Vortrag „Adelbert von Chamisso – ein früher Bote im internationalen Kulturaustausch“

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

„... Franzose in Deutschland und Deutscher in Frankreich, Katholik bei den Protestanten, Protestant bei den Katholiken, Philosoph bei den Gläubigen und Heuchler bei den Männern des Ressentiments, Jakobiner bei den Aristokraten und Mann des ancien régime bei den Demokraten. Ich habe nichts, wohin ich gehöre, ich bin überall fremd.“

 

Sie alle kennen dieses berühmte Zitat aus einem Briefwechsel Adelbert von Chamissos mit seiner guten Freundin Madame Germaine de Staël. Zwei Herzen schlugen in Chamissos Brust – ein französisches und ein deutsches – und dieser Hintergrund war ihm ein Leben lang richtungsweisend. Er floh als Sohn einer adligen Familie vor der französischen Revolution nach Preußen, wo er wiederum auf Französisch erzogen wurde. Er trat in den Militärdienst ein, kämpfte im deutsch-französischen Krieg von 1806 auf preußischer Seite. Gedichtet hat er stets auf Deutsch, doch ist gleichermaßen überliefert, dass er bis an sein Lebensende mit starkem französischem Akzent gesprochen hat.

 

Chamisso wanderte ruhelos zwischen den Grenzen und Kulturen, denen seiner eigenen Identität und Herkunft, aber auch ganz unmittelbar auf seiner dreijährigen Weltreise, die ihm einen Blick von außen auf Europa ermöglichte. Aus dieser rastlosen Neugier heraus wurde Chamisso zu einem sehr frühen und bedeutenden Boten im internationalen Kulturaustausch, weit über den deutsch-französischen Austausch hinaus, den er vor allem durch seine intensive literarische Übersetzertätigkeit maßgeblich prägte. Zahlreiche außereuropäische Themen, Quellen und Motive in seinen Reiseberichten und Gedichten machten die Ferne und Fremde für seine Leserschaft erlebbar.

 

Ich möchte anlässlich der heute beginnenden zweiten internationalen Chamisso-Konferenz über Adelbert von Chamisso als Kulturvermittler sprechen – darüber, wie modern Chamisso für seine Zeit war, wie seine Offenheit und Neugier auf und sein Respekt vor fremden Kulturen uns auch heute im interkulturellen Dialog Inspiration sein kann, und warum er der ideale Namensgeber für einen Literaturpreis an Autoren deutschsprachiger Literatur ist, deren Werk von einem Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist.

 

Adelbert von Chamisso war Vieles in seinem Leben, ein Grenzgänger auch in seinen Interessen: Er war ein ungewöhnlicher Dichter und Übersetzer, ein exzellenter Botaniker, Zoologe, Sprachwissenschaftler und Ethnologe. Der Dichter Chamisso wurde in viele Richtungen rezipiert. Heinrich Heine feierte ihn als „modernen“ und „jungen“ deutschen Schriftsteller, er reklamierte ihn für die zeit- und romantikkritische Vormärzliteratur. Jungdeutsche Autoren wie Georg Herwegh und Heinrich Laube verorteten Chamisso begeistert als Wegbereiter einer politischen Lyrik, die sich den Nöten der kleinen Leute widmete. Doch blieb er trotz seiner dezidierten Begeisterung für den demokratischen Meinungsbildungsprozess, trotz seiner zahlreichen Übersetzungen politischer französischer Lyrik stets liberaler Einzelgänger, er ordnete sich nicht fest ein in die Reihen der politischen Dichter seiner Zeit.

 

Trotzdem war er in seiner Wirkung hoch politisch. Seine Waffe war das Wort, die Literatur. Im Gedicht lag seine Stärke zu zeigen, wofür er stand. Die Lyrik war für viele Autoren jener Zeit die wichtigste Gattung, in der sie Absichten ausdrücken konnten, ohne dass die Zensur gleich einschritt. Hoffmann von Fallersleben war ein solcher Weggefährte. Seine politisch-literarischen Aktivitäten sind ihm nicht gut bekommen. Die Handschriften und Drucke aus dem Besitz von Hoffmann von Fallersleben hatte die Staatsbibliothek schon 1850 durch Kauf erworben.

 

Die schwierige Einordnung von Adelbert von Chamissos Position in der zeitkritischen Literatur glaubte man dadurch zu lösen, dass man ihn der Romantik zuschlug. Diese Zuordnung zur Romantik ist wohl im wesentlichen seiner Mitgliedschaft im „Nordsternbund“ geschuldet, ein Zusammenschluss junger Lyriker und Autoren der Berliner Romantik wie Karl August Varnhagen, Wilhelm Neumann, Louis de la Foye, David Ferdinand Koreff oder seinem späteren guten Freund Karl Eduard Hitzig. Natürlich mutet auch die märchenhafte Geschichte des „Schlemihl“, der wichtigste Erfolg seiner literarischen Karriere, der im 200. Jahr seines Erscheinens die vor uns liegende Tagung prägen wird, romantisch an. Doch stellen sich beim genaueren Hinsehen glasklare gesellschaftskritische Elemente und die Beschreibung von prosaischen Alltagsverhältnissen heraus.

 

Über die Jahre hinweg distanzierte er sich immer mehr von der romantischen Schwärmerei, nicht zuletzt durch die Erfahrungen auf seiner Weltreise, die für ihn zum Aufklärungsprojekt wurde. Heute wird Chamisso oft als „aufgeklärter Romantiker“ verstanden, auch als Dichter in Herders Sinn, wie Chamisso-Biograf Peter Lahnstein schreibt: „‚Stimmen der Völker‘ tönen hundertfältig aus seinem Werk; neben den deutschen und französischen spanische, baskische, korsische Stimmen, polnisch-jüdische, ungarische, nordische, russische; Stimmen aus dem alten Orient, aus Amerika, aus der Südsee. In seinen Gedichten fließt es ineinander: Aufnehmen und Gestaltung fremder Motive, Nachdichtung und Übersetzung.“

 

Wie kam es zur Weltreise des Dichters? Chamisso vollzog noch im Jahr, in dem er den „Schlemihl“ schrieb, eine Kehrtwende in seinem Werdegang und widmete sich in den Jahren 1812 bis 1814 dem Studium der Botanik, der Zoologie und der vergleichenden Anatomie an der Universität Berlin. Man könnte meinen, der heimatlose Chamisso suchte sich eine geistige Heimat in der Wissenschaft.

 

Im Rahmen seiner Forschungen wird der Ruf hinaus in die Welt für Chamisso immer lauter und er brach nur zu gerne auf eine Weltreise an Bord der russischen Brigg „Rurik“ auf. Die Reise hat selbst für heutige Verhältnisse unglaubliche Ausmaße – drei Jahre lang segelte Chamisso von Kopenhagen über Plymouth gen Süden, über Brasilien um das Kap Horn über die Südseeinseln Salas y Gomes, Osterinseln, Ratak, nach Kamtschatka und Alaska (wo es bis heute ein „Chamisso-Island“ gibt), zurück nach Süden, Kalifornien, danach Hawaii, gefolgt von einem zweiten Vorstoß nach Norden, wieder über Hawaii zurück gen Westen, Guam, Philippinen, Sunda-Straße, Kapstadt, St. Helena, London, Kopenhagen, Reval, Kronstadt, St. Petersburg und schließlich Swinemünde. Von der Reise schrieb er an seinen guten Freund Julius Hitzig: „Es gibt Zeiten, wo ich zu meinem armen Herzen sage: Du bist ein Narr, so müßig umherzuschweifen! Warum bliebest Du nicht zu Hause und studirest etwas Rechtes, da Du doch die Wissenschaft zu lieben vorgibst? Und das auch ist eine Täuschung, denn ich athme doch durch alle Poren zu allen Momenten neue Erfahrungen ein (…)“

 

Auf seiner Reise war Chamisso ebenso sehr Naturbeobachter wie Beobachter der Menschen, ihrer sozialen Umstände, der politischen Verhältnisse. Er warf einen strengen Blick auf die Kolonisierung, auf den Sklavenhandel und das Missionarstum. Der Kontakt zu den unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften, zu anderen Religionen hat ihn zu einem offenen Geist werden lassen, er war neugierig auf das Fremde und respektierte andere Kulturen.

 

Der Dichter, Weltreisende und Kulturvermittler Chamisso kann uns heute Inspiration sein, wenn wir in einer immer komplexer werdenden Welt auf der Suche sind nach Wegen für einen nachhaltigen Kulturaustausch. Mehr denn je sind heute in der internationalen Wahrnehmung Kultur, Bildung und Wissenschaft entscheidende Indikatoren für Zusammenarbeit und Zusammenleben. Innen und außen sind keine getrennten Welten mehr, sie bedingen einander. Die Welt hat sich entscheidend verändert und unsere Gesellschaften stehen an einem Wendepunkt. Globalisierung und Modernisierung haben nicht zu einer einheitlicheren Welt geführt. Sie ist im Gegenteil wieder stärker segmentiert.

 

Diese Entwicklung ist kein vorübergehendes Phänomen. Der globale Wettbewerb hat inzwischen eine veränderte Beteiligung der Macht- und Einflusssphären geschaffen. Neue Zentren und veränderte Peripherien sind entstanden, mit Megastädten und unproduktiven Wüsten, mit abgeschotteten Parallelwelten und radikalen Auf- und Umbrüchen, mit Übersprungeffekten des rein ökonomischen Denkens auf alle Lebensbereiche, mit postkolonialen Staaten, die vor großen sozialen und politischen Herausforderungen stehen. Weltweit werden Migrationsströme ausgelöst, die sich durch die unterschiedliche demographische Entwicklung in Europa und in den Schwellen- und Entwicklungsländern noch beschleunigen, Wirtschafts- und Finanzkrisen werden erlebt und erlitten.

 

Wie lässt sich diese globalisierte Welt – hier borge ich mir einen Ausdruck des ungarischen Schriftsteller Peter Esterházy – lesbar machen? Es genügt nicht, nur eine riesige Wissens- und Informationsmaschine in Gang zu halten. Es bedarf einer verständlichen, nutzerfreundlichen und zeitgemäßen Bedienungsanleitung, einer Kompetenz und Urteilskraft. Offenheit und Neugierde auf fremde Denk- und Lebenswelten, wie sie auch Chamisso eigen waren, sind dafür eine wichtige Voraussetzung. So versucht auch das Goethe-Institut in seinen weltweiten Tätigkeiten stets einen offen, neugierigen und respektvollen Blick auf die Welt und das jeweilige kulturelle Gegenüber in unseren Gastländern zu bewahren. Das ist eine wichtige Prämisse unserer Arbeit. Gerade weil diese Welt so viel Unterschiede, Ungleichzeitigkeiten und Brüche zeigt, weil sie ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft der Menschen abfordert und die Integrationsfähigkeit von Gesellschaften auf eine harte Probe stellt, sind Weltformeln oder weltumspannende Steuerungssysteme nicht die Lösung. Es muss im Gegenteil ein Weg gefunden werden, der ein kritisches, fantasievolles Gespräch mit und in der Welt ermöglicht, der unsere starren Klischees hinterfragt und der sich glaubwürdig um einen Dialog bemüht.

 

Kultur, Bildung und Wissenschaft können heute nicht mehr in national abgeschotteten Wissenskulturen erfolgreich sein. Die Wissenschaft ist auf internationale Forschungsnetzwerke angewiesen, Bildung ist auf internationaler Ebene wesentlicher Bestandteil differenzierter Diskussionen und Initiativen geworden, Kultur wiederum lebt von Begegnung und Vermittlung.

 

Ich schreibe den Begriffen der Nah- und Fernkompetenz im internationalen Kulturaustausch eine wichtige Bedeutung zu. Wir müssen uns auf den europäischen Gedanken besinnen, bevor wir sinnvoll weltweit aktiv werden können. Deutschland hat als Mittelland in Europa eine besondere Verantwortung für einen gemeinsamen Kulturraum. Europa ist mehr als Euroland, es ist ein Kultur- und Bildungsprojekt. Künstlerische Positionen, Prozesse und Produktionen zu europäischen Themen können eine kreative Basis formen, Literatur- und Übersetzungsförderung können die Vielfalt der Kulturen verständlich machen, Risiken und Herausforderungen der neuen Produktions- und Beteiligungschancen in Europa können identifiziert und ausgestaltet werden.

 

Es geht um die politische Kraft der Kultur. Wie erhalten und fördern wir die kulturelle Vielfalt in Europa? Wie stellen wir uns wichtigen Zukunftsfragen? Wie gehen wir mit unseren Erinnerungen um? Welches kulturelle Selbstverständnis haben wir und wie verstehen wir die demokratischen Grundsätze von gesellschaftlicher Teilhabe? Die Behandlung dieser Fragen gehört zum dauerhaften Bestand der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Europa war auch schon für Chamisso ein wichtiges Thema. Bei ihm flossen die Neugier auf fremde Welten und das Bewusstsein für Europa ineinander. Nicht umsonst hat die Autorin Beatrix Langner ihre Chamisso-Biografie von 2009 „Der wilde Europäer“ betitelt. Also ging es auch bei ihm um eine Nah- und Fernkompetenz, die einander produktiv bedingten.

 

Chamisso war ein früher Liebhaber des europäischen Gedankens, allein durch seine Übersetzertätigkeiten wurde er zum wichtigen Kulturvermittler ganz im Sinne seines Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt, der gesagt hat „Jede Sprache, die ich erlerne, eröffnet mir eine neue Welt“. Insbesondere seine Weltumseglung förderte die Auseinandersetzung mit Europa und der Bedeutung von nationaler Identität; er schien sich erstmals ein Bild zu machen von Gesamteuropa, das seine früheren Vorstellungen eines Europas der Nationen überstieg.

 

Auch wenn er kein politischer Theoretiker war, kannte er sich aus in den Systemen Europas, in seiner Korrespondenz stellte er Vergleiche der Systeme an, er war in seiner Geisteshaltung ein Liberaler, stark von dem britischen Ansatz überzeugt.

 

Er setzte sich in seinen Gedichten immer wieder mit der politischen Lage auseinander, auch hier spielte der Gedanke des Europäischen stets eine zentrale Rolle – literarisch-kulturell und gesellschaftlich-politisch. Seine in der Rezeption als „europäischen Gedichte“ bezeichneten lyrischen Arbeiten, es handelt sich dabei um rund 80 Einzelwerke, stellen sehr konkrete tagespolitische Bezüge her: zum spanischen Widerstand gegen das napoleonische Frankreich, zum Dekabristenaufstand in Russland von 1825, zum polnischen Aufstand gegen das zaristische Russland 1830 oder zum griechischen Freiheitskrieg.

 

Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch seine Übertragungen und Bearbeitungen der politischen Volkslieder von Béranger – 44 an der Zahl. Doch behandeln seine Gedichte stets auch „allgemeinmenschliche Themen“ wie die Liebe, den Tod, die Treue, den Mut usw. Unterschwellige Botschaft war dabei laut Edward Monin, „daß Chamissos Leser sich ihrer mit anderen Europäern geteilten Humanität bewusster werden sollten.“

 

Bei diesem Blick auf die Biographie Chamissos erschließt es sich sofort, dass die Robert Bosch Stiftung, in den Anfängen noch begleitet von der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dem Institut für Deutsch als Fremdsprache der Universität München, unseren weltreisenden Deutsch-Franzosen Adelbert von Chamisso 1985 als Namensgeber für einen neuen Literaturpreis gewählt haben. Der Adelbert-von-Chamisso-Preis zeichnet Autoren deutschsprachiger Literatur aus, deren Werk von einem Sprach- und Kulturwechsel geprägt ist. In einer Begründung für die Namensgebung hat Harald Weinrich, der Initiator des Preises, übrigens einen klaren Bezug hergestellt zur literarischen Figur Peter Schlemihl. Er schrieb: „Bei der Option Chamisso […] sollte deutlich werden, dass die Autoren auf dem Weg in die deutsche Literatur ihren Schatten nicht einbüßen sollten.“

 

Die ausgezeichneten Autoren einen Themen, Motive, Schauplätze, die ein familiär und kulturell seit Jahrhunderten in Ostfriesland oder Niederbayern verwurzelter Schriftsteller wohl kaum wählen würde oder literarisch gestalten könnte. Auch prägt ein ganz eigenständiger, man mag sogar sagen eigenwilliger Umgang mit der deutschen Sprache ihr Schreiben; sie verwenden einen Stil, den man womöglich eher entwickelt, wenn noch eine weitere Sprache mitflüstert, mitsingt und mitschwingt.

 

Es sind ungemein reizvolle Schriftsteller und Werke vertreten, heute gehören viele der Preisträger zur ersten Garde der deutschsprachigen Literatur und sie haben sich fest auf dem deutschen Buchmarkt etabliert – Feridun Zaimoglu, SAID, Rafik Schami, Terézia Mora, Emine Sevgi Özdamar, Herta Müller oder Ilja Trojanow, um nur einige Namen zu nennen. Der Preis ist prominent positioniert unter den über 60 Literaturpreisen, die in Deutschland verliehen werden. Dabei ist der Kultur- und Sprachwechsel das unverwechselbare und einzigartige Kriterium, der Kern des Chamisso-Preises.

 

Für mich ist es eine besondere Ehre, Mitglied in der Jury des Preises zu sein. Wenn ich mir hier noch eine persönliche Einschätzung erlauben darf: Man sollte nicht meinen, dass es zu viele Preise gibt. Sie sind eine einmalige Gelegenheit für Autoren, sichtbar zu werden. Insbesondere in den Anfängen hat Harald Weinrich hier Großes geleistet – junge Autoren in einem neuen Land fanden in dem Preis ein Riesenpotenzial, ihre Außenwirkung zu stärken.

 

Die Auszeichnung hat eine interessante und wechselvolle Geschichte. Zu Beginn stand sehr stark der biografische Hintergrund der Autoren im Fokus, auch die Romane waren primär sozial angesiedelt. Die Dialektik von Heimat und Fremde, der Sprach- und Kulturwechsel und die sich dem „Multikulturellen“ nur langsam öffnende deutsche Gesellschaft waren die zentralen Themen.

 

Die öffentliche Sichtbarkeit literarischer deutscher Texte von Autoren mit Migrationshintergrund ging Anfang der neunziger Jahre dann einher mit der Kategorisierung unter dem – insbesondere unter den Schriftstellern selbst – umstrittenen Begriff der „Migrantenliteratur“. Damit wurde ein Phänomen benannt, das für Deutschland neu war, im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Großbritannien oder USA. Im Zuge dieser begrifflichen Debatte wurde, und wird bis heute, auch Kritik am Chamisso-Preis geübt: Er vereinnahme Autoren und Werke für kulturpolitische Zwecke oder schiebe Autoren durch das Etikett „Migrantenliteratur“ in eine bestimmte Ecke ab. Es ist eine Kritik, über die es sich zu diskutieren lohnt.

 

Über die Jahre hinweg hat sich die Bandbreite der Preisträger enorm weiterentwickelt. Auch wenn sie keine Initialzündung für erstklassige deutschsprachige Literatur aus Ost- und Südosteuropa brachte, da diese schon längst existierte, kam mit der Zeitenwende von 1989 naturgemäß ein starker Fokus auf Osteuropa, etwa die politisch-historischen Ungarn- und Ostblock-Bücher von György Dalos, die Erzählungen und Romane von Rumäniendeutschen wie Herta Müller, Rolf Bossert oder Richard Wagner. Parallel kamen Autoren aus Afrika, Lateinamerika und Asien auf den Plan – der persische Lyriker Cyrus Atabay, die Japanerin Yoko Tawada oder die Argentinierin Maria Cecilia Barbetta.

 

Heute geht die „Migrantenliteratur“ immer mehr in Deutschland auf, die Autoren wollen sich weder ausgrenzen noch einen Sonderstatus haben, sie verstehen sich als literarische Vertreter einer lebendigen literarischen Kultur in Deutschland. Autoren wie Feridun Zaimoglu stellen Lebenswelten ihrer Heimat in ihren Romanen vor, wie sie kein anderer beschreiben könnte, auch wenn sie selbst dort gar nicht leben. Dort liegt eine ungemeine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Hier zitiere ich Ilja Trojanow, Chamisso-Preisträger aus dem Jahr 2000, der sagt „Ohne Migration wäre die Menschheit unvorstellbar ärmer, in jeder Hinsicht.“

 

Das Goethe-Institut hat den Mehrwert erkannt, den die Chamisso-Autoren dem deutschen Buchmarkt gebracht haben. Wir laden sie überproportional zu Lesereisen ins Ausland ein. Dabei ist natürlich die Interkulturalität der Persönlichkeiten und Werke besonders reizvoll. Begleitende Veranstaltungen vermitteln, wie die Literaturproduktion und der Buchmarkt in Deutschland aussehen, wie jemand, der aus einem anderen Land kommt, in Deutschland arbeitet.

 

Chamisso hat in verschiedenen Welten und Kulturen gelebt, in verschiedenen Sprachen und Gesellschaftsschichten, das hat ihn neugierig gemacht, wissbegierig und offen. Meiner Meinung nach kann Kultur nur existieren, wenn sie sich mit anderen Kulturen befasst und auseinandersetzt. Dabei geht es nicht darum, etwas Gleiches zu entwickeln oder nachzuahmen, sondern wirklich den Unterschied zu erkennen und ihn respektvoll zu akzeptieren.

 

Eine abgeschlossene Kultur ist eine tote Kultur, lebendig bleibt sie, wenn Impulse von außen kommen. Das war gelebtes Prinzip für Adelbert von Chamisso – und darauf macht der Chamisso-Preis bis heute aufmerksam.