaustausch auf höchstem Niveau, unterstützt durch ein kreatives und fantasievolles Team, das begeistern konnte.

Es war eine fruchtbare Zeit in den deutsch-italienischen Beziehungen, die gerade meine Generation geprägt haben. Die italienischen Filme wurden zu einem Teil meiner eigenen Identität: Fellini, Visconti, Antonioni, Schauspieler wie Mastroianni oder de Sica. Dann die Bücher von Alberto Moravia, Primo Levi, Guiseppe Tomasi di Lampedusa, Umberto Eco, usw.

Aber das Interesse galt auch umgekehrt. Nach Mailand die großen Namen der Kunst, der Literatur und des Geistesleben aus Deutschland einzuladen, war kein Problem. Mailand war ein Fokus für Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Die Moderne hatte hier immer ihren Platz. Sie ist heute noch immer die dynamischste Stadt Italiens, offen für den Austausch und den Dialog. Mailand als die Stadt der Verlage und der Medien hat einen entscheidenden Anteil an der Verbreitung der deutschen Literatur. Ich nenne nur Feltrinelli und Adelphi, die unauflösbar mit Namen wie Rainer Maria Rilke, Hermann Hesse, Ingeborg Bachmann oder Walter Benjamin verknüpft sind. Die Bedeutung der Verlagswelt hat  natürlich einen starken Bezug auf die Arbeit des Goethe-Instituts Mailand gehabt. Alle Klassiker hatten hier im Goethe-Institut ihren Auftritt, seit den 90er Jahren auch die zeitgenössischen Autoren. Verdienstvoll ist die hervorragende Übersetzungsarbeit für ganz Italien.

Was die Programmarbeit des Goethe-Instituts in Mailand auszeichnet, ist die produktive Vernetzung der Mailänder Szene mit der deutschen seit den 70er Jahren. Daraus sind persönliche Verbindungen entstanden und ein gegenseitiges Interesse, das auch heute noch trägt. Ich kenne aus meiner eigenen Erfahrung als Redner bei Veranstaltungen in Italien, dass ich häufig nur als Stichwortgeber diente und dann setzten die anderen zum Monolog an, ohne sich wirklich um Antworten zu scheren. Nicht in Mailand! Hier setzt man sich auseinander, hier gibt es die Debatten.

Und diese Haltung ist auch der entscheidende Ansatz, über die reine Kulturpräsentation hinaus zu einem bilateralen Diskurs zu finden, den wir inzwischen bitter nötig haben. Das gegenseitige Interesse hat inzwischen aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen deutlich nachgelassen und hat sich von der Kultur auf andere Gebiete verlagert: Klischee-Vorstellungen werden wieder belebt, die Zeit der Lira wird in manchen Teilen Italiens wieder verklärt, die wachsende Entpolitisierung führt zur Radikalisierung oder zumindest zu populistischen Entwicklungen. Wir können nur gewinnen, wenn wir der Kultur und dem Dialog eine Chance geben, wenn wir zu kultureller Kooperation und Koproduktion kommen. Kultur kann helfen, Alternativen zu formulieren, Prozesse anzustoßen und einfach überraschend zu sein. Mailand kann hier eine beispielgebende Rolle spielen.

Große Ausstrahlung hatte in diesem Zusammenhang die Beteiligung bei den beiden letzten Architekturbiennalen, bei der das Goethe-Institut Mailand das gesamte Rahmenprogramm bestritt und es auch in diesem Jahr wieder tun wird, aber auch Projekte mit der Scala und dem Piccolo, die zu den wichtigsten Häusern Europas gehören.

Kultur benötigt auch Wissen und Bildung. Ich habe deshalb sehr die in den letzten Jahren gestaltete Zusammenarbeit mit den Bildungsinstitutionen begrüßt, etwa mit der Theaterschule Paolo Grassi, durch die eine intensive Verbindung zum zeitgenössischen Theater in Deutschland hergestellt wurde oder zu San Fedele mit Schwerpunkt bei der Ausbildung junger italienischer Komponisten oder beim Germanistikstudiengang der Universität durch Kulturveranstaltungen aus Deutschland. Das sind wirkungsvolle Ansätze für lebendige Beziehungen.

Mindestens ebenso wichtig für die deutsch-italienischen Kulturbeziehungen ist die Spracharbeit. Mailand hat die meisten Kursteilnehmer in Italien und führt die meisten Prüfungen durch. So entstehen enge Bindungen zwischen Deutschland und Italien. Ich freue mich, dass die Leiterin des Deutschlehrerverbandes, Elena Agazzi, heute mit uns feiert. Große EU-Projekte haben zusätzlich mit englischen und italienischen Partnern geholfen, die Reichweite zu erhöhen.

Vor genau einem Jahr konnte ein wichtiger Entwicklungsschritt abgeschlossen werden, der ein neuartiges Bibliothekskonzept durch eine aufwändige Baumaßnahme ermöglichte, die für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei laufendem Betrieb anstrengend war, doch zum Herzstück des Goethe-Instituts wurde: die Verwandlung vom Ort der Medien zum Ort der Nutzer, eine „schrankenfreie Öffnung“, ein vielfach nutzbarer Arbeitsraum mit verschiedenen offenen Zonen. Auch das unterstreicht noch einmal die Bedeutung von Bildung, Sprache und Kultur in den deutsch-italienischen Beziehungen.

Es ist ein weiter Weg von der Gründung im Jahr 1958 als Biblioteca Germanica, den Gastarbeiterzügen aus Süditalien nach Deutschland, den Studentenbewegungen in den späten 60er Jahren, der Wirtschaftskrise in Italien in den 70er Jahren, dem Umzug des Goethe-Instituts 1982 in die Via San Paolo, dem Mauerfall, dem Maastrichter Vertrag zu Europa usw. Alle diese großen Veränderungen haben ihren eigenständigen Niederschlag in der Programmarbeit gefunden. Viele Höhepunkte der letzten 60 Jahre sind auch noch heute im kulturellen Gedächtnis der Stadt verankert, wie zum Beispiel die Brecht-Programme, denen sich das Piccolo-Theatro zusammen mit dem Goethe-Institut in den 90er-Jahren widmete. Bertolt Brecht war sogar selbst noch in den 50er Jahren in Mailand zu Gast und anwesend, als Giorgio Strehler hier „Die Dreigroschen Oper“ inszenierte. Er war davon begeistert!

Auch wenn für uns Kultur und Bildung im Mittelpunkt unserer Arbeit steht, so ist doch die Stärkung der Zivilgesellschaft ein zentrales Anliegen. Sie kommt ohne kulturelle Bezüge nicht aus. Und die Goethe-Institute stehen für eine offene und dialogfähige Gesellschaft und sie unterstützen eine gemeinsame Verantwortung für einen europäischen Kulturraum. Ohne Erinnerung keine Zukunft! Deshalb gehört auch die Geschichte des 2. Weltkrieges dazu und die Befreiung Mailands von der deutschen Besatzung am 25. April, heute Nationalfeiertag.

Aktuell beschäftigt sich das Goethe-Institut mit dem Projekt Freiraum, das erkundet, wie es in den Städten Europas um die Freiheit bestellt ist. Welche Fragen ergeben sich, wenn Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftler und Kulturschaffende ganz ortsspezifisch über den Begriff „Freiheit“ nachdenken? Indem sie ihre Fragen munter quer durch Europa tauschen, entwickeln 38 Goethe-Institute und ihre Partner aus Kunst und Zivilgesellschaft kreative Antworten. Auch das Goethe-Institut Mailand ist dabei und wird mit Partnern aus Oslo verschiedene Fragestellungen bearbeiten.

Das Goethe-Institut Mailand ist darüber hinaus sehr aktiv, was die Beantragung von Exzellenzmitteln betrifft – und auch erfolgreich: Bei „Im Schatten der Peripherie: Familien in Europa”, das als Exzellenzinitiave des Goethe-Instituts gefördert wird, werden gemischte Fotografen-Tandems mit Begleitung von lokalen Journalisten und Bloggern aus 5 Ländern in familiären Milieus – in Italien, Deutschland, Portugal, Albanien (EU-Beitrittskandidat), Belarus – recherchieren, welche Möglichkeiten es gibt, sich abgehängt fühlende Bevölkerungsgruppen an kulturellen Prozessen oder auch Debatten teilhaben zu lassen.

Aus diesen Beispielen wird deutlich: Das Goethe-Institut verfügt über enge Kontakte vor Ort, es ist vertraut mit den verschiedenen Altersgruppen, gesellschaftlichen Gruppen und Kulturen, es betreibt Koproduktionen, Austausch und Residenzen:
Einheit, die sich nicht in Vielfalt gliedert, ist Tyrannei und Vielfalt, die sich nicht in Einheit findet, ist Chaos. Dieses Wort von Blaise Pascal ist eine gute Blaupause für Europa.

Abschließend möchte ich nun noch einmal gratulieren zu der wundervollen und wirkungsvollen Arbeit, die über Jahrzehnte hier in Mailand geleistet wurde und jeden Tag mit neuem Schwung geleistet wird. Mein Dank gilt dem ganzen wunderbaren Team, stellvertretend für alle nenne ich insbesondere Frau Ostwald-Richter, die Leiterin des Instituts, Frau Neumann für Bibliothek und Information, Frau Franzè für die Programmarbeit und Frau Modrow für die Spracharbeit Sie alle machen eine bewundernswerte Arbeit hier vor Ort. Der Dank gilt nicht nur dem aktuellen Kollegenkreis sondern schließt alle ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, für 60 Jahre unermüdlichen Einsatz, für kreative Programme und Ideen, für die Anregungen zum deutsch-italienischen Dialog, für das Knüpfen von Netzwerken und Pflegen von Partnerschaften, ein. Wir alle wissen aber auch, dass das beste Engagement und die beste Professionalität  nur dann zur Geltung kommen, wenn eine vitale und inspirierende Partnerschaft gelebt wird. Das Goethe-Institut arbeitet nach der Devise: eine Einrichtung ist stark, wenn sie gut vernetzt ist. Ein herzliches Dankeschön an alle Partner, die uns diese gemeinsamen Arbeitsmöglichkeiten bieten und auch für die Zukunft dazu bereit sind. Wir können gespannt sein auf die nächsten Jahrzehnte!

Ich wünsche uns allen anregende Gespräche und Begegnungen und freue mich nun das Wort zu übergeben an Generalkonsulin Jutta Wolke.

Herzlichen Dank!

Es gilt das gesprochene Wort.